Der kirchliche Blick auf Israel Zur Entwicklung des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland

Nach der Gründung des Staates Israel und der Schoah musste die deutsche und europäische Christenheit ihr Verhältnis zum Judentum theologisch und politisch neu bewerten. Martin Stöhr beschreibt die wichtigsten Stationen in diesem bis heute nicht abgeschlossenen Prozess.

Europäische Kirchen und jüdisches Volk –nach 1945

Das Christliche Abendland hatte Israel nicht geschützt. Zivilcourage war selten. Das jüdische Volk brauchte nach der Erfahrung eines beispiellosen Völkermordes ein Zuhause, wo seine Existenz nicht gefährdet ist.

Das Wort Israel meint dreierlei. Das jüdische Volk, das im Land Israel oder in der Diaspora wohnt, und den Staat Israel. Das moderne Israel konnte durch einen völkerrechtlichen UNO-Beschluss von 1947 entstehen, initiiert durch die UdSSR und die USA. Wie andere Staaten nach 1945 gegründet oder neu formatiert wurden, so sollte den Überlebenden der Schoah wie allen in Palästina lebenden Arabern und Juden je ein jüdischer und ein arabischer Staat Selbstbestimmung und Sicherheit verschaffen. Die Teilung des Landes wollte unterschiedliche Bindungen ans Land respektieren, aber keinen jüdischen oder arabischen alleinigen Besitzanspruch nach biblischen oder koranischen Landkarten legitimieren.

Im Herbst 1948, mit der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), besaß die europäische Christenheit ein Forum, auch das christlich-jüdische Verhältnis neu zu beleuchten. Die Anerkennung des Staates Israel stand aufgrund der UNO-Resolution nie in Frage, der Vatikan sprach sie erst 1993 aus. Im Zusammenhang mit dem II. Vatikanischen Konzil nahm die römisch-katholische Kirche 1965 (in der Erklärung „Nostra aetate“) Abschied von ihrem antijüdisch definierten Absolutheitsanspruch und stellte ihre Beziehungen zum Judentum auf eine positive Basis. Ab 1967 wurden, wie in UNO-Beschlüssen, kirchliche Stimmen zur israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik kritischer.

Mühsame Anfänge eines neuen christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland

In der deutschen Szene hatte man erfahren, dass eine antijüdisch imprägnierte Gesellschaft den Satz „Jesus ist Jude“ politisch und projüdisch verstanden hatte. Ernannte sich die Kirche selbst zum wahren Israel, so nährte sie den Verdacht, Israels Zeit sei vorüber. Hatte die Tochter Kirche ihre Mutter Israel nicht nur beerbt, sondern auch als Gottes Volk abgelöst, so stand auf Israels Totenschein verworfen. Im Gottesdienst bekannte man ohne antirömische Vorurteile gelitten unter Pontius Pilatus, im Alltag war Golgatha die Schuld der Juden. Nationaler wie rassischer Antisemitismus gedieh auf einem religiös gedüngten Boden. Dadurch wurden christliche Widerstandskräfte gegen einen rassistischen Staat ebenso gelähmt wie die Bereitschaft, Juden zu helfen. Waren sie nicht irgendwie selbst an ihrem Leiden schuld?

Das Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945) schwieg zur Schuld der Christenheit gegenüber Israel. Das Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennenden Kirche (1947) markierte zwar klar die Irrwege der deutschen Gesellschaft und Kirche, die zu 1933 führten: Nationalismus und Feindbilder, Gewaltvertrauen und Demokratieverachtung. Es erwähnte aber weder Judenverachtung noch Rassismus. Eine späte Ergänzung belebte alte Vorurteile: Indem Israel seinen Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung verworfen, diese sei auf die Kirche übergegangen. Christliche Schuld an Israel setze sich aber fort, wenn ihm die Christusbotschaft verschwiegen werde.

