Umdenken! Wie Religionen gemeinsam helfen könnten

Die Novemberereignisse von Paris und ihre Folgeerscheinungen haben nicht nur in Frankreich Erschütterung und Verunsicherung ausgelöst, sondern weltweit. Die Frage nach der Verantwortung der Religionen drängt sich auf.

Damals – „Nine-eleven“ 2001 – ist erstmals die systematische und freiwillige Selbsttötung von Menschen als Strategie im Terror gegen unerwünschte Denk- und Lebensweisen geplant und erfolgreich eingesetzt worden. Es war nicht allzu schwer zu erkennen, dass damit die Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung weitgehend untauglich geworden ist. Denn Selbstmordattentäter – ob einzeln oder organisiert – sind mit Bomben allenfalls zu hindern, aber nicht zu verhindern.

Trotz unüberhörbarer Warnungen haben sich die damals Mächtigen für Reaktionen der Gewalt entschieden. Und damit wesentlich zur Vermehrung fanatisierter Hirne und zur unkontrollierbaren Bedrohung der Menschheit beigetragen. Mit inzwischen unabsehbaren Folgen. Die globale Hilf- und Ratlosigkeit der Regierenden ebenso wie die Sorgen und Ängste der Regierten waren vermutlich nie zuvor so offenkundig wie im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Wie es weitergehen könnte, weiß derzeit wohl niemand.

Alte Frage – neue Bedeutung

Wie steht es um die Zuständigkeit der Religionen für die Dinge dieser Welt? Geht es da – mit oder ohne Gottesbezug – vornehmlich oder ausschließlich um die „übergeordneten“ Themen, um „Transzendenz“, ums „Jenseits“, um das, was „danach“ kommen könnte? Oder gibt es daneben nicht doch auch Mitverantwortung, Aufgaben schon für hier und heute?

Die Frage scheint de facto längst beantwortet. Immer schon waren religiöse Überzeugungen verknüpft mit Vorschriften und Regeln für irdisches Verhalten. Leider allzu häufig auch mit dem Anspruch, Andersdenkende – am liebsten den jeweils „ungläubigen“ Rest der Welt – den eigenen Maßstäben zu unterwerfen. Daran hat sich auch in unseren global-digitalen, blindwütig „fortschrittlichen“ Zeiten wenig geändert. Die großen Religionen, die drei „monotheistischen“ voran, trennen sich nur zögerlich von ihren tradierten Alleinvertretungsansprüchen und können deshalb leicht missbraucht werden. Ihr Angebot ausschließlicher göttlicher „Wahrheiten“ wird in Zeiten wachsender Orientierungsverluste zum verführerischen Argument und rechtfertigt bei Bedarf auch Mord und Totschlag. Damit sind die Religionen zu einem wesentlichen, womöglich zum wichtigsten Teil der aktuellen Probleme geworden. Doch sie könnten auch zu einer Lösung beitragen.

Das ethische Potenzial der Religionen

Erstens: Die „Goldene Regel“ steht, wenn auch in unterschiedlichen Formulierungen, bei fast allen hoch im Kurs. Sie gilt – meist unter Bezug auf eine höhere Ordnung – als Voraussetzung für gelingendes Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Im Christentum heißt das Gebot: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“. Vergleichbare Grundaussagen finden sich im Judentum und im Islam und modifiziert auch in religiösen Gemeinschaften des Ostens. Sie könnten – freilich nur noch im Zusammenwirken (!) – tragfähige Voraussetzung sein für die Abwehr unmenschlicher und lebensfeindlicher Tendenzen, die sich scheinbar unaufhaltsam ausbreiten. Ein allseits akzeptiertes ethisches Fundament könnte die Religionen befähigen, sich unbeschadet ihrer theologischen, geistig-geistlichen, spirituellen und sonstigen Unterschiede einzusetzen für ein Denken und Verhalten, dessen Grundlage und Ziel die Menschen sind, mit ihren Bedürfnissen und ihrer Würde.

Würden sie sich zusammentun, wäre die Breitenwirkung der Religionen kaum zu übertreffen.

Zweitens: Die Breitenwirkung der Religionen wäre, auch wenn nicht alle „mitmachen“, weltweit (noch!) unüberhörbar für gemeinsame Voten. Gefährliche politische Fehlentwicklungen könnten ebenso hinterfragt werden wie die Macht- und Monopolansprüche der Konzerne und Finanzmärkte. Gewalt und Unmenschlichkeit ließen sich eindämmen und womöglich austrocknen. Wenn die Religionen imstande wären, in einigen (über)lebenswichtigen Fragen zusammen zu wirken, könnten sie sehr wohl die Welt verändern.

