Das „Kluge“ und das „Dumme“ in uns Der freie Wille ist zurück, und das ist gut so

Joachim Bauer sieht den Einzelnen in unserer Gesellschaft in ein Netz krank machender Abhängigkeiten verstrickt. Für ihn ist das kein Grund zur Selbstaufgabe, sondern eine Aufforderung zur „Selbststeuerung“ als natürlicher Bestimmung.

Sie haben mittels einer repräsentativen Studie herausgefunden, dass sehr viele Menschen sich davon abgehalten fühlen, im Alltag zu tun, was sie für sich selbst für richtig halten. Viele Menschen folgen stattdessen anderen Impulsen, beschäftigen sich zum Beispiel permanent mit dem Handy oder sitzen vor dem Fernseher oder lassen sich von den Erwartungen anderer Menschen bestimmen. Haben wir uns nicht mehr im Griff?

Wir Menschen stehen unter dem Einfluss von zwei Systemen, die uns von der Natur mitgegeben wurden. Das eine System ist „dumm“ (Trieb- oder Basissystem im Gehirn H.P.), leicht verführbar und will alles, was sich irgendwie gut anfühlt, möglichst gleich haben. Es produziert ständig spontane Impulse, die auf sofortige Befriedigung dringen. Das andere Systeme ist „klug“ (Präfrontaler Cortex im Gehirn, H.P.) und denkt voraus. Es überlegt, was auf längere Sicht vorteilhaft und gut für uns ist, und kann dafür Pläne machen. Wenn das erste System die Oberhand bekommt, macht es aus dem Menschen eine Reiz-Reaktions-Maschine: Auf momentane Impulse muss sofort reagiert werden, jedes billige Angebot wird sofort wahrgenommen.

Zur Muße, behaupten Sie, sind viele Menschen heute unfähig. Das Bedürfnis, zu sich selbst zu kommen, werde kaum mehr verspürt. Denn wer kein Selbst habe, vermisse ja auch keins.

Wer nicht innehalten kann, sondern wie eine Reiz-Reaktions-Maschine lebt, hat kein Selbst, sondern lebt außengesteuert und reagiert wie ein Automat: Gibt es irgendwo etwas Preiswertes oder Kostenloses zu essen oder etwas Schönes zu kaufen? Ich muss es haben! Hat mich irgendjemand provoziert? Ich muss sofort zurückschlagen oder eine Hass-Mail absondern. Ein „Selbst“ kann ein Mensch erst dann entwickeln, wenn es zwischen Reiz und Reaktion einen Raum gibt.

Was ist schuld an diesem Selbstverlust?

Auf der einen Seite die Beschleunigung aller Lebensabläufe, die allgemeine Hetze und der Stress, den wir uns zum Teil übrigens selbst machen. Auf der anderen Seite der Warenüberfluss, unser auf ständigen Konsum ausgerichtetes Leben und die überall verfügbaren Suchtmittel, zu denen auch Smartphones, die sozialen Netzwerke und ganz allgemein das Internet gehören. Suchtmittel sprechen das impulsive System an und machen uns zu Reiz-Reaktions-Maschinen.

Was wäre damit gewonnen, wenn Menschen wieder zu sich selbst fänden, und wie können sie das schaffen?

Innehalten zu können, Raum zum Nachdenken oder zum Träumen zu haben, in sich ein „Selbst“ zu spüren, das sind Glücks-Quellen. Was wir gewinnen, wenn wir zu uns Selbst finden, ist das Glück. Den Weg zum eigenen Selbst können wir nur finden, wenn wir aus dem Hamsterrad der alltäglichen Beschleunigung aussteigen und Momente der Ruhe und Besinnung finden. Ein ganz praktischer Schritt wäre, sich in einem Achtsamkeits- oder Yoga-Kurs anzumelden. Gläubige Menschen finden Momente der Ruhe bei einem Kirchenbesuch und im Gebet. Kirchen sind – gerade auch dann, wenn kein Gottesdienst stattfindet – wunderbare Meditationsräume.

Sich selbst zu bestimmen, heißt ja, dem eigenen Willen entsprechend zu entscheiden, zu leben und zu handeln. Einerseits lässt uns unsere Gesellschaft Freiheiten wie kaum eine andere in der Geschichte, andererseits werden wir zum Teil sehr subtil gesteuert. Wie frei ist unser Wille?

Freier Wille bedeutet nicht, dass wir uns neu erfinden können. Aber es bleiben Freiräume.

Freier Wille bedeutet nicht, dass wir uns neu erfinden können. Kontingenz heißt: Unser Leben ist Teil eines Bedingungsgefüges, das wir nicht selbst gewählt haben. Wir alle sind Kinder der Natur bzw. der Evolution. Wir haben einen biologischen Körper, dem zusätzlich noch zahlreiche Stempel aufgedrückt wurden durch die Art, wie wir aufgezogen wurden, durch das, was uns zugestoßen ist, und wie wir leben. Innerhalb der Kontingenzen, in denen wir leben, bleiben uns aber Freiräume.

Wie verstehen Sie eigentlich menschliche Freiheit?

Menschliche Freiheit tut sich auf, wenn wir gelernt haben, das von mir eingangs erwähnte „kluge“ System zu benutzen, also gelernt haben, innezuhalten, nachzudenken, zu träumen, kreativ zu sein und langfristig zu planen. Dazu gehört auch, in der Lage zu sein, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen, empathisch zu sein und sich vorstellen zu können, wie sich das Leben für meine Mitmenschen anfühlt.

