Kunst und Reformation Luthers Wiederentdeckung 2017

Wie steht es im Lutherjahr um das Verhältnis von Kunst und Reformation? Recht gut. Drei Beispiele und ein Gespräch mit dem Regisseur und Kunstprofessor Felix Ensslin, der über Martin Luthers Magnificat-Auslegung promovierte.

Ein aufgespaltener Steinblock in einer Gefängniszelle. In der Mitte ein schmaler Gang. Freiheit und Unfreiheit mit minimalen Mitteln illustriert: Der chinesische Künstler Ai Weiwei weiß, wovon er spricht. Auf den Innenseiten der Blöcke wird als Hohlraum eingefräst ein Negativ des Künstlers selbst erkennbar. Die künstlerische Freiheit steht und entsteht hier unter Druck, doch höhlt sie invertiert noch in dessen Abwesenheit den Stein von innen aus.

Luther und die Avantgarde

So könnte eine der Interpretationen zu Ai Weiweis Präsentation „man in a cube“ in der Ausstellung Luther und die Avantgarde lauten (Abbildung auf www.luther-avantgarde.de). Die Rezeption zeigt aber, wie schwer es für Verfolgte ist, auf ihre Lage aufmerksam zu machen: Ai Weiwei wird übertriebene Selbstinszenierung vorgehalten. Martin Luther geht und ging es da nicht anders.

1) Ob 66 Künstler in der Wittenberger Avantgarde-Ausstellung, ob Harald Birck in der Karlsruher Innenstadt, ob 52 Künstler bei der Kunstschau formare des Künstlerbundes Mecklenburg Vorpommern, ob bei der Aquamediale 12 im Spreewald: Als ein Ergebnis (1) des Lutherjahres 2017 lässt sich festhalten: Um das Verhältnis von Kunst und Reformation ist es gut bestellt. In Skulpturen, Grafiken, Video-Installationen, in allen denkbaren Variationen, Ausrichtungen und Gestaltungskonzeptionen setzten sich 2017 Künstler mit Luther und der Reformationszeit auseinander (vgl. www.freitag.de: „Dein Museum lügt“).

Luther leakt den Bibeltext

2) Szenenwechsel. „Das seinerzeit ‚schnelle‘ Medium Buchdruck ermöglichte Luther die Reformation, Edward Snowdens weltweite Enthüllungen schlugen die in seiner Gegenwart führende digitale Technologie mit ihren eigenen Waffen. Beide ‚Whistleblower‘ hatten das Ziel, systemische Ungerechtigkeiten aufzudecken.“, so Achim Mohné über sein Objekt “0,000672 MEGAPIXEL – CITIZEN TO BE SEEN FROM MARS”, eine große gepixelte Installation vor dem Wittenberger Alten Gefängnis, das ein Bild des Whistleblowers Snowden zeigt. Der Link gelingt so unvermittelt wie präzise: Snowden leakt die Privation und Aushöhlung der Bürgerrechte. Luther leakt den vorenthaltenen Bibeltext.

Die Aquamediale 12 in Brandenburg stand unter dem Motto „Glaube Liebe Hoffnung“. Mit biblischen Aussagen wird dabei – wie Kunst das ja auch soll – durchaus kritisch hinterfragend umgegangen. Jedem Tun und Lassen liegt eine bestimmte Ontologie, eine „Auffassung von Welt“ zugrunde, ob man die Existenz nun „so annimmt, wie sie sich gibt“ (wie Realisten) oder davon ausgeht, dass sie erst in unserem Kopf entsteht (Konstruktivismus). “formare – gestalten, bilden, formen und schöpfen – sind wesentliche Elemente auf der Suche nach einer gegenwärtigen Aussage und Gestalt. Nicht rückwärtsgewandt, sondern auslotend, welche Spielräume das Schaffen und Schöpfen über Grenzen und Einschränkungen hinweg heute bietet“, hieß es in der Ankündigung zur Rostocker formare-Ausstellung. Jedenfalls ein weiteres Ergebnis (2) des Lutherjahres ist: Es wird 2017 wieder erwartet, gewünscht und gefordert, dass es in der Kirche um Gott zu gehen hat.

Übersetzung Wort für Wort für Wort

3) Irgendwie einsam, aber zielgerichtet, vollführt er sein Werk. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort bringt der Industrieroboter des Künstlerkollektivs robotlab die Bibel zu Papier. Ob er wohl bei der Stelle „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ (Psalm 127) kurz eine Pause macht? Die Installation in der Avantgarde-Ausstellung bringt Luthers Wartburg-Übersetzung in Erinnerung. Bis Ausstellungsende ist eine Ausgabe komplett geschafft.

