Solidarität braucht Empathie Zum Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Zeiten des Wandels

Ökonomische Umbrüche brachten Teile der davon Betroffenen immer schon auf die Verlierer-Straße. Mit welchen Konzepten sorgen wir für sozialen Zusammenhalt? Die Autorin skizziert „katholische“, „lutherische“ und „reformierte“ Strategien der gesellschaftlichen Integration.

„Solange Deutsche zur Tafel gehen müssen, haben Flüchtlinge da nichts zu suchen.“ Das Zitat eines erzürnten Tafelbesuchers übermittelt die (gefühlte) Selbstverständlichkeit, als „Einheimischer“ bevorzugt zu werden und reflektiert zugleich den Kampf um ein faires Miteinander in Zeiten von Ausgrenzungserfahrungen: Was Hartz-IV-Empfänger und Geflüchtete verbinden könnte, trennt sie zugleich.

Was an der Tafel wie im Brennspiegel erkennbar wird, prägt die gesamte Gesellschaft: Benachteiligungserfahrung, die länger schon schmerzten, kommen noch einmal zur Sprache: Abstiegserfahrungen im Kontext der „Wende“, veränderte Erwartungen an Arbeitslose oder die Privatisierung sozialer Dienstleistungen, die Zugänge erschwert. Hinzu kommt die Sorge, angesichts neuer, globaler Herausforderungen und zunehmender Arbeitsmigration nun erst recht zu kurz zu kommen.

Wie viel Ungleichheit ertragen wir?

Viele haben es als zynisch empfunden, dass in der Finanzkrise 2008/9 erhebliche Steuermittel aufgebracht wurden, um die außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte zu stabilisieren, während man die Empfänger von Transferleistungen zu Eigenverantwortung und Eigenvorsorge aufrief. Das ökonomische und soziale Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa, das in der „Griechenland-Krise“ sichtbar wurde, hat zudem deutlich gemacht, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone von der Sozialstaatsentwicklung abgekoppelt hat. Unter dem Druck der Globalisierung von Firmen und Finanzmärkten gelten hohe Sozialkosten inzwischen als Standortnachteil, Arbeit wird in Niedriglohnländer verlagert und Standorte, in denen von Konzerne wenig oder gar keine Steuern zahlen müssen, gelten als besonders attraktiv.

Auf diesem Hintergrund stand die Tafelbewegung von Beginn an im Fokus einer politischen Debatte. Kritiker sehen darin eine Rückkehr zu den „Suppenküchen“ des 19. Jahrhunderts, als angesichts der Industrialisierung und der damit verbundenen Verstädterung ganze Bevölkerungsschichten verarmten, Familien und Gemeinden überfordert waren und die Zahl der verwahrlosten Kinder und Jugendlichen wie der der allein gelassenen Kranken wuchs. Kirche und Diakonie ergriffen die Initiative, schufen Genossenschaften und Vereine, linderten Not und sorgten für Ausbildung, ohne sich aber – wie die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung – sogleich für soziale Rechte und politische Teilhabe stark zu machen.

Das Verhältnis von Wohlfahrt und Politik, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Tatsächlich ist in den letzten Jahren die Zahl der Tafeln in Deutschland erheblich gestiegen. Nicht wenige vermuten dahinter ein erfolgreiches „Geschäftsmodell“, das Lebensmittelmärkte, Restaurantketten und caritative Initiativen verbindet und zudem dafür sorgt, dass überschüssige Lebensmittel nicht vernichtet werden müssen. Aus der Bürgerbewegung ist eine Branche der sozialen Arbeit geworden – mit Tafelläden und Second-Hand-Laden, mit Berechtigungsscheinen, Kochkursen und der Chance, sich vom „Kunden“ zum Teamer hin zu entwickeln. Gerade darin sehen die Verteidiger eine große Chance: Im Umfeld der Tafeln erhalten manche die Möglichkeit, ihr Leben neu zu ordnen und einen Arbeitsplatz im dritten Sektor zu finden, der einen Neustart ermöglicht. Soziale Teilhabe ist also durchaus im Blick.

