„Nicht sagen, warum etwas unmöglich ist, sondern fragen, wie es möglich wird“ Deutschland vor der Herausforderung des Flüchtlingszustroms

Wie kann Deutschland dem wachsenden Zuzug von Flüchtlingen gerecht werden? Zum Auftakt der 40. Interkulturellen Woche am 27.9.2015 ging Bundespräsident Joachim Gauck ausführlich auf die aktuelle Situation ein. Die folgenden Auszüge seiner Rede stellen das Dilemma zwischen universellem Mitgefühl und begrenzten politischen Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt.

Wir spüren, dass die Ereignisse der vergangenen Monate außergewöhnlich sind. Was wir sehen, beunruhigt viele und fordert uns alle heraus. Wir ahnen es, wenn wir die Bilder sehen aus Ungarn, vom Balkan, aus Griechenland, aus Italien, aus der Türkei, aus Syrien. Wir ahnen, dass wir es mit einem epochalen Ereignis zu tun haben, dessen Ausmaß und Tragweite wir noch immer schwer erfassen können. Wir ahnen, dass der Zug der Flüchtenden, der vor allem in Deutschland sein erhofftes Ziel findet, unser Land verändern wird. Wie – das liegt an uns.

In dieser Situation, in der es in Europa wie in Deutschland keine Lösungen gibt, die alle zufriedenstellen, ist der Entscheidungsdruck gleichwohl enorm. Und es gibt Handlungszwänge. Politik muss ja immer handeln, selbst wenn man eigentlich noch in der Phase der Abwägung ist, ohne genaue Kenntnis des endgültigen Ziels. Wir haben jüngst erlebt, wie eine sehr verständliche, menschliche Entscheidung der Bundesregierung auf begeisterte Zustimmung einerseits, aber andererseits auch auf eine deutliche Reserve, ja bei einigen sogar Ablehnung stieß. Eine Reihe europäischer Staaten zum Beispiel warnt davor, rechtliche Standards würden durch Entscheidungen aus dem Herzen heraus verwässert. Auch im Inland hat eine lebhafte Debatte darüber begonnen, welche nächsten Schritte erforderlich sind, und was uns eigentlich leiten soll in der Flüchtlingspolitik.

Lassen Sie mich zunächst sagen: Mit wem ich in diesen Tagen auch spreche, ob mit Bürgern oder Amtsträgern, ob ich Flüchtlingsunterkünfte besuche oder politische Versammlungen, überall sind die Menschen, genauso wie ich, tief beeindruckt von der Hilfsbereitschaft und dem Engagement der vielen tausend freiwilligen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfern, auch der Kommunen und der Länder. Oft sind mehr Menschen da, die helfen wollen als tatsächlich eingesetzt werden können. Angesichts dieser Herausforderung ist so etwas durchaus neu. Es hat sich etwas verändert in unserer Gesellschaft und darüber dürfen wir uns ruhig einmal freuen.

Aber zugleich treibt viele die Sorge um: Wie kann Deutschland in der Zukunft offen bleiben für Flüchtlinge, wenn zu den vielen, die schon da sind, viele weitere hinzukommen? Wird der Zuzug uns irgendwann überfordern, so fragen sie. Werden die Kräfte unseres wohlhabenden und stabilen Landes irgendwann über das Maß hinaus beansprucht? Mir geht der Satz eines Vertreters der nordrhein-westfälischen Kommunen nicht aus dem Kopf. Ich zitiere ihn: „Die Profis und Ehrenamtler können nicht mehr. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“ Und er fügte dann hinzu, 2016 sei für die Gemeinden ein vergleichbar hoher Zustrom wie in diesem Jahr nicht mehr zu verkraften. Wohl gemerkt, das sagt einer, der hilft, der aktiv ist, und nicht einer, der nur zuschaut und meckert.

Inzwischen trauen wir uns, und wenn nicht, dann sollten wir uns trauen, das fundamentale Dilemma dieser Tage offen auszusprechen: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich.

Wir kennen den rechtlichen Rahmen. Unser Asyl- und Flüchtlingsrecht fragt bei jedem Einzelnen nur danach, ob die Voraussetzungen der Schutzgewährung vorliegen. Es bemisst sich nicht nach Zahlen. Und doch wissen wir: Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo die Grenzen liegen. Aus all dem folgt für mich: Wir brauchen gründliche Analysen und eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir eine humane Aufnahmepolitik und eine gesellschaftliche Aufnahmebereitschaft auch in Zukunft sichern können. Einem Gedanken meines Vorgängers Johannes Rau folgend, sollten wir uns dabei „weder von Ängsten noch von Träumereien“ leiten lassen.