Das weist noch auf ein weiteres Ergebnis (3) des Reformationsjahres: Auch 2017 ist Luther ein viel gelesener Bestseller, sowohl mit der Lutherbibel als auch mit weiteren Schriften wie der Freiheitsschrift und den 95 Thesen.

1. Herr Professor Ensslin, was ist an Martin Luthers Ontologie interessant?

Luther ist weder Realist noch Konstruktivist. In zeitgenössischem Jargon könnte man sagen: Weder ist der Geist reduzibel auf das Gehirn, noch das Gehirn reduzibel auf den Geist. Aber es herrscht auch nicht das eine über das Andere – zumindestens nicht in der postadamitischen Welt, also in unserer. Für Luther ist eine dritte Dimension entscheidend: Jenseits der kontingent geschaffenen Welt und der Gott impliziten Notwendigkeit, diese kontingente Welt zu schaffen, gibt es die Frage nach der Begegnung der Kreatur mit dieser paradoxen Bedingung.

1.1 Luther übersteigt also die gängige Aufteilung in Tun und Denken (Moral und Metaphysik) und sucht nach etwas Drittem?

In gewisser Weise. Wenn Hegel sagen kann, Luther habe die „Geltung des Subjektiven“ realisiert, dann ist dieser dritte, ethisch verfasste Ort gemeint. Während es richtig ist, dass der ganze Mensch „Naturding“ ist, um es mit Kants Terminologie zu sagen, ist es ebenfalls richtig, dass die damit implizierte Determiniertheit oder – theologisch gesprochen – Prädestination für ein begegnungsfähiges, d.h. sprachlich verfasstes Subjekt im Vollzug von Wissen und Reflexion nicht relevant ist.

Prädestination [göttliche Vorherbestimmung, d. Red.] und Freiheit treffen sich bei Luther nicht in der Entscheidung zwischen diesen beiden Positionen, sondern in der Frage nach der Relation zu der Unentscheidbarkeit dieser Frage. Weil klar ist, dass Gott bereits entschieden hat (bzw. die sozialen Bedingungen oder die biologischen, die Bahn des individuellen Schicksals bereits vorbestimmt haben), aber durch die vom Mangel (der Sünde, dem Bösen, der Uneindeutigkeit der kreatürlich lesbaren Spuren der Offenbarung und der Schöpfung) gezeichnete Verfasstheit des Menschen im Lebensvollzug (homo viator) nicht in der Lage ist, gesicherte Erkenntnisse über den Inhalt dieser Entscheidung (bzw. der Wirkungen dieser Bedingungen) zu bestimmen, gibt es nur einen möglichen Weg: Zu akzeptieren, dass Gott (bzw. heute: die materialistischen Bedingungen) bereits alles entschieden hat (haben), aber durch die Unerkennbarkeit des Inhalts dieser Form, dem Subjekt nur die Wahl bleibt, sich für sich und seine eigene Lebensartikulation verantwortlich zu zeigen. Das heißt, sich selbst als Form zu verdoppeln in gewisser Weise. Hier ist auch die Schnittstelle zur Kunst.

So öffnet ein Nachdenken mit Luther einen dritten Raum: Weil man zwar wissen kann, dass es Prädestination, (natürliche Determination) gibt, aber keine wissenschaftlich gesicherten Methoden erreichen kann, den Inhalt dieser Vorherbestimmungen zu erkennen, bleibt letztlich nur die Abkehr von dieser Frage und die Zuwendung zum konkreten Lebensvollzug: „Was tun?“, bzw. „Was ist mein Begehren?“

1.2 Luthers Theologie kommt in bestimmter Hinsicht aus einer Erfahrung von „Nichtigkeit“ (ausführlich dokumentiert in seiner Magnificat-Auslegung 1521) und entwickelt andererseits die Vorstellung eines individuellen Rufs („Was tun?“). Ist es dieses Spannungsfeld, das diesen „dritten Raum“ bestimmt?

