Dieses Bild sieht dich an Ein Flüchtlingsfoto als mediale Ikone

Vor einem Jahr sorgte das Foto des tot an Land gespülten Flüchtlingskindes Aylan Kurdi weltweit für Aufsehen. Christof Salzmann rekonstruiert die Entstehung des Bildes und spürt den Gründen für seine außergewöhnliche mediale Verbreitung und Wirkung nach.

Grober Sand, sanfte Wellen. Das Kind auf dem Bauch liegend, der rechte Arm leicht verdreht seitlich am Oberkörper ausgestreckt. Zwischen nassem rot-leuchtendem T-Shirt und durchtränkter dunkelblauer Hose ist ein Stück des Rückens zu sehen, die rechte Hand liegt geöffnet neben der nackten Hüfte. Die Hose ist bis zu den Knien hochgerutscht und entblößt die dünnen Unterschenkel. Der Körper liegt schutzlos im Zentrum der Abbildung. Sein Kopf wird von Ausläufern der Wellen umspült. Eine idyllische Szene – wenn nicht der Kontext so grausam wäre, denn alles im Bild ist kalt: Die Wellen, der Sand, der Körper.

Die dieser Beschreibung zugrundeliegende Abbildung wurde im September 2015 weltweit bekannt: Die Fotografie zeigt den Leichnam des dreijährigen Aylan Kurdi, der auf der Flucht aus Syrien im Mittelmeer ertrank. Seine Mutter und sein fünfjähriger Bruder Galip kamen bei der missglückten Überfahrt ebenfalls ums Leben, lediglich der Vater konnte nach dem Kentern des Flüchtlingsbootes von den Rettungskräften aus den Fluten gerettet werden. Die Leichen des Bruderpaares wurden am Strand des Badeortes Bodrum im Süden der Türkei an Land gespült.

Ein Bildsymbol der Flüchtlingskrise

Das Foto erschien am Folgetag formatfüllend auf vielen Titelseiten der großen internationalen Tageszeitungen. Einmal in der Welt, verbreitete es sich in Sekundenschnelle auch in den sozialen Netzwerken. In zahllosen Wortmeldungen äußerten sich Menschen weltweit schockiert über die dramatische Szene am Strand und erschüttert über das Schicksal des Dreijährigen. Der Effekt basierte nicht auf beschreibende Bildunterschriften oder erläuternden Interpretationen, sondern auf der eindrücklichen und authentischen Repräsentation eines endgültigen „Augenblicks“: Die Fotografie „erzählt“ mit bildnerischen Mitteln unmittelbar vom tragischen Tod des Kindes.

In der Folge wurde das Foto zu einem weltweiten Symbol der Flüchtlingskrise. Auch internationale Medien und Menschenrechtsorganisationen nahmen immer wieder darauf Bezug. Dabei war dieser tragische „Unglücksfall“ kein Einzelfall: Schon zuvor kamen tausende Menschen bei der Flucht vor Krieg und Verfolgung ums Leben; und immer wieder waren Kinder unter den Opfern zu beklagen. Des Weiteren berichteten internationale Medien regelmäßig unter Verwendung dramatischer Bilder vom menschlichen Leid und der großflächigen Zerstörung in den Kriegsgebieten in Syrien. So stellt sich die Frage, warum gerade dieses Bild, das den tragischen Tod eines einzelnen Flüchtlingskindes dokumentiert, zu einer globalen medialen Ikone für die leidvollen Erfahrungen einer ganzen Region wurde.

1. Blick hinter die Kamera

Aufgenommen wurde das Bild von der türkischen Journalistin Nilüfer Demir. Perspektive, Belichtung und Farbwerte des Fotos wirken wenig spektakulär. Doch gerade der Verzicht auf eine Zuspitzung der Bildaussage durch den zusätzlichen Einsatz technischer Mittel verleiht der Fotografie ein hohes Maß an Authentizität. Dass die Aufnahme an einen „Schnappschuss“ erinnert, beglaubigt gerade die Echtheit des fotografischen Dokuments.