Wir sollten uns weder von Ängsten noch von Träumereien leiten lassen.

Migration – ob sie freiwillig oder erzwungen ist – hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie ist ein Teil der Menschheitsgeschichte, auch der großen Menschheitsdramen. Denn Menschen suchen sich nicht nur eine neue Heimat, weil sie ein besseres Leben wünschen. Oft genug treibt sie der verzweifelte Wunsch, das eigene Leben zu retten. So sehr wir auch wünschten, es wäre anders: Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg sind nicht nur Geschichte, nein, sie sind Gegenwart. Sie treiben Menschen in die Flucht und das erleben wir gerade. Wir erleben, dass wir eigentlich viel intensiver Fluchtursachen bekämpfen müssen und dass wir es doch nicht immer können. (…)

Wenn Menschen zu Hunderttausenden zu uns kommen, aus einem fernen Land mit einer fremden Kultur, ihre ganze Habe oftmals in einer Plastiktüte, dann kommen mit den Menschen Herausforderungen – und, ja, auch Konflikte. Das ist völlig unvermeidlich.

Zunächst einmal stehen wir vor enormen Organisationsaufgaben. Allein schon die Anerkennungsverfahren: so viele Anträge in so kurzer Zeit, zudem die Belastung, dass Menschen zurückgewiesen werden müssen. Angesichts des schnellen Zustroms muss der Staat den Bau von Wohnungen fördern, er muss Schulen bauen, Lehrer und Kindergärtner einstellen, Arbeitswelt und Berufsbildung anpassen, deutsche Sprache und deutsches Recht lehren. All das zu den vorhandenen Aufgaben. Ich stelle vor, was allein die Debatte um die Inklusion im Bereich unserer Schulen und in der Lehrerschaft für Problemdebatten ausgelöst hat. Das läuft ja alles parallel, alles gleichzeitig. Und es muss, kurz zusammengefasst, eine sehr große Gruppe von Neuankömmlingen mit dem Nötigsten versorgt werden und ihnen, die bleiben dürfen, müssen Chancen eröffnen werden.

Für diese Aufgabe, das Ausmaß dieser Aufgabe, gibt es kein Vorbild. So sehr wir Sicherheit und Planungstreue erwarten, so sehr wir uns nach einem Gesamtkonzept sehnen, so müssen wir doch erkennen: Was jetzt gebraucht wird, sind neben Ordnung auch Flexibilität und Phantasie. Beides beschreibt nicht das Versagen, sondern eine Tugend des Gemeinwesens in der aktuellen Krisensituation. Lernen in einer zugespitzten Situation, das meint aber nicht, ein paar eherne Vorschriften zu lockern. Es geht vielmehr darum, eine kreative Haltung zu fördern, die nicht sagt, warum etwas unmöglich ist, sondern die fragt, wie es möglich wird.

Selbst der größte Ideenreichtum, selbst hohe finanzielle Mittel werden aber nicht ausreichen, um Konflikte gänzlich abzuwenden. In diesen Wochen und in absehbarer Zukunft werden wohl weniger Wohnungen fertiggestellt, als Menschen kommen. Wettbewerb um Wohnraum, besonders preiswerten Wohnraum, dürfte unvermeidlich sein. Es ist ungewiss, ob wir überall sofort hinreichend Plätze in Kindertagesstätten oder Schulen anbieten können. Die Verantwortlichen in Städten und Gemeinden, sie mühen sich nach Kräften. Aber wir alle wissen, in welch schwieriger Lage die Haushalte vieler Kommunen seit längerem sind. Ich habe den größten Respekt vor dem, was gerade in unseren Städten und Gemeinden geleistet wird und ich will an dieser Stelle allen, die sich hier einsetzen, ein herzliches Dankeschön sagen. Schauen wir noch einmal die Bildungseinrichtungen und die Unternehmen an: Welch große Aufgaben kommen jetzt auf sie zu. Arbeit, für diejenigen, die arbeiten dürfen, sie ist zwar mancherorts vorhanden, oft jedoch nicht die Arbeit, die gesucht wird. Oder es werden erforderliche Qualifikationen fehlen, genauso Sprachkenntnisse. Auf die sozialen Sicherungssysteme kommen zunächst Kosten zu, denn erst später werden aus den neuen Nutznießern auch Einzahler.