Ja. Absolut, bzw. als der Raum der, wie ich das bezeichnet habe, „Entbehrung des Absoluten“. Der Ruf ist nicht individuell, sondern er schafft die Bedingungen einer Subjektivierung. Er spaltet das Individuum, könnte man sagen, in seine durch gesellschaftliche Bedingungen geschaffene Individualität, die er für ein „Selbst“ hält – in sich verkrümmt, wie Luther sagt: curvatus in se – und die Potentialität einer anderen Artikulation, bzw. der Artikulation einer „anderen Welt“. Das erlöste Subjekt ist für Luther das Subjekt, das diese Spaltung auf sich nimmt.

2. Was könnte ein paulinischer Satz wie der der creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts, Röm 4,17 mit Röm 4,5) für heutige philosophische, gesellschaftliche oder politische Diskurse austragen? Oder sind paulinisch-reformatorische Ansätze heute überholt?

Philologisch ist Luthers strikte Paulusauslegung, die Dichotomie [Zweiteilung, d. Red.] zwischen Werk und Glaube, zwischen Gesetz und Gnade, überholt. Philosophisch ist sie in gewendeter Form aktuell: Nämlich durch die Frage der Abwesenheit in der Anwesenheit, des Mangels im Erfüllten, der Passivität in der Aktivität. Aus Luthers Paulusexegese folgt für heute die Frage nach der Trennung vom Gedanken der Erfüllung durch eigenes Handeln und der Uneinholbarkeit jeglicher Vorstellung vom Ganzen, Erreichten, oder Berechtigten. „You didn’t build that“ („Das haben nicht Sie geschaffen“) hat Barack Obama im Wahlkampf seinem damaligen Gegner Romney entgegnet, als dieser sich mit dem Erfolg seiner selbstgegründeten Hedgefond-Firma brüstete.

Luther erlaubt, diesen Gedanken zu verallgemeinern: Nicht nur in dem Sinne, dass jegliche Leistung von den intersubjektiven Konstellationen, die diese ermöglichen, abhängt, sondern auch darin, dass jede Vorstellung von Selbsttransparenz absurd ist, wenn es um die Begründung und den Nachvollzug eigener Handlungen und Leistungen geht. Luthers Kritik am Eudaimonismus der scholastischen Synthese zwischen Aristoteles und den Texten der Bibel besteht letztlich in der Einsicht, dass die Verantwortung des Menschen darin liegt, sein Begehren ohne den Rekurs auf „gute Gründe“ und „dem Allgemeinwohl verpflichtete“ Motive zu realisieren.

Dies ist aus der Sicht lutherschen Denkens aber keine Einladung zum Relativismus. Denn diese Verantwortung wird errungen durch die Unmöglichkeit, sie durch methodisch gesicherte, wissenschaftliche oder durch Konsens gedeckte Maximen zu decken. Die Existenz des Menschen rechtfertigt sich durch das Verhältnis zu seinem Begehren angesichts der Erfahrung radikaler Fremdbestimmtheit oder Abhängigkeit.

2.1 Ein Einwand: Falls es stimmen sollte, dass Gesetz und Gnade philologisch, im buchstäblichen Sinn nicht zu unterscheiden und nicht einander gegenüberzustellen sind, würde daraus nicht folgen (z.B. politisch), dass das Denken einer anderen Welt unmöglich würde?

Ganz im Gegenteil. Eine andere Welt beginnt mit der Annahme dieser Ununterscheidbarkeit. Alles hängt davon ab, was damit gemeint ist, was diese Ununterscheidbarkeit ausmacht. Ethisch liegt dies im lutherischen Denken in der uniformen Quelle von Gut und Böse. Ontologisch sind sie dasselbe: nämlich Haltungen zur Unvollständigkeit der Welt, ihrer Kontingenz und ihrer Kreatürlichkeit. Unterscheidbar werden sie erst im subjektiven Verhältnis zu dieser Grundsituation oder ersten Differenz: Zwischen Mensch und der Quelle seines (An-)triebs. Zwischen Autonomie und der diese begründenden Heteronomie.

2.2 In der Wittenberger Ausstellung Luther und die Avantgarde präsentiert Mischa Kuball den öffentlichen Reformator als „Katalysator für die veränderbare Gesellschaft“ und bringt ihn mit ihren Positionen ins Gespräch. Gut getroffen?