Wie die Fotografin in Interviews mit Agenturen und internationalen Zeitungen stets betonte, sei sie zunächst beim Anblick der Leichen „erstarrt“: „Aylan lag leblos in seinem roten T-Shirt und seinen blauen Shorts. 100 Meter weiter lag sein fünfjähriger Bruder Galip. Beide hatten weder Schwimmwesten noch Vergleichbares an, was sie vor dem Ertrinken hätte schützen können. Ich konnte nichts mehr für Aylan tun. Das hatte mich tief bestürzt.“ Ihren Angaben zufolge betätigte sie erst den Auslöser ihrer Kamera, nachdem sie den Tod der Kinder festgestellt hatte.

Auf der Jagd nach dramatischen Bildern

Das Insistieren der Journalistin auf der Abfolge der Ereignisse hat Gründe. Immer wieder sehen sich Journalisten dem Vorwurf ausgesetzt, sich mit solchen Bildern auf Kosten wehrloser Opfer zu profilieren und das Leiden anderer zynisch auszubeuten. Die „Schamlosigkeit“, mit der die Opfer fotografiert würden, sei selbst noch Teil der Schandtaten. Ausführlich hat dieses Dilemma die amerikanische Philosophin Susan Sontag in ihrem vielbeachteten Essay Das Leiden der anderen betrachten (dt.: Frankfurt 2010) beschrieben: „Die Jagd nach ›dramatischen‹ Bildern (wie sie oft genannt werden) treibt das fotografische Gewerbe an und gehört zur Normalität einer Kultur, in der der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsumanreiz und einer bedeutenden ökonomischen Ressource geworden ist. … Wie anders soll man bei Leuten einen Eindruck hinterlassen, die einer ununterbrochenen Flut teils neuer, teils ständig wiederkehrender Bilder ausgesetzt sind?“

Die Würde der Bildperspektive

In diesem Zusammenhang ist die Bildperspektive des Fotos von Nilüfer Demir bemerkenswert. So ist das Gesicht des Jungen auf keinem Bild der von ihr gemachten Serie zu erkennen. Die Entscheidung für eine Kameraperspektive, die eine Identifizierung des Jungen ausschließt, entspricht der traditionellen Kriegs-, Krisen- und Katastrophenberichterstattung: Lange Zeit wurden Leichen nur abgebildet, wenn das Gesicht unkenntlich oder verhüllt war. Susan Sontag weist in ihrem Essay jedoch auch darauf hin, dass in der Geschichte des Krieges das Tabu der „entblößten“ Darstellung von Toten häufig einseitig befolgt wurde. Was bei der Darstellung der eigenen Opfer selbstverständlich war, galt keinesfalls für die Gefallenen des Gegners: „Anderen diese Würde zu lassen, hielt man nicht für nötig.“

2. Die Bilder hinter dem Bild

Obwohl die Aufnahme am Strand von Bodrum das tragische Ereignis nüchtern und nahezu gefühllos abbildet, birgt sie das Potential, den Betrachter in besonderer Weise zu berühren. Das Bild verführt zum Hinschauen und provoziert gleichzeitig einen starken Widerwillen gegen den Akt des genauen Hinsehens. Die irritierende Position des schmalen Körpers (mit den Füßen auf dem Sand und dem Kopf in der Brandung) zeigt den Tod mit einer kalten, unerbittlichen Drastik. Dabei wechselt der Blick auf den Leichnam zwischen mitleidvoller Anteilnahme und ohnmächtiger Fassungslosigkeit.

Prägung durch das ikonografische Archiv

Diese besondere Wirkung der Fotografie lässt sich nicht ohne Rekurs auf das ikonografische Vorwissen verstehen, das sich im Laufe von Jahrhunderten im globalen Wissenskanon angesammelt hat und latent im kollektiven Unterbewusstsein existiert. Diese bedeutungsgenerierende Wissensressource wird beim Anblick von Bildern stets automatisch aktiviert. So spült auch die vorliegende Fotografie tieferliegende Vorbilder an die Oberfläche des Bewusstseins des Betrachters.

Auffallend bei diesem Prozess ist, wie profane Bilder auf religiöse Bilder verweisen, sakrale Bilder populäre Bilder kommentieren und Bilder stets neue Bilder generieren. Dazu gehören auch die biblischen Motive von Fluchtbewegungen und damit verbundenen Bedrohungen durch Wassermassen, wie z.B. die Flucht des jüdischen Volkes vor der ägyptischen Streitmacht durch das Rote Meer oder die Fluchtbemühungen Noahs vor der großen zerstörerischen Weltenflut. Zugleich erinnert die Abbildung des toten Jungen am Strand an den biblischen Jona, dessen Schicksal sowohl im Koran wie im Alten Testament plastisch geschildert wird: Eine häufig verwendete Szene in historischen Bildern zeigt Jona, wie er dem Fisch entkommt und den rettenden Strand erreicht…

Der Leichnam des unschuldig zu Tode Gekommenen

Vor allem aber ruft das Bild des Leichnams in einem von christlichen Traditionen geprägten Umfeld natürlich Abbildungen des Leichnams Christi in Erinnerung – zumal wenn es sich um das Bild eines Kindes handelt, das wie die Person Jesus in besonderer Weise ein unschuldig zu Tode gekommenes Opfer verkörpert. Beispielhaft wird dieses Bildmotiv durch Hans Holbeins Darstellung „Der tote Christus im Grabe“ aus dem Jahr 1522 vertreten, die eine der herausragendsten Provokationen der abendländischen Malerei darstellt. Grausamer und schockierender hatte zuvor nur Grünewald auf dem Isenheimer Altar das Menschsein des Gottessohnes dargestellt. Auf einem weißen Laken hingestreckt, die Arme seitlich eng neben dem Oberkörper ausgestreckt, liegt Christus in einer aus dem Fels gehauenen engen Grabnische. Gesicht und Extremitäten zeigen schon deutliche grünbläuliche Verfärbungen, als Anzeichen einsetzender Verwesung. Der von vielen vorangegangenen Abbildungen bekannte leuchtende Blick des Gottessohnes ist endgültig erloschen, nichts und niemand scheint zu diesem verlassenen Körper noch durchdringen zu können. Alles im Bild spricht von Tod und Vergänglichkeit: Christus verwest vor unseren „ungläubigen“ Augen.

Wenn man in Fotos von Katastrophen den Pulsschlag der christlichen Ikonografie zu spüren glaubt, ist das keine sentimentale Projektion.

Die formal nüchterne Abbildung der leidvollen Szene am südtürkischen Strand zeigt einen ähnlichen Moment der Verlorenheit und hermetischen Isolation. Der Moment der Vereinzelung wird durch die Konzentration des Bildausschnittes auf den Kinderkörper und die abweisende Szenerie unterstrichen. Der eng gewählte Bildausschnitt schließt den toten Körper ein und von der weiteren Umgebung ab. Der „erloschene Blick“ des Jungen bleibt dem Betrachter zwar erspart. Und trotzdem empfinden viele Menschen das Bild des leblosen Kinderkörpers ebenfalls als zutiefst schockierend. „Wenn man in Fotos aus Kriegs- und Katastrophenzeiten gelegentlich den Pulsschlag der christlichen Ikonografie zu spüren glaubt, so ist das keine sentimentale Projektion“, fasst Susan Sontag in ihrem erwähnten Essay den Einfluss des christlichen Bildarchivs auf die Deutung von Bildern der Gegenwart zusammen.

3. Von der Compassio zur Identifikation

Die grausame, detailgetreue Darstellung von Leiden und Sterben Christi ist in der christlichen Kunst seit Grünewald bewusstes Bildprogramm. Die schonungslose Darstellung soll zur „Compassio“, zum Mitleiden, auffordern und den Glauben an Erlösung von Schmerz und Leid stärken. Im Sinne der „Ästhetischen Theologie“ des deutschen Schriftstellers und Theologen Klaas Huizing handelt es sich dabei um „mediale Cover-Versionen“ der „urbildlichen Legende“. Sie zielen ebenso wie die neutestamentlichen Erzählungen auf eine innerliche Neuausrichtung des Rezipienten: „Der außerordentliche Eindruck, den der portraitierte Christus auf die LeserInnen macht, besteht in der Kraft, unsere körpersprachlich gesteuerte Wahrnehmung, kurz gesagt: die Entropie der Sprache, die einen Zugang zum Anderen verstellt, zu hinterfragen und die conditio humana zu revitalisieren. … Hierin besteht die spürbare Heilswirklichkeit des Christus praesens als Ende der Indifferenz und Ethos der Solidarität“ (Der erlesene Mensch. Ästhetische Theologie, Bd. 1. Stuttgart 2000, S. 240).

Auf dem Hintergrund der christlichen Ikonographie wäre auch der tote Junge am Strand also als eine ins Bild gesetzte Christus-Figur („Ecce-Homo“-Variation) zu lesen, die das Mitleid des Betrachters provoziert. Die Kraft des Fotos vom Unglücksort an der türkischen Küste liegt dabei allerdings nicht in seiner ästhetischen Darstellung, sondern in seiner dokumentarischen Aussage: „Der Tod des Kindes ist real!“ „Dies ist wirklich! „Es ist passiert!“.

Verlebendigung des Bildes

Als wolle er das „Ethos der Solidarität“ in einem Akt der Identifikation überbieten, stellte der chinesische Künstler Ai Weiwei am 31.01.2016 an der Küste von Lesbos die ikonische Szene des gestrandeten Leichnams für eine Fotoaufnahme nach. Dabei ersetzte er den toten Körper des Jungen durch seinen eigenen und ließ sich in identischer Pose am Boden liegend ablichten. Im Gegensatz zu der ärmlichen Kleidung von Aylan Kurdi trägt der weltbekannte chinesische Dissident allerdings eine dunkle Outdoor-Jacke, eine wasserfeste Hose und Designersportschuhe. Auch wenn Ai in der bedeutungsaufgeladenen Szene „posiert“, lässt sie nicht vergessen, dass er keinesfalls ein Flüchtlingsopfer, sondern ein hochbezahlter Teilnehmer im internationalen und durchökonomisierten Kunstbetrieb ist. Ob er diesen Zwiespalt bewusst inszenieren wollte oder ihn ungewollt produziert hat, bleibt offen.

Eine Bildpolitik, die nach einschlägigem Muster dramatisiert, ohne zu problematisieren.

Das Reenactment führte zu heftigen Auseinandersetzungen über einen angemessenen ethischen Umgang mit Bildern. Kritiker warfen Ai vor, das Flüchtlingselend für seine künstlerischen (und ökonomischen) Zwecke zu instrumentalisieren. Sie vermuteten eine wohlkalkulierte künstlerische Aktion im Hinblick auf eine humanitäre Katastrophe und unterstellten ihm eine Bildpolitik, die nach einem einschlägigen Muster dramatisiere, ohne zu problematisieren. So erkläre die Performance weder, welche Wirkungszusammenhänge zwischen dem Tod des Flüchtlingsjungen und einer globalen und wirtschaftlich geprägten Bildergesellschaft bestehen, noch beschreibe sie, was sich seit dem Tod des Jungen in der medienpolitischen Wahrnehmung verändert habe.

4. Die Verschränkung der Blickachsen

„Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter“, schreibt Susan Sontag in ihrem erwähnten Essay: „Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.“ – Wenn es angesichts der tragischen Szene am Strand von Borum so etwas wie einen tröstenden »Ausblick« geben kann, so liegt dieser in dem Bewusstsein, dass auch sie im Horizont Gottes liegt und nicht ungesehen blieb. Dabei ist der kritische Einwurf, warum sich diese leidvolle Tragödie im Blickfeld eines gütigen Gottes überhaupt ereignen konnte, trotz allem naheliegend und berechtigt.

Andererseits kann der entsetzte Blick auf die Szenerie auch Überlegungen über die (Blick-)Beziehung zwischen Gott und Betrachter anstoßen. So lässt sich beispielsweise der religiöse Blick auf das Bild gleichzeitig als ein Angeschaut-Werden durch das Bild schildern. Der religiöse Blick des Betrachters kreuzt im Bild den (betrübten) Blick Gottes. In diesem intimen „Augenblick“ erfährt die profane Pressefotografie eine symbolische Aufladung durch die religiös inspirierte Wahrnehmung des Betrachters: Der Betrachter fühlt sich von Gott angeschaut und erkannt. Das Bild wird quasi zu einem spirituellen „Bilderfahrzeug“ (Aby Warburg) zwischen sakraler und säkularer Sphäre. Es mag aus profaner Perspektive angesichts der hermetischen Atmosphäre der Fotografie zynisch klingen, doch vermag der „berührende“ Blickkontakt zwischen Gläubigem und Gottesinstanz die Isolation des Betrachters aufzuheben: „Der, der sieht, ist nicht allein“ (vgl. Psalm 119,135).

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