Religionsfriede und Völkerfriede

  • Die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (1948) zielte nicht nur auf innerchristliche Annäherungen, sondern ausdrücklich auch – vielleicht sogar in erster Linie – auf die Mitwirkung der Christenheit bei der Gestaltung einer „verantwortlichen Gesellschaft“. Der ökumenische Dreiklang „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ gilt bis heute als wichtigste Forderung weit über kirchliche Grenzen hinaus.
  • Der hartnäckige Einsatz des katholischen Theologen Hans Küng für ein umfassendes „Weltethos“ hat weltweite Beachtung und Anerkennung gefunden. Küngs Mahnung: „Ohne Frieden zwischen den Religionen kein Frieden zwischen den Nationen“ ist unbestritten. Viele Gruppen und prominente Einzelne unterstützen die zugrunde liegenden Ziele; eine Stiftung sichert den Bestand, die internationale Aufmerksamkeit und die Weiterarbeit.
  • Hundertachtunddreißig angesehene islamische Gelehrte haben 2007 einen offenen Brief an alle führenden Vertreter der christlichen Kirchen geschickt, in dem sie unter Verweis auf das „Doppelgebot der Liebe“ um Überwindung wechselseitiger Feindseligkeit werben und um Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen. „Gemeinsam machen wir 55% der Welt-bevölkerung aus,“ heißt es darin, „und damit ist die Beziehung zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften ein wichtiger Faktor, um zu einem bedeutungsvollen Frieden auf der ganzen Welt beizutragen. Lasst uns einander respektieren, lasst uns fair, gerecht und freundlich zueinander sein, lasst uns einen echten Frieden in Harmonie und gegenseitigem Wohlwollen miteinander leben …“.
  • Die Forderungen nach interreligiösem Dialog sind nicht immer, aber immer häufiger verknüpft mit dem Wunsch nach Aktivierung und Durchsetzung ethischer Maßstäbe.

Hemmender Streit über theologische Differenzen aussetzen

Diese Beispiele könnten leicht vermehrt werden. Aber sie kommen viel zu langsam voran. Weil auch ihre Protagonisten sich immer noch vorrangig in theologische Unterschiede verbeißen, statt sich über gemeinsame weltpolitische Aufgaben zu verständigen. Bislang sind alle Bemühungen in dieser Richtung gescheitert oder nach ein paar Schritten versandet. An Beifall fehlt(e) es nirgends. Aber die Angst vor dem Verlust der jeweils eigenen Identität, der dogmatischen Festlegungen und womöglich gar des eigenständigen Gottesbildes hat bisher unüberwindliche Hürden aufgebaut. Hinzu kommt die Zersplitterung in (häufig besonders ideologieanfällige) Gruppierungen und Konfessionen. Rechnet man dazu noch die Sorge um den jeweiligen Machterhalt und den von allgemeinen Verunsicherungen genährten, allenthalben unduldsam wuchernden Fundamentalismus, dann ist die Hoffnung auf weitreichendes Umdenken sehr gering.

Hartnäckig hält sich dagegen die Abwehr unbequemer „Hirngespinste“ und realitätsferner „Utopien“. Wer wollte auch, bei einiger Sachkenntnis und mit nüchternem Blick auf die Welt darauf setzen, dass die disparaten und eifrig einander bekämpfenden Glaubensrichtungen ihre Unterschiede außen vor lassen und sich zusammenfinden, um ein ihnen gemeinsames Bild des Menschen zu verteidigen? Soviel neues Denken gilt als unmöglich. Die Erfahrung lehrt stattdessen, dass die Bereitschaft, „notwendige Abschiede“ (K-P. Jörns) von Althergebrachtem zuzulassen, in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Solange aber die Mehrheit der jeweils Tonangebenden die Bewahrung ihrer Botschaften für wichtiger hält als ihre Bewährung, haben wirksame Korrekturen des Bestehenden keine Chance.

