Persönlichkeitsbildung ist nicht alles Der evangelische Bildungsbegriff auf dem Prüfstand

„Die evangelische Kirche versteht Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens“. So formuliert es die EKD-Denkschrift „Maße des Menschlichen“ aus dem Jahr 2005. Aber wie verhält sich ein solcher Bildungsbegriff zur heutigen Realität von Bildungsprozessen, beispielsweise an den Hochschulen?

Bildung „auf evangelisch“…

Die evangelischen Kirchen in Deutschland werden nicht müde, in ihren Verlautbarungen zum Thema „Bildung“ darauf zu verweisen, dass Bildung nicht allein dem Erwerb von Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten dienen dürfe und auch nicht nach den ökonomischen Nutzeninteressen der Gesellschaft zu definieren sei. Nach der einschlägigen „Orientierungshilfe“ der EKD zu Kirche und Bildung (2009) „gehört die Forderung, den öffentlichen Bildungsdiskurs nicht auf ökonomisch und technisch bestimmte Erfordernisse oder auf entsprechende Leistungsmerkmale des Bildungssystems zu beschränken, bereits selber zu den Kennzeichen eines evangelischen Bildungsverständnisses“. Bildung, so durchzieht es die kirchlichen Äußerungen, sei letztlich immer als Selbstbildung zu vollziehen und müsse stets auch Bildung der Person und des ganzen Menschen sein.  Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union von 2001 formuliert pointiert: „Der Bildungsbegriff bringt präzise die nicht-instrumentalisierbare Zweckfreiheit des lebenslangen Bildungsprozesses zum Ausdruck und trägt so der dem einzelnen Menschen geschenkten Würde Rechnung“.

… und Studieren nach Bologna

Dies sind zweifellos ebenso hehre wie steile Thesen. Hält man die Realität eines modularisierten Hochschulstudiums in Deutschland in Zeiten nach BOLOGNA dagegen, stellt sich allerdings einige Ernüchterung ein. Von einer „nicht-instrumentalisierbaren Zweckfreiheit“ der institutionalisierten Bildungsprozesse an deutschen Hochschulen kann wohl kaum noch die Rede sein (vgl. den Beitrag von H. Preßler). Kritisch hat sich von Seiten der evangelischen Kirche dazu insbesondere der Hochschulbeirat der EKD in seinem Votum Den Bildungsauftrag wahrnehmen. Evangelische Perspektiven zur Situation der Hochschulen in Deutschland 2009 geäußert:

Ein ernstes Problem von starr modularisierten Studiengängen ist, dass die starke Reglementierung von Studieninhalten und Studienverläufen die akademische Freiheit des Studiums weitgehend zu ersticken droht. Die Studienreformen verschärfen die bestehende Tendenz, Studiengänge weniger als Bildungs- denn als Ausbildungswege zu konzipieren. Die Bedingungen dafür, im Studium eine grundständige wissenschaftliche Kompetenz, Kritikfähigkeit, selbständiges Methodenbewusstsein und ethisches Reflexionsvermögen zu gewinnen, sind nicht sichergestellt. (EKD Texte 105, S. 16f.)

Ebenso wie hier wird auch in anderen evangelischen Verlautbarungen eine Reduzierung von Bildung auf Ausbildung und eine entsprechende Ausrichtung insbesondere von akademischen Bildungsprozessen als defizitär zurückgewiesen. Spricht aus solchen Thesen nur die Weltfremdheit einer Organisation, die den Anschluss an die Anforderungen der aktuellen, durchökonomisierten Gesellschaft verpasst hat und nur noch sentimental und naiv einem antiquierten, bürgerlichen Bildungsverständnis nachhängt? Oder ist mit diesem anspruchsvollen und umfassenden Bildungsbegriff tatsächlich ein unaufgebbares Erbe protestantischer Tradition verbunden, für das die evangelische Kirche zurecht mit Vehemenz und Nachdruck einsteht?

Warum wird heute studiert?