Eine Initiative aus der Bekennenden Kirche führte 1950 auf der gesamtdeutschen EKD-Synode in Berlin-Weißensee zu zwei Klarstellungen: Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel ist auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben. Und: durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit sind wir mitschuldig geworden an den Verbrechen, die durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen wurden. Vereinzelt griffen Akademien, Arbeitskreise oder Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit die damit angerührten theologischen oder politischen Fragen auf.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag thematisiert Auschwitz und den Staat Israel – erstmals mit jüdischen Mitarbeitern

Die evangelischen Kirchentage wurden zu einem Ort der Neuorientierung, nachdem Helmut Gollwitzer auf dem Münchener Kirchentag 1959 eine eigene Themengruppe verlangt hatte. Um einer besseren Zukunft willen seien selbstkritisch die Beziehungen zwischen Juden und Christen zu untersuchen. Eine Arbeitsgemeinschaft aus Juristen, Historikern, Pädagogen, Rabbinern und Theologen entwarf für Berlin 1961 das umfangreiche Programm. Es gebe zwei Wegweiser: Auschwitz steht mit einer langen Vorgeschichte von Verachtung Israels durch die Mehrheitsgesellschaft für die Ermordung eines Drittels des jüdischen Volkes. Der neue Staat verkörpert: Israel lebt. Säkulare und religiöse Hoffnungen auf Freiheit vergegenwärtigten den Anfang der jüdischen Geschichte, den Auszug aus Pharaos Unterdrückung. Zu den Überlebenden aus Lagern, Verstecken und Exil kamen mit ähnlichen Erwartungen zahlreiche Einwanderer aus islamischen Ländern nach Israel.

1961 waren die Messehallen auf dem Berliner Kirchentag rasch überfüllt. Zum ersten Mal referierten und diskutierten jüdische Referenten gleichberechtigt im größten Christentreffen. Später kamen dialogische Bibelarbeiten hinzu, in denen Juden und Christen die Bibel auslegten, auch Texte aus dem Neuen Testament. Zu den Entdeckungen dieser bis heute unabgeschlossenen Reise gehörte die Erkenntnis, dass die Botschaft Jesu nur zu verstehen ist, wenn das Neue Testament vom Alten her gelesen wird. Dieses ist die Bibel Jesu, der Wahrheitsraum (Frank Crüsemann) des Neuen Testamentes. Seine Autoren waren Juden, es beglaubigt die Botschaft des Ersten Testamentes, überholt sie nicht, holt sie zu den Völkern. Gabriele Reichmann, einst nach London vertrieben, eröffnete ihren Vortrag über Antisemitismus z.B. mit der Frage, warum Christen Israel als Christusmörder hassten, statt es als Christusbringer wertzuschätzen?

Kritische Fragen an die christliche Auslegung der Bibel und politische Forderungen nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen

Damit war eine breite Debatte für viele Kirchentage, später auch für die akademische Theologie, eröffnet. Wie verkündet man die Christusgeschichte, besonders die Passion, ohne christlichen Glanz durch Anschwärzen der Juden zu gewinnen? Wie erklären sich Widersprüche im Johannesevangelium: Die Juden sind Teufelskinder (oft antisemitisch aus 8,44 zitiert) und (christlich oft vergessen): Das Heil kommt von den Juden (8,44)? Warum blieben Röm 9–11 so unbekannt und folgenlos? Dort spricht Paulus von der bleibenden Erwählung Israels und mahnt die Christen vor Überheblichkeit, denn nicht du trägst die Wurzel (Israel), sondern die Wurzel trägt dich. Warum befolgte der deutsche Protestantismus Röm 13,1, der Obrigkeit untertan zu sein, gern? Viele hörten solche kritischen Fragen zum ersten Mal. Christ und Welt titelte überrascht: Ausverkauf der Kirchengeschichte.

Zu der erklärten Solidarität mit Israel und zur notwendigen christlichen Umkehr gehörten in der Abschlusserklärung konkrete Forderungen: Keine alten Nazis in Justiz und Verwaltung, auch nicht Hans Globke im Kanzleramt; diplomatische Beziehungen mit Israel; keine deutschen Raketenbauer in Ägypten und Syrien; Eltern redet mit euren Kindern über euer Versagen; Jugend gehorche keinen unmenschlichen Befehlssystemen.