Zweckbündnisse schmieden, das heute Mögliche schrittweise umsetzen

Aber muss deshalb die Idee als solche verworfen werden? Darf angesichts zunehmender Gefährdungen die Hoffnung auf ein Zusammenwirken der Religionen zum Segen der Menschheit abgeschrieben werden, nur weil sie derzeit noch unerfüllbar erscheint? Wahrscheinlich wird der Einsatz aller Religionen und religiösen Gruppierungen für gemeinsame ethische Ziele immer eine Utopie bleiben. Es ist aber weder verboten noch undenkbar, dass einzelne Kirchen und Religionsgemeinschaften Zweckbündnisse eingehen, um einem als richtig und notwendig erkannten Ziel wenigstens in einzelnen Schritten näher zu kommen. Beispielhaft und in der Zuversicht, dass andere sich anschließen und so eine Breitenwirkung entsteht, die nicht übersehen werden kann.

Deutschland wäre ein besonders geeignetes „Experimentierfeld“ für ein Zweckbündnis der Religionen.

Deutschland wäre dafür ein besonders geeignetes „Experimentierfeld“. Eine Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Protestanten könnte leicht intensiviert werden, zumal die derzeitigen „Chefs“ – der Vorsitzende der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz und der EKD-Ratsvorsitzende – bereits gute einschlägige Kontakte pflegen. Kardinal Marx gehört überdies zum engen Mitarbeiterstab von Papst Franziskus, der sich bekanntermaßen für die hier anstehenden Themen energisch und unmissverständlich einsetzt.

Auch für die Zusammenarbeit mit anderen Religionen wären die Voraussetzungen nicht schlecht. Die christlich-jüdischen Beziehungen sind intakt, und wichtige Gruppen des Islam sind gesprächsbereit. Sie werden außerdem ergänzt durch namhafte islamische Wissenschaftler, Politiker und Publizisten, die vielbeachtete Beiträge leisten zum Verständnis des Islam als einer auch für zeitgemäßes Denken und Handeln wichtigen Religion.

Zusammenarbeiten und Vertrauen bilden

Organisierte Zusammenarbeit der Religionen könnte zur Bewältigung der akuten Probleme effektiv und hilfreich sein, z.B. ein systematisches Angebot von unentgeltlichem Sprachunterricht durch Menschen unterschiedlichen Glaubens in Flüchtlingsunterkünften oder -heimen. Das würde den Behörden Geld und den Asylsuchenden viel Zeit sparen bei der Integration, könnte Türen öffnen und Vertrauen schaffen. Ebenso wichtig wäre auch, dass z.B. Jugendgruppen sich gezielt öffnen für anders- oder „nichtgläubige“ Mitglieder.

Und jenseits des Zauns brauchen die Machtkämpfe zwischen Riad und Teheran sowie die äußert schwierigen Verhältnisse in den „Herkunftsländern“ (wie Syrien) sehr viel deutlicher als bisher ideelle und „glaubens“-politische Vermittlung und Hilfe von den „vernünftigen“ Mehrheiten der streitenden Religionen, – gemeinsam und über Grenzen hinweg.

Das alles und einiges mehr wird längst in den Führungsgremien fast aller Seiten bedacht, gefordert und immer neu beschworen. Zur Umsetzung freilich ist mehr nötig. Da braucht es zuerst den Mut zum Umdenken und dann die Bereitschaft, die Energie und die Fähigkeit, alte Strukturen zu durchbrechen und neue Methoden des Umgangs zu entwickeln.

Handeln jetzt

Bleiben also doch nur Wunschträume – unrealistisch und ein bisschen naiv, und deshalb nicht bedenkenswert? Die Vergeblichkeit der vielen Überlegungen und Forderungen, die es dazu schon gegeben hat und gibt, erlaubt wenig Hoffnung auf wirksame Korrekturen und auf die Überprüfung derzeitiger Prioritäten. Beides wären aber unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass die Religionen ihre Aufgaben an und in der Welt von heute erkennen – und wahrzunehmen wenigstens versuchen.

Dass unsere Welt in allen Fugen knirscht, ist nicht neu, und die dramatischen Zuspitzungen der jüngsten Zeit überraschen nicht. Auch die Fragen nach dem Auftrag der Religionen sind nicht neu. Aber es ist höchste Zeit, sich ihnen – endlich – ernsthaft zu stellen.

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Hans-Joachim Girock: Sind die Kirchen noch zukunftsfähig? Bestandsaufnahme und Herausforderung. Ein journalistischer Diskussionsbeitrag. BoD 2015, 194 S.

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