Da Ihre Leser die Arbeit nicht vor Augen haben, und sie auch von Mischa alleine zu verantworten ist, möchte ich auf die Aussage eingehen, nicht auf die künstlerische Form. Wenn man die Frage von der Position eines Lutherbiographen aus angehen würde, müsste man sagen: Es gibt unterschiedliche Phasen. Magnifikat-Auslegung, davor die Römerbriefauslegungen, noch die Diskussion mit Erasmus über die Prädestination und die „guten Werke“ artikulieren anders als die späte Genesisvorlesung den oben skizzierten radikalen Durchbruch Luthers: Der Mensch ist nicht in der Lage – weder als Einzelner, und schon gar nicht indem er dies auf eine Institution wie die Kirche auslagert – seine eigene Bestimmung aus den Bedingungen und der Erfahrung seiner eigenen Situation „abzulesen“. Das Wort (und damit die Lesbarkeit und Interpretation der Welt) ist immer auch „verkürzt“, wie er es in mystischer Diktion in den Römerbriefvorlesungen artikuliert, d.h. es ist nicht den Vermögen des Menschen selbst absolut transparent. Damit entsteht eine Situation, in der Sprechen (und jede Form von subjektiver Artikulation) immer auch Produktion ist: von sozialen Beziehungen, von individuellen Selbstverhältnissen, von kritischen Positionen gegenüber vermeintlich von Gott oder Natur gegebenen Realitäten. In dem Sinne ist das eine Position, die die „Veränderbarkeit“ von Gesellschaft impliziert, ja diese Veränderung zum Index eigener Offenheit für Wort und Begegnung macht.

2.3 Größere Veränderungen gesellschaftlicher Art sind ja immer auch ein Akt von Schöpfung, von Kreation, vielleicht gegen starke Widerstände oder gar „aus dem Nichts“. Gibt es das in der Kunst, Schöpfung aus dem Nichts?

Umformuliert würde ich sagen: Handlungen, die wirkliche Veränderung in Gang setzen, sind solche, die nicht auf die gesellschaftlich lesbaren Bedingungen reduziert werden können. Das theologische ex nihilo führt dabei vielleicht eher in die Irre. Veränderung beginnt mit dem Unleserlichen, dem nicht Sichtbaren, dem, was nicht gehört oder gesehen werden kann. Heute besteht der Streit oft darin, ob diese Formel reduziert wird auf eine Logik der Anerkennung. Also: Bis heute wurde ich nicht gesehen, nicht gehört, etc. und jetzt setze ich mich und andere so in Szene, dass diese Sichtbarkeit hergestellt wird auf rechtlichen, ästhetischen, publizistischen oder anderen Wegen. Die Kunst ist ein Ort, an dem dieser Streit ausgetragen werden kann und wird.

3. (Wie) bedingen sich Ontologie und Kunstauffassung?

Das ist nur bedingt eine „Lutherfrage“. Im Kontext der obigen Fragen möchte ich es aber so beantworten: Eine Ontologie, die das Sein des Handelnden, Schaffenden, Urteilenden mit dem ‚Makel’ des Unvollständigen versieht, eröffnet den Raum ästhetischer Praxis in konkreter Weise. Nämlich darin, dass die Differenz, die in ästhetischen Praktiken zum Tragen kommt, die Differenz zwischen sozial, biologisch oder anderweitig determinierter Individualität einerseits und der wirksamen, also Effekte produzierenden Lücke in dieser Determination andererseits, besteht. Kunst wäre dann Kunst, wenn sie diese Differenz offenhält und je singulär realisiert. Verkürzt gesagt realisiert sich Kunst, wenn ihrem Können das Scheitern, bzw. das Nicht-Können integral zugehört.

3.1 Was könnte reformatorische Theologie von der Kunst lernen?

Da ich mich um reformatorische Theologie nicht bemühe, kann ich zu dieser Frage leider keine Antwort geben.

3.2 Sie sprachen vorher die z.B. hegelsche Subjektfokussiertheit an. Hegels Position ist im Ende ja eigentlich recht zynisch. Kann sich Kunst in einem letzten Sinn damit zufrieden geben?

In Abwandlung einer lutherischen Logik könnte man sagen: Wie du Hegel liest, so ist er auch. Hegel ist nicht zynisch, sondern er ist nüchtern. Und zwar in der Hinsicht, dass er nicht auf die Realisierung des geschichtlich ganz anderen setzt, sondern auf die Variation, die Wiederholung, die Differenz im Gegebenen. Ich denke, da Kunst notwendig materialistisch ist – denn sie handelt von und mit der Wahrnehmung – ist sie, zumindest seit einem bestimmten historischen Moment, das Laboratorium für die Suche nach der ästhetischen und gesellschaftlichen Artikulation solcher Wiederholung und Differenz.

Das Interview führte Manfred Schütz auf schriftlichem Weg.

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