Gleichwohl, das zeigen auch die Vesperkirchen, geht es vielen der Freiwilligen zuallererst um Barmherzigkeit. Mit ihrem Einsatz treten sie für die Würde jedes Einzelnen ein. Die Not von Menschen ohne Obdach und Heimat, von Familien in Armut, geht zu Herzen. Dem anderen eine warme Suppe oder einen Schlafsack zur Verfügung zu stellen, heißt zuallererst, im „ anderen“ „einen von uns“ zu sehen und ist damit Voraussetzung für alle Solidarität.

Empathie – Kreativität – Solidarität

Die Amerikanerin Veronika Scott hat einen Mantelschlafsack erfunden, der denen, die ihn tragen, Wärme und auch ein Stück Würde gibt. Der Schlafsack ist wasserdicht und lässt sich im Sommer zu einer Umhängetasche zusammenfalten. Die 100 Dollar, die ein Mantel kostet, werden durch Spenden finanziert. 15.000 Mäntel konnten inzwischen hergestellt werden. Mit der Produktion gibt Veronica Scott wohnungslosen Frauen Jobs, damit sie sich eine Wohnung mieten und ihre Kinder wieder zur Schule schicken können. Sie fühlt, was in ihnen vorgeht, sie war zeitweise eine von ihnen. Und nicht nur in einem Land mit einem weniger gut ausgebauten Sozialsystem kann eine fehlende Qualifikation dazu führen, dass Menschen von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob wandern und schließlich in der Obdachlosigkeit landen.

Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit wird zum abstrakten Kampf um Verteilung.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir unseren Blick „nach unten“ richten. Mit dem „Jahr der Barmherzigkeit“ hat Papst Franziskus dazu angeregt, genau hinzuschauen – und er selbst nutzt seine herausgehobene Position, um die Kameras der Welt auf die Unsichtbaren zu lenken: die Geflüchteten auf Lampedusa, die Obdachlosen am Vatikan. Aber Barmherzigkeit gibt der Menschenwürde ein Gesicht, sie schafft Gesten und Zeichen der Geschwisterlichkeit wie die Kränze im Mittelmeer, die Duschen am Vatikan. Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit wird zum abstrakten Kampf um Verteilung und führt zum Lobbystreit um Zahlen. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit allerdings bleibt auf halbem Weg stehen. Die Debatte um die Heiligsprechung von Mutter Theresa zeigt, worum es geht: Es genügt nicht, die Haltung und die demütige Arbeit der Barmherzigen Schwestern in den Mittelpunkt zu rücken, sagen die Kritiker. Letztlich geht es um den Ausbau des Sozial- und Gesundheitssystems in Indien.

Kirchliche Antworten auf die sozialen Herausforderungen

Ähnliche Debatten wie heute wurden auch in der Reformationszeit geführt – müssen in Transformationsphasen geführt werden. Mit dem Aufkommen des internationalen Handels sowie des Geld- und Bankenwesens war auch die frühe Neuzeit von erheblichen ökonomischen Umbrüchen geprägt. Die Verelendung betraf nicht nur die bekannten Randgruppen der Gesellschaft wie Arme, Alte oder Kranke, sondern auch die Angehörigen geachteter Stände und Berufsgruppen wie Bauern, Bergleute oder Handwerker. Die Auflösung der Ständegesellschaft erforderte eine neue Ethik gesellschaftlicher Verantwortung, die auch die Bedürfnisse der Verlierer sicherte. Auf der einen Seite drohten Aufstände, auf der anderen ließ die Spendenfreude der Wohlhabenderen nach. Denn nicht nur der Ablasshandel war in Frage gestellt; man konnte sich auch nicht mehr sicher sein, dass die Gabe für die Armen das eigene Seelenheil rettete.

Der gesellschaftliche Umbruch forderte die Kirchen heraus. Sigrun Kahl hat die katholische Antwort auf die Herausforderungen unter dem Schlagwort „Feed the poor, get saved“ zusammengefasst, die lutherische stellt sie unter das Motto „Bread first, work second“ und die reformierte setzt sie unter die Überschrift „Work for your own bread“ – ganz auf der Linie der Eigenverantwortung, die wir heute aus der sogenannten neoliberalen Debatte kennen.

