Diplomatischer Balanceakt auf Dauer 50 Jahre israelisch-deutsche Beziehungen

Am 14. Mai 1948 rief der designierte Ministerpräsident David Ben-Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik kam es erst siebzehn Jahre später 1965. Sie verdankte sich v.a. individuellen Entscheidungen und dem politischen Pragmatismus der beteiligten Staatsmänner.

Die Entscheidung zur Aufnahme von Beziehungen

Der Beginn der bilateralen Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland war schwierig und schmerzlich – mit der DDR wurden nie Beziehungen geknüpft. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen passierte sozusagen nebenbei. Sie hatte weniger mit der Geschichte der beiden betroffenen Länder zu tun, als mit dem Kalten Krieg und seinen Auswirkungen auf das geteilte Deutschland und den Nahen Osten. Die Entscheidung von Bundeskanzler Ludwig Erhard, offizielle Beziehungen aufzunehmen, fiel in Reaktion auf die Entscheidung Ägyptens, Walter Ulbricht, den führenden Repräsentanten der DDR, mit allen protokollarischen Ehren zu empfangen.

Rainer Barzel, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, berichtet in seinen Erinnerungen, dass er dem neuen, in Sachen Naher Osten noch unerfahrenen Kanzler empfahl, keinesfalls mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Ägypten zu reagieren. Denn die Beziehungen zwischen Bonn und der arabischen Welt sollten nicht beeinträchtigt werden. Barzel riet, jetzt endlich den Schritt zu tun, dem Bonn sich bislang verweigert hatte: volle diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Der Kanzler neigte – ebenso wie sein Vorgänger Adenauer – ohnehin in diese Richtung. Er überwand den Widerstand von Außenminister Gerhard Schröder, der großen Wert auf die Pflege der Beziehungen Bonns zu den Arabern legte und auf der sogenannten „Hallsteindoktrin“ beharrte, nach der alle Staaten der Welt sich zwischen diplomatischen Beziehungen zu Bonn oder zu Pankow zu entscheiden hätten.

Die Entscheidung Erhards überraschte den Gesandten der Bundesrepublik Kurt Birnbach, der tags zuvor zu Gesprächen über die Beziehungen der beiden Staaten in Jerusalem eingetroffen war, völlig. Es war sein Gastgeber in Jerusalem, Felix Schin’ar, damals Chef der Israel-Mission in Köln, der ihm den Wortlaut der Erklärung des Kanzlers vorlas, die am Abend zuvor, am 8. März 1965, veröffentlicht worden war. Es war nur konsequent und äußerst vielsagend, dass auch diese Entscheidung – so wie die meisten wegweisenden Entscheidungen in Sachen israelisch-deutsche Beziehungen – vom Kanzler allein ohne weitere vorherige politische Abstimmung gefällt wurde. Wenige Tage später nahmen die beiden Staaten diplomatische Beziehungen auf.

Die Vorgeschichte: David Ben Gurion und Konrad Adenauer

Diese Entwicklung verdankte sich der Initiative von David Ben Gurion einerseits und Konrad Adenauer andererseits. Selbst nach Öffnung der Archive, die diese Geschichte erzählen, bleibt manches rätselhaft, haben doch diese beiden Männer außer einigen allgemeinverbindlichen Äußerungen kaum Material über diesen Vorgang hinterlassen. Sie waren es gewohnt, die Politik ihrer Länder fast im Alleingang zu bestimmen.

Adenauer wollte aus ethischen Erwägungen, die tief in seinem Glauben verankert waren, das Menschenmögliche zur Wiederherstellung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den Juden erreichen. In diesem Sinne äußerte er sich wiederholt – schließlich auch im März 1960 gegenüber Ben Gurion im Hotel Waldorf Astoria in New York. Das sollte die einzige Begegnung in ihrer Amtszeit bleiben. Für den Staat Israel interessierte Adenauer sich nie mehr als es der minimale Anstand erforderte. Hingegen war ihm sehr daran gelegen, alles zu tun, um die amerikanischen Juden zufrieden zu stellen. Denn die Macht und der Einfluss der Juden für die Politik Washingtons seinem Land gegenüber schienen ihm maßgeblich.

Diese Mischung aus – tief im Glauben verankerter – ethischer Überzeugung mit der pragmatischen Verfolgung von Interessen hat ihre Parallele bei Ben Gurion. Nur kann in seinem Fall nicht von religiöser Glaubensüberzeugung die Rede sein, sondern von dem, was von einigen seiner Biografen als „politische Messianität“ bezeichnet wird: Die dauerhafte und unerschütterliche Überzeugung, dass ihm – und allen ihm Untergebenen – auferlegt sei, alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass die Juden sich in ihrem eigenen Staat niederlassen können, dass dessen Sicherheit gewährleistet und er vor seinen Feinden geschützt ist.