Ihr Konzept der Selbststeuerung setzt beim Menschen den freien Willen voraus, eine unter Philosophen und neuerdings auch Hirnforschern umstrittene Vorstellung. Wie positionieren Sie sich in dieser Diskussion?

Maßgebliche Philosophen wie Markus Gabriel, der im angloamerikanischen Ausland inzwischen als der bedeutendste deutsche Philosoph angesehen wird, haben sich klar zum freien Willen bekannt, allerdings zu einem durch die Kontingenz der Realität begrenzten freien Willen, so wie ich es auch selbst sehe. Die Hirnforschung sieht es inzwischen ganz ähnlich. Warum sich Gerhard Roth und Wolf Singer, zwei verdienstvolle und von mir persönlich sehr geachtete Kollegen, hier fundamental geirrt haben, habe ich in meinem Buch Selbststeuerung detailliert dargelegt.

Es gibt auch in der Theologie eine Debatte um den freien Willen. Klassisch die zwischen dem Humanisten Erasmus von Rotterdam und dem Reformator Martin Luther. Luther sagt: Da dich Gottes Liebe trägt, bist du frei, von äußeren Strukturen wie vom eigenen Ich. Wer sich nicht an Gott halte, verliere sich an den Teufel. Symbolisch könnte man diesen als die Macht der Fremdbestimmung schlechthin charakterisieren. Zu sich selbst zu finden, Person zu werden, sei eine Erfahrung, ein Geschenk des Glaubens, des unbedingten Vertrauens zu Gott. Wie passt diese Überzeugung zu Ihrem Konzept der Freiheit durch Selbststeuerung?

Wie kann ich mich für die Gnade Gottes entscheiden, wenn ich für diesen Schritt, hin zum Glauben, keinen Entscheidungsspielraum habe? Der vollkommene, radikale Determinismus ist in sich eine Absurdität. In diesem Punkt stehe ich daher auf der Seite von Erasmus von Rotterdam. Luthers entscheidende Einsicht ist eine ganz andere: Menschen sind nicht moralisch „gut“, wir können dies durch eigene Willensanstrengungen und gute Taten auch nicht werden. Die Kernbotschaft Jesu war, und sie wollte Luther in den Mittelpunkt stellen: Menschen bedürfen der Liebe, und ohne diese können wir nicht leben.

Herr Professor Bauer, Sie sind auch Arzt und Psychotherapeut. Wenn Sie Lehrpläne für die Ausbildung zukünftiger Ärzte zu entwerfen hätten, was würden Sie da unbedingt viel stärker als bisher berücksichtigen wollen?

Die Ausbildung unserer jungen Mediziner ist nicht schlecht. Was derzeit noch fehlt, ist eine ausreichende Berücksichtigung dessen, was wir über den Einfluss zwischenmenschlicher Beziehungserfahrungen auf die Biologie des Menschen wissen. Der menschliche Körper ist kein von Genen determiniertes autistisches System. Welche Gene, vor allem in der Kindheit und Jugend, aktiviert werden und wie sich das Gehirn – und damit auch die Begabung – von Kindern entwickelt, hängt davon ab, welche Zuwendung und welche geistigen Anregungen junge Menschen bekommen. Der Zusammenhang zwischen sozialen Erfahrungen und der Biologie des Körpers bleibt über die gesamte Lebensspanne von Bedeutung. Das muss noch stärker in die Ausbildung rein.

Die Fähigkeit zur Selbststeuerung führt Ihren Erkenntnissen entsprechend zu einem gesünderen Lebensstil. Gesundheit ist in unserer Gesellschaft ein Megathema und verschlingt Unsummen von Geld der Versicherten und beschert gewaltige Profite für die Pharmaindustrie. Welche Möglichkeiten und Verantwortung sehen Sie bei den Ärztinnen und Ärzten in Ihrem Konzept der Selbststeuerung?

Mit Medizin hat das, was in vielen Kliniken heute passiert, leider nichts mehr zu tun.

Das Hauptproblem sehe ich in der Kommerzialisierung des Krankenhauswesens. Einige wenige Konzerne besitzen den Großteil unserer Krankenhäuser und führen unsere Kliniken mit der Vorgabe, dass Renditen zwischen 10% und 20% erwirtschaftet werden sollen. Nicht Ärztinnen und Ärzte, sondern Betriebswirte bestimmen heute, wo es in unseren Kliniken langgeht. Verwaltungschefs lassen Chefärzte antanzen und sagen denen, sie sollten diese oder jene Operation bitte etwas häufiger machen – weil das mehr Geld bringt –, oder sie sollten bitte dafür sorgen, dass etwas einträglichere Patienten zur Aufnahme kommen. Mit Medizin hat das, was in vielen Kliniken heute passiert, leider nichts mehr zu tun. Ärztinnen und Ärzte haben in einem solchen System keine Spielräume mehr. Daher hoffe ich sehr, dass wir in unserem Land unsere kirchlichen Krankenhäuser erhalten können.

Das Gespräch führte Hermann Preßler.

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Joachim Bauer: Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. Carl Blessing Verlag, München, 2015, 238 S.

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