Brot und Arbeit – die lutherische Antwort auf die soziale Herausforderung.

Das Symbol für den Paradigmenwechsel von der Barmherzigkeit zur solidarischen Sicherung ist die „Leisniger Kastenordnung“ von 1523. Sie ist „das erste Sozialpapier der Welt“ (Christine Eichel), das von Luther selbst entwickelt wurde. Er verband die Frage nach der sozialen Verantwortung von Staat und Kirche mit der nach der Zukunft des Besitzes der aufgelösten Klöster und Stiftungen. Seine Antwort bestand in der Zusammenführung religiöser und weltlicher Verantwortung, die, so Christine Eichel in ihrem Buch Deutschland, Lutherland, gleich mehrere Probleme löste: „Die prekäre Lage der Ärmsten, die nachlassende Spendenfreude und die gerechte Verteilung ehemals papstkirchlicher Besitztümer“. Zu den Einnahmen der Stadt Leisnig zählten nun die Einkünfte aus Zinsen und die Abgaben der Dörfer genauso wie das Vermögen der Pfarrgemeinde – zu den Ausgaben diejenigen für Infrastruktur genauso wie die für Waisenkinder, Arme, Alte und bedürftige Fremde.

So viel Solidarität wie nötig, so viel Eigenverantwortung wie möglich

Die umlagefinanzierte Kastenordnung ist die Wurzel einer staatlichen Solidargemeinschaft, in der die Bedürftigen eben nicht mehr Bettler, sondern unterstützungsberechtigte Mitbürger sind. Die Spendenbereitschaft allerdings wurde nun an Bedingungen geknüpft, denn die Solidargemeinschaft erwartete auch eine Gegenleistung: dass jeder, der Hilfe und Zuwendung bekam, sich in dem Maße selbst für andere einbrachte, wie er dazu in der Lage war.

„Gerechte Teilhabe“, so der Titel einer Denkschrift des Rates der EKD von 2006, hat alle gesellschaftlichen Gruppen im Blick – insbesondere aber die, die an den Rand geraten sind. „Teilhabegerechtigkeit“ will dabei zwei Ziele, die häufig gegeneinander ausgespielt werden, in Einklang bringen: eine Verteilungsgerechtigkeit, die in Deutschland eng mit den solidarischen Sicherungssystemen verbunden ist, und eine Befähigungsgerechtigkeit, für die eine Stärkung der Eigenverantwortung zentral ist. Sie zielt auf eine möglichst umfassende Integration aller Mitglieder der Gesellschaft über die Eröffnung von Zugängen zu Bildung, Gesundheitssystem, Arbeits- und Wohnungsmarkt. Dies liegt auf der Linie der Inneren Mission, die im 19. Jahrhundert Ausbildungsangebote für junge Leute ohne Schulabschluss oder auch für unverheiratete Frauen entwickelte. So entstanden neue soziale Berufe wie z.B. Diakonissen und Diakone, Erzieherinnen und Krankenpflegerinnen.

Brot und Arbeit

Heute ist dieses Engagement erneut gefragt. Es geht um eine neue Balance von Sozialstaat und Zivilgesellschaft, aber auch um eine klare, möglichst europäische, Definition sozialer Rechte und eine Weiterentwicklung der solidarischen Sicherung. Denn heute werden die Abrechnungen deutscher Banken in Indien abgewickelt, die Wäsche deutscher Krankenhäuser wird in Polen gewaschen, während Dienstleistungen, die sich nicht verlagern lassen, unter erheblichem Kostendruck stehen. Deutsche Familien nutzen osteuropäische Pflegekräfte, weil sie sich die Preise der sozialen Dienstleistungen in Deutschland nicht leisten können oder wollen. In Europa geht es um die Frage, wie Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungen in einen Ausgleich gebracht werden können. „Bread first, second work“ ist auf überraschende Weise aktuell – an den Tafeln wie in den Flüchtlingscamps. Barmherzigkeit ist der erste, entscheidende Schritt, Gerechtigkeit zu schaffen.

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Cornelia Coenen-Marx: Aufbrüche in Umbrüchen. Christsein und Kirche in der Transformation. Göttingen. 2016.

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