Eingeschliffene Meinungen, wie Erwählung Israels bedeute einen Elitestatus, zerbröselten in der Aufklärung, z.B. durch Rabbiner R. R. Geis und Ernst Ludwig Ehrlich: Erwählung meine immer Berufung in den irdischen Dienst Gottes für Liebe und Gerechtigkeit, Befreiung und Menschenwürde. Politische Verantwortung gehöre dazu. Schalom Ben Chorin stellte die jüdischen Arbeiten vor, die Jesus als exemplarischen Juden heimholten ins Judentum. Man könne jüdisch glauben wie Jesus, aber nicht an Jesus.

Gottes Wort lesen Juden und Christen immer neu

Weil die Bibel keine Sammlung von Lehrsätzen ist, erzählt sie Geschichten vom Gelingen oder Misslingen einer glaubwürdigen Nachfolge Gottes und seines Messias. Über das, was heute zu wissen, zu tun und zu hoffen ist, entscheidet keine menschliche Autorität. Die Gemeinde und das Gewissen sind Orte, die Wege zu suchen und zu gehen, die in der biblischen Botschaft angelegt sind. Im Vertrauen auf die Lebendigkeit dieses Wortes legen Propheten es kritisch, tröstend oder hoffend neu aus. So zieht Jesu Bergpredigt ins gegenwärtige Leben, was zu den Alten gesagt ist. So spitzen z.B. die Meister im Talmud, Kirchenväter, Reformatoren, Pietismus, Bekennende Kirche, feministische oder befreiende Theologie neu zu, was heute und hier ansteht. Da geht es nicht um Allerweltsworte mit Ewigkeitswert, sondern zusammensitzend um Auseinandersetzungen. Denn es gibt Ratlosigkeit, falsche Propheten, falsche Messiasse und fundamentalistische Ränder der Religionen. Noch sind die biblischen Weisungen zum Leben nicht ausgelesen, ausgelernt und ausgelebt. Die in allen Teilen der Bibel wie in der Israel- und in der Kirchengeschichte vorfindlichen Denominationen, Strömungen und Polemiken sind Zeichen einer nach vorne offenen Sinn- und Zielstiftung.

Ein heftiger Streit in der Kirchentagsgruppe entbrannte später z.B. um die Frage, ob der von den Juden erwartete Messias derselbe sei, den die Christen in Jesus von Nazareth kennen. Wissen die Christen heute schon, dass sie mit ihrem Messias am Ende der Zeiten Recht haben? Ersetzt ein Recht-Haben das Recht-Tun? Könnten christliche Überlegenheitsgefühle nicht Judenmission rechtfertigen, die die jüdische Identität bedroht? Einige Jahre später löste Papst Benedikt XVI. einen ähnlich massiven jüdischen Protest aus, als er das von Paul VI. abgeschaffte Karfreitagsgebet für die treulosen Juden als Gebet für die Bekehrung der Juden wieder einführte. Der Dialog zwischen Juden und Christen ist keine Plauderei an gemütlichen Kaminen. Er verlangt von der christlichen Seite auch die Revision von Aussagen über die Juden, die man sich nur leistete, weil man nicht mit ihnen, sondern über sie sprach.

Das zeigte sich auch in der bald angepackten Schulbuchrevision. Da war zu kritisieren, dass häufig von jüdischen Festen in der Vergangenheitsform geredet wurde, z.B. die Juden feierten Pessach, Chanukka etc., als ob sie ihre Feste nicht bis heute feiern, als ob der Anspruch der Kirche, das Wahre Israel zu sein, das real existierende Israel in ein Museum der Geschichte abgeschoben hätte.

Denkschriften – was Juden und Christen eint und was sie trennt

Ende der 60er Jahre beauftragte die EKD eine Studienkommission, eine Denkschrift zum Verhältnis Christen und Juden zu verfassen. Die erste von dreien erschien 1975. Sie betonte gemeinsame Glaubensinhalte: der eine Gott, die Heilige Schrift, das Volk Gottes, der Gottesdienst, Gerechtigkeit und Liebe, Geschichte und Vollendung. Zu verlernen waren christliche Grenzziehungen, die einen Gott der Rache, des Gesetzes oder bloßer Verheißung gegen einen Gott der Liebe, des Evangeliums und der Erfüllung setzten. Beschrieben wurde kein gefälliger Religionsmix, sondern das Auseinandergehen der Wege. Sie trennten sich im Glauben an Jesus, den Maschiach, den Christus. In ihm sahen seine Nachfolger den Anfang der messianischen Zeit und die Einladung, Buße zu tun, umzukehren auf die Wege, die in den messianischen Hoffnungen auf die Erlösung der Welt skizziert waren. Diese Hoffnung teilen sie mit Israel, nicht aber die Überzeugung, dass das Gottesreich nahe herbei gekommen ist.