So manchem werden die Folgen der gegenwärtigen Notaufnahme von Flüchtlingen nicht gefallen. Turnhallen stehen für den Schulsport nicht zur Verfügung. Grünanlagen und Schwimmbäder verwandeln sich in Notunterkünfte. Manche Beschwerde kann ich durchaus nachvollziehen.

Da hilft nur eins: Wir müssen schnell handeln. Es gilt, Spannungen zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen so weit wie irgend möglich zu vermeiden. Und das wird am besten gelingen, wenn die einen wie die anderen nicht übervorteilt werden oder sich jedenfalls nicht übervorteilt fühlen. Deutschland hat in seiner Geschichte wiederholt bewiesen, dass es Engpässe und materielle Herausforderungen meistern kann. (…)

Die Herausforderungen sind erheblich. Sie zu bewältigen, wird Geld, Zeit, Verständnis, Geduld und viel, viel Mühe fordern. Es ist eine Kraftanstrengung, wie sie die Bundesrepublik selten meistern musste. Auch unpopuläre Entscheidungen und unbequeme Schritte werden notwendig sein. Aber die Bewältigung dieser Aufgaben kann gelingen – mit Hilfe einer aktiven Zivilgesellschaft und mit einer fähigen Verwaltung – und, ja, auch das müssen wir uns eingestehen, wenn der Zustrom der Schutzsuchenden besser steuerbar wird.

Das zentrale Dilemma unserer Tage lässt sich nicht einfach vermeiden oder wegdiskutieren: Dem humanen Wollen zur möglichst unbegrenzten Hilfe stehen am Ende doch immer begrenzte Möglichkeiten gegenüber.

Dem humanen Wollen zur unbegrenzten Hilfe stehen begrenzte Möglichkeiten gegenüber.

Und in jedem von uns, wir spüren das ja, wohnen zwei Seelen: Es ist da einerseits die Erfahrung der Geschichte, es sind auch unser Selbstbild und unsere Achtung vor den universellen Werten der Aufklärung, die uns sagen lassen: Es muss Staaten geben, in die Menschen flüchten können, solange es Krieg und Verfolgung gibt. Und unser Deutschland muss einer dieser Staaten sein und bleiben.

Damit das so bleibt, müssen Staaten, aber auch ein Staatenverbund wie die Europäische Union, ihre äußeren Grenzen schützen. Denn nur so können wir die Kernaufgaben eines staatlichen Gemeinwesens erfüllen: die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und letztlich des inneren Friedens. Sie sind die Voraussetzungen dafür, überhaupt Flüchtlinge in großer Zahl aufnehmen zu können.

Indem wir diese Spannung erkennen zwischen dem Wollen und dem Können, öffnen wir uns für die Schwierigkeiten, die vor uns liegen. Es gilt, in einem Wertekonflikt kluge Entscheidungen zu treffen. Und gerade weil das so schwer ist, sollte unser Respekt denen allen gelten, die es versuchen. Denen jedenfalls, die sich verantwortungsbewusst an der Debatte über dieses Dilemma beteiligen. (…)

Es wird Zeit brauchen, bis sich die Lage normalisiert. Wenn die Nothilfe aber einmal hinter uns liegt, dann werden wir in dem, was wir heute als Krise erleben, auch eine Chance entdecken können. Es kommen Menschen zu uns, die Schutz suchen, aber auch eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Wohl die allermeisten bringen Elan und Ehrgeiz mit, und Ausdauer – meine Güte, Ausdauer –, sonst hätten sie die Fluchtstrapazen doch überhaupt nicht gemeistert. Sie können, sofern sie bleiben dürfen und wollen, hier ihre Fähigkeiten einbringen. Nicht aus jedem wird eine Fachkraft, das ist mir klar, aber ich ermutige jede und jeden, die eigenen Potentiale zu entdecken und hier zu entfalten. (…)

Und abschließend, meine Damen und Herren, ein Wort an uns, die Sorgenden und die Besorgten: Wenn wir Probleme benennen und Schwierigkeiten aufzählen, so soll das nicht, so soll das niemals unser Mitgefühl – unser Herz – schwächen. Es soll vielmehr unseren Verstand und unsere politische Ratio aktivieren.

Wir werden also weiter wahrnehmen, was ist – ohne zu beschönigen oder zu verschweigen.

Wir werden weiter helfen, so wie wir es tun – ohne unsere Kräfte zu überschätzen.

So werden wir bleiben, was wir geworden sind: Ein Land der Zuversicht.

Quelle: Bundespräsidialamt; den ungekürzten Redetext finden Sie unter www.bundespräsident.de.

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