Wer heute in Deutschland ein Hochschulstudium aufnimmt, tut dies in der Regel nicht mit der Erwartung, dass er oder sie dadurch als „Person“ und „ganzer Mensch“ gebildet werden möchte. Würde man die entsprechenden Bildungsdefinitionen aus den EKD-Verlautbarungen Studienanfängern von heute vorlegen, würden diese wohl eher zweifelnd mit den Achseln zucken, als diese als Begründung für ihren Studienwunsch zu unterschreiben. Tatsächlich steht bei der Aufnahme eines Studiums meist entweder das Ziel im Vordergrund, sich möglichst hochwertig für eine spätere Berufsausübung zu qualifizieren. Oder es geht darum, persönliche Interessen und Neigungen intensiver zu verfolgen und dabei zumindest auch die Perspektiven einer späteren beruflichen Tätigkeit auf dem jeweiligen Feld auszuloten. Den Luxus, ein Hochschulstudium ganz ohne die Frage nach Relevanz und Nutzen für einen späteren Broterwerb und nur mit dem Ziel der persönlichen Bildung aufzunehmen, können sich die wenigsten leisten – von der zunehmenden Zahl der Senior-Studierenden einmal abgesehen.

Es entspricht also der Erwartung heutiger Studierender, wenn ein Hochschulstudium in wesentlichen Teilen auch der beruflichen Qualifikation dient und damit auch auf „Ausbildung“ ausgerichtet ist. Für viele Studierende ist es zudem wichtig, dass dabei Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen: Die (Lebens-)Zeit, der persönliche Einsatz und nicht zuletzt die finanziellen Mittel, die zwangsläufig während des Studiums in den Erwerb der Qualifikationen gesteckt werden müssen, sollen sich möglichst bald lohnen – sei es durch den anschließenden Karrierestart und das damit verbundene attraktive Einkommen oder zumindest durch die Ausübung eines Berufs, der persönliche Befriedigung und eine gesicherte Existenz verspricht.

Bildung und Professionalität

Die BOLOGNA-Reform hat dem mit der Einführung der gestuften Studiengänge strukturell Rechnung getragen: Der Bachelor-Abschluss ermöglicht mit einer Studienzeit von nur sechs Semestern eine raschere akademische Berufsqualifizierung als die vorherigen Studiengänge. Vertiefung des Studiums, Spezialisierung und ggf. Qualifikation für eine wissenschaftliche Laufbahn können durch ein anschließendes Master- und Promotionsstudium erfolgen. Die damit verbundene stärkere berufliche Ausrichtung des Basis-Studiums (Bachelor) sollte man auch als Verfechter eines protestantischen Bildungsideals nicht generell verdammen. Sie entspricht offensichtlich nicht nur Erwartungen des Arbeitsmarktes, sondern auch dem Lebensentwurf vieler junger Menschen. Zudem macht es angesichts der immer höheren Prozentzahl von Studierenden pro Jahrgang keinen Sinn, alle Studienanfänger in ein Studium zu zwingen, das allein auf wissenschaftliche Qualifikation ausgerichtet ist. Dafür hat ein erheblicher Teil der Studierenden nicht die entsprechende Motivation, und es gäbe auch nicht ausreichend Stellen für die so produzierte Zahl von wissenschaftlich qualifizierten Absolventen.

Bei aller Kritik, die man an der BOLOGNA-Reform und ihrer Umsetzung im Detail berechtigterweise vorbringen kann gilt deshalb: Es gibt keinen Grund, ein Bachelor-Studium wegen seiner berufsqualifizierenden Ausrichtung generell als minderwertige Form von Hochschulbildung abzuwerten. Zudem haben Studierende bei der Wahl des Studienfaches und der Hochschulart – Universität, (Fach-)Hochschule oder Duales Studium – ja  die Möglichkeit, selbst ihre Schwerpunkte zu setzen. Denn gerade im Hinblick auf die berufliche Ausrichtung eines Studiums macht es natürlich einen erheblichen Unterschied, ob man Mathematik oder Philosophie bzw. Zahnmedizin oder Tourismusmanagement studiert.

Es sei in diesem Zusammenhang schließlich auch daran erinnert, dass sich in und aus der Reformation nicht nur ein protestantisches Bildungsideal, sondern auch eine evangelische Berufsethik entwickelt hat, zu der explizit auch die Hochschätzung von Professionalität gehört. Und wer die berufspraktische Ausrichtung eines Studiums generell abqualifiziert, möge sich doch mal überlegen, ob es ihm als Patient auf dem Operationstisch nicht ebenso wichtig ist, dass der Chirurg sich in Anatomie auskennt und sein Skalpell zu führen gelernt hat, wie dass er als Mensch und Persönlichkeit ganzheitlich gebildet ist.

Der evangelische Bildungsbegriff auf dem Prüfstand

Der offensichtliche Graben, der zwischen dem Bildungsverständnis in den EKD-Verlautbarungen und der Realität an deutschen Hochschulen besteht, sollte für die evangelische Kirche Anlass sein, nicht nur die hochschulpolitischen Entwicklungen im Rahmen des BOLOGNA-Prozesses kritisch zu hinterfragen und zu begleiten (wofür es unbestritten eine Notwendigkeit und gute Gründe gibt), sondern auch das eigene Bildungsverständnis neu auf den Prüfstand zu stellen. Drei Ansatzpunkte seien dafür in Kürze genannt:

  1. Bildung und Ausbildung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Weder ist Ausbildung generell eine defizitäre Form von Bildung, noch macht in der modernen Gesellschaft Bildung ohne Anteile von Ausbildung Sinn. Ausbildungsprozesse und umfassendere Bildungsprozesse sind vielmehr als ineinander verschränkt zu betrachten, ohne dass je das eine im anderen aufgehen kann. Selbstverständlich muss z.B. ein Hochschulstudium immer auch Bildungs(an)reize bieten, die über die reine berufliche Qualifikation hinausgehen. Gleichzeitig darf die Bildungsaufgabe auch nicht allein auf das Studium beschränkt gesehen werden. Viele Studierende reifen im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsanspruchs heute durchaus während ihres Studiums, wenn auch nicht unbedingt in erster Linie durch das Studium. Letztlich geht es um das Eingeständnis, dass Bildung in diesem Sinn ohnehin nicht machbar ist, sondern nur durch Anreize in-, aber auch außerhalb des Studiums initiiert und gefördert werden kann und muss.

  1. Das evangelische Bildungsverständnis sollte im Hinblick auf die Bildungskulturen der MINT-Fächer erweitert werden.

Das protestantische Bildungsverständnis, wie es die Verlautbarungen der evangelischen Kirchen prägt, ist stark an geistes-, kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Aspekten orientiert. Wie z.B. „Wertbewusstsein, Haltungen und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens“ (Maße des Menschlichen) im Rahmen eines Mathematikstudiums eingeübt werden sollen, erfordert schon einige Phantasie. Und darüber, dass jedes Hochschulstudium vor allem der „Arbeit am Subjekt“ und der „Menschwerdung des Menschen“ dienen soll, wird mancher Professor für Maschinenbau oder Molekularbiologie vermutlich nur den Kopf schütteln. Dies mag durchaus ein Aspekt von akademischer Bildung sein, kann aber nicht generell zum Kern jedes Bildungsprozesses erklärt werden. Deshalb ist es erfreulich, dass der Evangelische Hochschulbeirat derzeit an einem Projekt arbeitet, um die Anwendbarkeit des vorherrschenden evangelischen Bildungsverständnisses im Hinblick auf die so genannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) kritisch zu beleuchten und hinsichtlich seiner Anschlussfähigkeit zu überprüfen.

  1. Der protestantische Bildungsbegriff geht im Ideal einer autonomen Persönlichkeit nicht auf.

Schließlich würde es sich lohnen, den Kern des protestantischen Bildungsbegriffs einmal von seiner modernen Überlagerung durch die Kant‘sche Philosophie und das Humboldt‘sche Bildungsideal abzuheben. Denn was Bildung nach evangelischem Verständnis im Wesentlichen ausmacht, erschließt sich nicht oder nur zum Teil, solange sich evangelische Bildungstheorie ganz und gar am neuzeitlichen Subjektbegriff und am idealistischen Persönlichkeitsideal orientiert. So wertvoll die Erkenntnisse eines Johann Gottlieb Fichte und eines Wilhelm von Humboldt waren – in den Kreis der Reformatoren gehören beide nicht. Und so zweifellos es zutrifft, dass das moderne Bildungsideal auch viele christliche Wurzeln hat – die christlichen und spezifisch protestantischen Aspekte dieses Bildungsideals gehen in einem modernen Verständnis von Bildung als Selbstbildung des Menschen zur Vervollkommnung seiner Persönlichkeit wohl doch eher unter als auf.

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