Deswegen ist eine zentrale jüdische Anfrage an die Christenheit biblisch fundiert. Sie fragt nach irdischen (und nicht nur jenseitigen oder innerlichen) Verwirklichungen der großen biblischen Hoffnungen. An den Adventsonntagen sind sie in allen Kirchen zu hören: Gerechtigkeit für Arme, Schwerter zu Pflugscharen, Säuglinge spielen am Loch von Giftschlangen, also Frieden in und mit der Natur, Sehkraft für Blinde, Mobilität für Gelähmte, Brot für Hungernde, Freiheit für die Gefangenen. Als Jesus am Anfang seiner Laufbahn in der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth zur Bibellesung aufgerufen wird (Lk 4), hat er Jes 61 zu lesen, wo von diesen Kennzeichen des Reiches Gottes die Rede ist. Er lebt sie geistvoll und praktisch. Hörbar und vorbildlich ist für seine Gemeinde, was nachfolgend und nachdenkend zu tun ist. Aber: Lebt die Christenheit, was sie hört? So heißt die Rückfrage aus dem jüdischen Volk, das mit und neben dem christlichen Volk unterwegs ist. Das Alte Testament hat im nachbiblischen Judentum und Christentum zwei Fortsetzungsgeschichten. Beide wetteifern um die bessere Gerechtigkeit. Sie hatte Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,20) von den Jesusgläubigen wie von den pharisäischen Juden eingefordert.

Christliche Studierende an der Hebräischen Universität

Wo liegen die Unterschiede im Lesen und Befolgen der Schrift/en, wie das NT Mose und die Propheten, das AT, nennt? Ein Projekt, Studium in Israel, ermöglicht seit 1977 über 600 Theologie-Studierenden ein Studienjahr an der Hebräischen Universität. Hier wie in den universitären Bibelwissenschaften werden heute ökumenisch alt-neue Zugänge und Verständnisse der gemeinsamen Bibel studiert. Die Synoden fast aller Landeskirchen, zuerst die Rheinische Kirche 1980, haben in ihre Grundordnungen Artikel eingefügt, die den veränderten, geschwisterlichen Beziehungen von Juden und Christen Ausdruck geben. Noch immer stehen sie am Anfang langer Wege. Die Reformierte Kirche in den Niederlanden hatte in ihrer vorpreschenden neuen Kirchenordnung (1970) das mit Israel notwendige Gespräch über die gemeinsame Bibel von der Mission in der eigenen, postchristlichen Gesellschaft und den Völkern unterschieden.

Das Verhältnis zu den Muslimen und zu Israels Politik – ein Ausblick

Zwei Probleme werden derzeit debattiert: Einmal das Verhältnis zum Islam, nach dem Christentum auch ein Spross aus der jüdischen Bibel. Wie weit trägt Abraham/Ibrahim als Symbol von Gemeinsamkeit? Was unterscheidet jüdisch-christliche Beziehungen von christlich-islamischen? Zum anderen: Die jetzige israelische Regierungspolitik wird für viele zur einzigen Brille, Israel in all seinen Dimensionen zu beurteilen.

Am 10.9.2000 publizierte die New York Times Seite einen Aufruf von Rabbinern und jüdischen Gelehrten Dabru Emet – Redet Wahrheit. Er würdigt positiv die christlichen Bemühungen, neue Brücken zu bauen: Ein dramatischer und beispielloser Wandel! Als Gemeinsamkeiten werden der Glaube an den einen Gott, die Hebräische Bibel, der Respekt vor Israel im Land Israel, die Ethik der Tora, keine christliche Legitimierung von Nazismus, ein schwindender Druck der christlichen Mehrheitsgesellschaft und die Verpflichtung, für Gerechtigkeit und Frieden zu arbeiten, genannt. Dieses Zeugnis verschweigt keine Unterschiede. Es schaut ehrlich nach vorne: Der nach menschlichem Ermessen unüberwindliche Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.

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