Die Last der Schoah

Diese Mission gegenüber dem Deutschland nach der Schoah einzulösen, stellte – im Rückblick betrachtet – Ben Gurion vor eine schier unlösbaren Aufgabe: als Regierungschef eines Staates, der unmittelbar nach seiner Gründung von sämtlichen Nachbarn mit Krieg überzogen worden war. Auch angesichts der Notwendigkeit – und der Chance –, hunderttausende Flüchtlinge aus Europa und den arabischen Staaten aufzunehmen. Darüber hinaus sahen sich Wirtschaft und Gesellschaft – ohne jede Unterstützung von außen – der akuten Gefahr des Zusammenbruchs ausgesetzt.

Ben Gurion handelte in schroffem Gegensatz zu den Gefühlen der jüdischen Öffentlichkeit.

Gleichwohl packte Ben Gurion die historische Chance beim Schopf. Und so gelang es ihm, in schroffem Gegensatz zu den Gefühlen der jüdischen Öffentlichkeit in Israel, gegen die Politik aller maßgeblichen Parteien – abgesehen von der, in der er das Sagen hatte – und gegen die geballte öffentliche Meinung, direkte Verhandlungen mit Bonn aufzunehmen. In diesen einigte er sich mit der deutschen Delegation über Wiedergutmachungszahlungen. Als Frucht dieser Kontakte erhielt Israel von Westdeutschland wirtschaftliche und militärische Hilfe. In der Folgezeit gelang es, ein Geflecht von Beziehungen aufzubauen, das sich immer weiter verdichtete, bis schließlich im Mai 1965 ein deutscher Botschafter in Tel Aviv und sein israelisches Gegenüber in Bonn eintraf.

Die Rolle der deutschen Juden

Ironischerweise waren die einzigen Bündnispartner Ben Gurions auf dem Weg zur Aussöhnung mit Deutschland ausgerechnet die deutschen Juden, die „Jecken“, von denen viele dem Außenministerium in Jerusalem angehörten und andere der Hebräischen Universität. Nach Aussage Ben Gurions erschien ihnen, die doch von der alten Heimat so grausam abgewiesen, vertrieben und abgeschlachtet worden waren, die Erneuerung der Beziehungen wie eine Art Bestätigung, dass es auch ein „anderes Deutschland“ gab – das Deutschland, das ihnen ihre Kultur, ihre Sprache, ja, ihre Identität verliehen hatte, die sie nie aufgegeben hatten, auch als sie Israelis geworden waren und sich sogar andere Namen gegeben hatten.

So nahm Martin Buber schon in den fünfziger Jahren Auszeichnungen der Städte Hamburg und Frankfurt entgegen, kurz danach knüpfte Gershom Scholem erneut Beziehungen nach Deutschland, wenn auch unter Äußerung scharfer Kritik an der Aussöhnung zwischen den beiden Völkern, und so hielten es noch viele andere. Weil sie sich – nolens volens – als Deutsche sahen, waren diese Juden nicht bereit, die Einschätzung Hannah Arendts zu akzeptieren, „nur ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher“. Faktisch war damit ja gesagt, die Nazis hätten Recht gehabt mit ihrem Anspruch, allein sie formulierten und repräsentierten den deutschen Geist.

„Kollektive Verantwortung“ statt „Kollektivschuld

Allerdings begab Ben Gurion sich nie auf das weite Feld dieser ethischen Fragen. Für ihn war das Problem der Beziehungen zu Deutschland einfach und eindeutig zu beantworten. Wenn die Rede auf die Annahme der Wiedergutmachungszahlungen kam, pflegte er zu sagen: „Ich werde nicht zulassen, dass das geflügelte Bibelwort (des Propheten Elia an König Ahab) eintritt: ›Du hast gemordet, dazu auch fremdes Gut geraubt! ‹“ (1. Kön 21,19). Und wenn dafür diplomatische Beziehungen mit Deutschland die Voraussetzung waren – kein Problem.

Deutschland, ein Staat „wie jeder andere“?

