Gott schickt nicht in Rente Ein Zwischenruf

Der Schritt aus der Berufsarbeit, der Übergang in den dritten Lebensabschnitt, ruft ganz offenbar die unterschiedlichsten Altersbilder in uns wach. Doch scheint durch das Rentensystem nicht erst mal alles eindeutig vorgegeben zu sein?

In einer Ausstellung über die sozialen Sicherungssyteme fand ich dazu Folgendes: „Die soziale Absicherung soll bewirken, dass wir keine Angst vor dem Alter, vor Verarmung und Pflegebedürftigkeit haben müssen. Solange wir gesund und fit sind, können wir im Alter noch viel Positives erleben und auch noch viel tun; für unsere Familie, für unser Umfeld, die Gemeinschaft. Irgendwann werden wir von Gebenden zu Nehmenden. Das ist für viele nicht leicht. In einer solidarischen Gesellschaft können wir uns darauf verlassen, dass für unser Alter gesorgt ist.“

Ältere haben mehr im Kopf als Freizeit

Das soll beruhigen, vielleicht auch ermutigen, aber ein Satz hat mich doch irritiert: „Irgendwann werden wir von Gebenden zu Nehmenden.“ Diese Erfahrung ist doch nicht dem Alter vorbehalten! Der Satz zeichnet das Bild einer Erwerbsgesellschaft, die das Geben den Starken und Fitten, eben den Erwerbsfähigen vorbehält – und das Nehmen entsprechend den Kindern, Kranken und Alten. Ich bin sicher, auch Sie wissen, dass Sie, wenn Sie jung sind, keinesfalls nur geben, sondern auch oft nehmen – das Glück, das Ihnen Ihre Kinder geben, aber auch die Unterstützung, die Ihnen Ältere, Ihre Eltern vielleicht oder auch andere, schenken. Und als Ältere wissen Sie, welchen Beitrag Sie leisten, in der Familie oft völlig selbstverständlich und kaum thematisiert, häufig auch im Freundeskreis, in der Gemeinde oder in anderen Zusammenhängen, ganz egal, wie fit Sie sich fühlen.

Statistisch gesehen haben wir in den letzten hundert Jahren 10 gesunde Jahre dazu gewonnen. Das hat Konsequenzen für die Gestaltung unseres persönlichen Lebens, aber eben auch für die Sicherungssysteme und unsere Vorstellung vom Arbeiten. Schon ist mit Blick auf die 68er-Generation, die jetzt in Rente geht, von „Power-Agern“ die Rede. Und die Vorstellung, die nächsten zwanzig Jahre mit Freizeitgestaltung zu verbringen, finde nicht nur ich persönlich schwierig. Sie ist auch gesellschaftspolitisch fragwürdig – wegen des demografischen Wandels, der die Erwerbsarbeit verändern muss, aber auch weil bei den älteren Menschen in der Dritten Lebensphase enorme zivilgesellschaftliche Potentiale schlummern.

Träume für eine bessere Welt

So sehr wir stolz sein können auf die solidarische Rentenversicherung – historisch ist sie sehr jung. In der Bibel spielt lediglich die Aufforderung eine Rolle, die alt gewordenen Eltern zu ehren und zu versorgen („Du sollst Vater und Mutter ehren…“). Ganz selbstverständlich nehmen die Alten in biblischer Zeit intensiv teil am Leben der Gemeinschaft. Als Maria und Josef ihren erstgeborenen Sohn zur Beschneidung in den Tempel bringen, begegnen sie Hannah und Simeon. Einer alt gewordenen, kinderlosen Frau und einem Propheten, der damit leben muss, dass seine Kämpfe umsonst gewesen waren, dass seine Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Nicht Armut und auch nicht Pflegebedürftigkeit sind hier das Thema, sondern die Fragen nach Lebenssinn, nach Erfüllung und Enttäuschungen. Simeon sieht das Jesuskind und findet in ihm, wonach er Ausschau gehalten hat: ein Hoffnungszeichen. Er nimmt Marias Sohn auf den Arm wie ein eigenes, lang erwartetes Kind; ich sehe ihn vor mir in dem Bild von Rembrandt, in dem das Licht von diesem Kind ausstrahlt. „Jetzt also kann ich in Frieden gehen“, sagt Simeon, „denn ich habe den Erlöser gesehen – mit meinen eigenen Augen.“ Es gibt sie auch in der Bibel, diese alten Menschen, diese glücklichen alten Menschen, die noch Träume haben. Nicht nur für sich selbst – sondern eben auch für diese Welt!

Anteil zu nehmen am Leben der Jüngeren und etwas weiterzugeben, das ist für die allermeisten alten – und auch für die sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Dieses Ergebnis der Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg wird nur diejenigen überraschen, bei denen der demografische Wandel vor allem mit Bildern von Alter als Belastung verbunden ist. Oft ist dann auch das eigene Altwerden negativ belegt. Tatsächlich aber empfinden 76 Prozent der befragten 80- bis 99-Jährigen Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen Menschen, 61 Prozent im Engagement für andere Menschen. Und 60 Prozent haben das Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht und geachtet zu werden – vor allem von den jüngeren Generationen. 85 Prozent beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generationen in der eigenen Familie. Übrigens liegt – allen Vorurteilen und Ängsten zum Trotz – das Risiko, pflegebedürftig zu werden, selbst bei den 80- bis 99-Jährigen nur bei 28,8 Prozent.

Über das persönliche Leben hinausdenken

Der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift „Psychologie heute“, Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität und sagt, sie sei „unser Zukunftssinn. Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein, Wissen und die eigenen Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen und etwas weiter zu geben“ – und sie hängt nicht davon ab, ob wir eigene Kinder zur Welt bringen. Generativität gibt Antwort auf zwei Fragen: Wie geht es mit mir weiter? Und: wie geht es mit meinem Umfeld weiter?

Generativität könnte die Schlüsseltugend für das 21. Jahrhundert werden.

Generativität, so Ernst, könnte die Schlüsseltugend für das 21. Jahrhundert werden. Schon heute sind Großeltern nach Aussage der Jüngeren eine wichtige Stütze für junge Familien, sie springen mit Geld, aber auch viel mit praktischer Hilfe ein, wenn die Belastungen aus Arbeit und Familie die mittlere Generation an den Rand ihrer Kräfte bringen. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen den Generationen sind jenseits von Rente und Hartz IV eine wesentliche Ressource zur Sicherung von Lebensrisiken und Lebensqualität – nicht nur der alten, sondern eben auch und gerade der jungen Generation. Denn das materielle und das immaterielle Generationenerbe, das Ältere einzubringen haben, ist erheblich.

Der Franziskanerpater Richard Rohr hat ein Buch über die spirituelle Reise der zweiten Lebenshälfte geschrieben (Reifes Leben. Herder Verlag, 2. Aufl. 2015): „Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurück zu geben“, sagt er. Mit Carl Gustav Jung erinnert er daran, dass es in der ersten Lebenshälfte darum geht, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber sei die Herausforderung, noch einmal frei zu werden, frei von Zwängen, frei für andere. Wissend frei, weil wir ein neues Gefühl für Grenzen und Begrenztheit auch unserer Zeit haben.

Eine neue Lebenschance: Frei werden von Rollen

Für die Älteren selbst steckt darin auch ein eigenes Lebenspotential: Älterwerden hält noch einmal neue Entwicklungs- und Veränderungschancen bereit. Wir müssen nicht mehr funktionieren. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, sich in Organisationen einzupassen oder sich mit Rollen zu identifizieren, jetzt geht es darum, ganz Person zu sein, wir selbst zu werden. Um diese Aufgabe zu verstehen, brauchen wir einen erweiterten Produktivitätsbegriff. Nicht nur der Erfolg gebiert den Erfolg, auch die Auseinandersetzung mit Verlusten, mit Scheitern und Endlichkeit macht produktiv. Das verlangt allerdings, dass wir unseren Charakterpanzer ablegen und uns zu unseren Verletzungen und Grenzen bekennen. Es geht jetzt nicht nur um das, was ich nicht mehr kann, sondern auch um das, was ich nicht mehr will – und was vielleicht für uns alle nicht gut ist.

Das ist die Botschaft, die gerade die weitergeben können, die in Rente sind: „Gott schickt nicht in Rente.“ Das Leben schickt uns in neue, offene Räume – endlich heraus aus den alten Käfigen.

Unseren Panzer aufbrechen

Mit solcher Ehrlichkeit, die leichter fällt, wenn man schon viel Leben hinter sich hat, können ältere Menschen – wie die ganz Jungen – Pioniere der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ein gutes Leben und nachhaltiges Wirtschaften sein. Davon profitieren alle – nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Angehörigen und Freunde. Viele Menschen suchen Mentoren und Ratgeber, die Lebenserfahrung einbringen, aber keine eigenen Aktien und Interessen mehr im Spiel haben, die frei von Loyalitäts- und Konformitätsdruck auf das Ganze sehen können, die sich mit den eigenen Fehlern und Umwegen ausgesöhnt haben und deswegen auch andere vorurteilsfrei begleiten können. Die Frage, wohin wir letztlich unterwegs sind, lässt sich gerade in Aufbrüchen nicht ausklammern.

In dem bekannten Gedicht von Hermann Hesse klingt das so:

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn Herz, nimmt Abschied und gesunde.

Vielleicht ist es gerade die bewusste Wahrnehmung unserer Endlichkeit, die Glauben und Leben Tiefe gibt.

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