Im Übrigen betonte er stets, dass das Deutschland Adenauers „ein Staat wie jeder andere“ sei, der seine Verantwortung für die Vergangenheit angenommen habe, Mitglied in den westlichen Bündnissen, mit Israel befreundet und nicht mit Hitler-Deutschland zu vergleichen sei – trotz all der Probleme, vor denen er keineswegs die Augen verschloss, wie antisemitische Vorfälle, Unterstützung für die mit Israel verfeindeten arabischen Staaten, Neo-Nazis, Altnazis, die niemals zur Rechenschaft gezogen worden waren, sondern im Gegenteil Karriere machen konnten, wie u.a. Hans Globke, engster politischer Berater von Adenauer höchstselbst.

Beide Seiten verstanden, dass es für Deutschland klug war, sich der Vergangenheit in der Weise zu stellen, dass der Diskurs über die „Kollektivschuld“ in einen über „kollektive Verantwortung“ überführt wurde. Weil diese – freiwillige – Übernahme von Verantwortung selbst ein moralischer Akt ist, überführt sie den Akteur aus dem Status eines „Schuldigen“ in den Status einer von seinem Gewissen geleiteten Persönlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass, wenn es um die Übernahme der Verantwortung für solch furchtbare Verbrechen geht wie die der Nazis, diese schwerlich mit irgendetwas Anderem zu vergleichen sind.

Ben Gurion seinerseits war so klug, im gesamten Verlauf der Verhandlungen über die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel darauf zu bestehen, dass der Schmerz über die in der Schoah Ermordeten etwas Privates, Emotionales und Subjektives ist, im Unterschied zum öffentlichen, staatlichen und politischen Charakter der Beziehungen mit Deutschland: Die Annahme von Unterstützung und in ihrer Folge die Aufnahme von Beziehungen „sind nicht ein Recht, sondern eine Pflicht“, war seine Meinung: Niemand habe das Recht, sich dieser Pflicht zu entziehen.

Persönliche Nähe und politische Interessen

So gelang es Ben Gurion und Adenauer über Jahre ganz allein, der Aufnahme und Grundlegung von Beziehungen den Weg zu ebnen, bis zu jener Begegnung in New York, bei der ihnen klar wurde – wie sie später berichteten –, dass sie sich persönlich gut verstanden und einander zutiefst schätzten, ja, dass sie sich ihrer historischen Einzigartigkeit bewusst waren.

Beide wussten auch um ihre Grenzen: Ben Gurion verstand, dass bei dieser Begegnung das Thema der Aufnahme von Beziehungen besser nicht angesprochen würde, obwohl Adenauer ihm früher bereits versprochen hatte, dass er sich dafür einsetzen werde. Adenauer verstand, dass es sich positiv für seine Bemühungen um Einflussnahme auf die amerikanische Regierung auswirken würde, wenn er allen von Ben Gurion bei ihrem Treffen geäußerten Bitten nachkäme; denn die Amerikaner zogen damals – ganz gegen die Politik Adenauers – ein Gipfeltreffen mit den Sowjets über die Zukunft Berlins in Erwägung.

So bewiesen beide Männer wieder einmal, dass ihre Erfahrung und ihre politische Klugheit sie ihrem Ziel näher brachten: Zur Erleichterung Adenauers blieb Berlin geteilt. Er persönlich hatte ein europäisches, katholisches Deutschland ohne Berlin bevorzugt, und erst Recht in der Ära der Blockteilung Europas. Schließlich, als fünf Jahre später beide schon nicht mehr im Amt waren, wurde vollzogen, was sie anbahnten.

Nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen – wie diese charakterisieren?

Das interessanteste Dilemma der Beziehungen zwischen Israel und Deutschland ist und bleibt die Frage, wie man sie charakterisieren soll: „Normale Beziehungen“? „Besondere“? „Einzigartige“? In Wahrheit hat bereits der erste Kanzler, der Israel besuchte, Willy Brandt, gegen den Widerstand der israelischen Seite darauf bestanden, die Beziehungen als „normal“ zu bezeichnen. Schon damals intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten, und tatsächlich schien es, als habe eine Normalisierung eingesetzt.

Willy Brandt bestand darauf, die Beziehungen als „normal“ zu bezeichnen.

Als aber Menachem Begin das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, kam es zu Reibereien und gegenseitigen giftigen, ja beleidigenden Äußerungen. Gleichwohl ging Begin dann doch den Weg Ben Gurions weiter und beschädigte die Beziehungen nicht im Mindesten. Trotz seiner ganz anderen Auffassungen von jüdischer Geschichte, der Schoah, der deutschen Schuld, trotz der stürmischen Demonstrationen, die er als Führer der Bewegung „Cherut“ gegen Deutschland organisiert hatte, trotz seines Abstimmungsverhaltens und seiner Reden gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und gegen jede Zusammenarbeit während seiner Jahre in der Opposition. Begin und Helmut Schmidt haben sich nie getroffen oder miteinander gesprochen, doch die diplomatischen Beziehungen wurden korrekt und ordentlich weiter geführt. Die Basis war schon zu breit, als dass sie hätte erschüttert werden können: Schließlich waren die Beziehungen trotz der Schoah – in gewisser Weise ja auch wegen der Schoah – aufgenommen worden. Was hätte sie also ernsthaft beschädigen sollen?

Wendepunkt Deutsche Einheit

Die diplomatischen Beziehungen bestanden während der gesamten Zeit der Existenz der DDR, ohne dass diese ihrerseits Israel anerkannt, ihren Anteil an der Verantwortung für die Vergangenheit übernommen oder je irgendeine Art von Beziehungen zum Judenstaat geknüpft hätte. Demgegenüber wandelte Westdeutschland sich zum Freund Israels nicht nur in den bilateralen Beziehungen, sondern auch in europäischen und internationalen Wirtschafts-, Rechts- und Politikinstitutionen, wo es Israel Unterstützung angedeihen ließ – wenn auch unter wachsender und zunehmend expliziter Kritik an der Politik Israels in der Frage der besetzten Gebiete, der Siedlungen und seiner Beziehungen zu den Palästinensern.

Der Moment, als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war auch für die Beziehung der beiden Staaten von erheblicher Bedeutung. In den ersten Jahren kam es zu massiven Erschütterungen: die Besorgnis gegenüber dem Faktum der Einheit und ihrer Bedeutung für Deutschland und Europa, der erste Golfkrieg, in dessen Verlauf es zur Aufdeckung der Verwicklung deutscher Firmen in die Produktion chemischer Waffen im Irak kam, später dann die Welle von Gewalttaten durch Neonazis in den Jahren 1992/93 insbesondere in Ostdeutschland.

Der Mauerfall von 1989 wurde auch in Israel zu einem Symbol.

Trotz alledem veränderte sich das Deutschlandbild in Israel, seit die Bilder von der ungeheuren Freude in der Nacht des Mauerfalls um die Welt gegangen waren. Sie wurden auch in Israel zu einer Art Symbol – einem Symbol womöglich für die jahrelange Sehnsucht der Israelis danach, dass die Mauern zwischen uns und unseren Nachbarstaaten fallen möchten. Wie dem auch sei: In den letzten Jahren wird Berlin immer mehr zu einem Magneten auch für viele Israelis, die es besuchen, die dort arbeiten und sich dort sogar niederlassen und damit hier in Israel eine lebhafte, bisweilen auch hitzige Debatte auslösen.

Die israelisch-deutschen Beziehungen heute

Kanzlerin Angelika Merkel gilt in Israel als populärste Politikerin der Welt und Deutschland als engster Verbündeter Israels in Europa. Allerdings besteht in der gegenseitigen Wertschätzung keinesfalls Symmetrie: Mehr und mehr junge Deutsche äußern bohrende Kritik an Israels Politik, und beinahe 50 Prozent von ihnen sind der Meinung, Israels Untaten in den besetzten Gebieten erinnerten an jene der Nazis in Deutschland. Und wie eine Umfrage der Europäischen Kommission herausfand, waren im Jahr 2003 mehr als 60 Prozent der Deutschen sogar der Meinung, Israel sei einer der Staaten, die den Weltfrieden gefährden.

Doch ist die Kritik nicht hinderlich für den Ausbau der Beziehungen in vielen und sehr unterschiedlichen Bereichen: vom Austausch auf den Gebieten von Kultur, Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft, Sicherheit und dem sehr populären und intensiven Tourismus in beiden Richtungen bis hin zur festen Einrichtung der jährlichen gemeinsamen Sitzung der beiden vollständigen Kabinette immer abwechselnd in der Hauptstadt des Partners.

Gefahr für dies alles in allem gute Verhältnis erwächst am ehesten aus Unwissenheit und Gleichgültigkeit. Im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien haben viel Jugendliche in beiden Staaten bereits kein allgemeinverbindliches Bild mehr von der Welt, in dem die gemeinsame Vergangenheit beider Völker ihren Platz hätte, und womöglich auch gar nicht mehr das Verlangen, diese Vergangenheit zu entdecken und zu verstehen. Ohne dieses Rüstzeug aber gehen wir einer ungewissen Zukunft entgegen.

Übersetzung aus dem Hebräischen von Dr. Tobias Kriener, Bonn.

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar