Wahrheit in Beziehungen Vom Umgang mit dem 8. Gebot an Kranken- und Sterbebetten

Die Wahrheit kann nicht nur frei machen, sie ist manchmal auch eine schwere Zumutung. Auf welche Weise sie für Menschen in Grenzsituationen ihr Befreiungspotenzial entfalten kann, hat mit Empathie und Glauben zu tun.

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch fragt in einem seiner Tagebücher: „Wenn Sie jemand in einer unheilbaren Krankheit wissen: machen Sie ihm dann Hoffnungen, die Sie selber als Trug erkennen? Und: Was erwarten Sie im umgekehrten Fall?“ (Tagebuch 1966–1971, suhrkamp taschenbuch 4242, S. 181).

In unterschiedlicher Intensität haben wir in den vergangenen Jahrzehnten unseres Lebens mit diesen beiden Fragen existenziell und theologisch gerungen. Ganz intensiv etwa bei der Begleitung unserer Tochter Meike in der Zeit ihrer Krankheit und ihres Sterbens. Und verstärkt dann wieder seit dem Sommer 2014 in der Auseinandersetzung mit einer aggressiven Krebserkrankung und der eigenen Sterblichkeit. In diesem Ringen um Wahrheit und Lüge in Grenzsituationen des Lebens haben wir erfahren: Zeiten von Krankheit und sogar die Zeit des Sterbens können eine bereichernde Lebenszeit sein – für Kranke, für Sterbende und für Begleitende.

Leidenszeit – Beziehungszeit

Wenn wir uns an Kranken- und Sterbebetten der Wahrheitsfrage stellen, dann können diese Lebensphasen zu einer bedeutsamen Beziehungszeit zwischen Menschen in einer unheilbaren Krankheit und ihren Nächsten werden. Wir verpassen diese bedeutsame Beziehungszeit, wenn wir uns selbst und einander mit Lug und Trug davon abhalten, uns wahrhaftig mit der Verletzlichkeit und der Endlichkeit unseres Lebens und unserer Beziehungen auseinanderzusetzen.

Worum aber geht es bei der Wahrheitsfrage an Krankenbetten? Es geht, so meinen wir, um ein Entscheiden und Unterscheiden, welche Wahrheiten für Kranke und Sterbende heilsam und welche zerstörend sind. Es geht um ein „die Wahrheit sagen“, ohne den Sterbenden und uns in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu stürzen. Und es geht um die lebensdienliche Bedeutung, die an Kranken- und Sterbebetten das achte Gebot haben kann: ‚Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten‘ (2. Mose 20,16).

Lebendige Beziehung – lebendige Wahrheit

Von Dietrich Bonhoeffer ist uns ein fragmentarischer Aufsatz „Was heißt die Wahrheit sagen?“ überliefert. Bonhoeffer schrieb ihn gegen Ende des Jahres 1943 in seiner Tegeler Gefängniszelle. Bonhoeffer war also bei seiner theologisch-existenziellen Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage nicht durch eine tödliche Krankheit, aber doch mit einer tödlichen Bedrohung des eigenen Lebens und mit Ängsten um das Leben von Mitverschwörern konfrontiert. Bonhoeffers in dieser Grenzsituation formuliertes Wahrheitsverständnis scheint uns wegweisend und lebensdienlich bis heute und gerade auch an Kranken- und Sterbebetten. Dietrich Bonhoeffer plädiert für eine kontextuelle, konkrete und lebendige Wahrheit. Er schreibt:

Das wahrheitsgemäße Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern ist so lebendig wie das Leben selbst. Wo es sich vom Leben und von der Beziehung zum konkreten anderen Menschen löst, wo die ‚Wahrheit gesagt wird‘ ohne Beachtung dessen, zu dem ich sie sage, dort hat sie nur den Schein, aber nicht das Wesen der Wahrheit. Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise ‚die Wahrheit zu sagen‘, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt. (D. Bonhoeffer, Fragment eines Aufsatzes: Was heißt die Wahrheit sagen? In: C. Gremmels, W. Huber (Hg.), Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Band 6, Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 143–152, Zitat S. 146, weitere: S. 145 u. 151).

Wahrheit – Mitmenschlichkeit – Wirklichkeit

Für Dietrich Bonhoeffer hat sich eine wahrheitsgemäße Rede der Realität zu stellen: „Das Wirkliche soll in Worten ausgesprochen werden.“ Ein wahres Wort widerspricht also der trügerischen und bequemen Realitätsflucht. Aber für Bonhoeffer ist jede wahrheitsgemäße Rede eingebettet in Beziehungen und hat deshalb eine doppelte Verantwortung: „Weil es in jedem Wort immer um die doppelte Beziehung zum anderen Menschen und zu einer Sache geht, darum muss diese Beziehung in jedem Wort ersichtlich sein, ein beziehungsloses Wort ist hohl; es enthält keine Wahrheit.“

Wahrheit und Lüge an Kranken- und Sterbebetten – diese Frage hat im Blick auf Gott und Menschen für Bonhoeffer damals und für uns heute ganz wesentlich mit Beziehungen zu tun. Mit den Gottes-Beziehungen der Kranken, der Sterbenden und der sie Begleitenden. Und mit unseren zwischenmenschlichen Beziehungen an den Kranken- und Sterbebetten. Ob und wie das Wahrheit-Sagen im Blick auf negative Untersuchungsergebnisse und hoffnungslose medizinische Prognosen ertragen werden kann, hängt nach unseren Erfahrungen und nach unserer Überzeugung entscheidend an den Fragen: Haben wir in unserer Gottesbeziehung eine Hoffnung über den Tod hinaus? Und können wir diese Hoffnung auch am Kranken- und Sterbebett einander mitteilen und miteinander teilen? Wagen wir in unseren Beziehungen das Teilen von Gefühlen, auch von Ängsten, Zorn und Verzweiflung? Berühren wir uns und halten wir einander fest, auch wenn uns die rechten Worte fehlen oder Trostworte in Tränen ersticken?

Wirklichkeit – Empathie – Verantwortung

An Kranken- und Sterbebetten einander Wahrheiten zuzumuten, ohne Empathie und ohne innere Bereitschaft, sich in Beziehung miteinander den Auswirkungen der Wahrheiten zu stellen, das entbehrt für uns jeder moralischen Legitimität. Und ein solches ‚die Wahrheit sagen‘ kann sich unseres Erachtens nicht auf das achte Gebot berufen. Aber aus Angst, Bequemlichkeit und dem Wunsch nach Distanzierung die Wahrheit an Kranken- und Sterbebetten zu verdrängen, sich selbst und einander mit trügerischen Hoffnungen zu beschwichtigen, das halten wir schon für einen lebensfeindlichen Verstoß gegen das achte Gebot.

Nach unseren Erfahrungen kommt es darauf an, schon in gesunden Tagen eine Lebenshaltung zu entwickeln und ein Beziehungsnetz zu spinnen, die uns Menschen dann auch mit einer tödlichen Krankheit und auch in der Begleitung von tödlich erkrankten Menschen wahrhaftig und zugleich hoffnungsvoll leben lassen. Es geht dabei um eine Lebenshaltung, die uns immer neu dazu inspiriert, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren, mit dem Tod geliebter Menschen weiter zu glauben, zu lieben und zu hoffen und uns einem realistischen und zugleich empathischen Umgang mit Sterbenden zu stellen. Wir sind davon überzeugt: Menschen verpassen Wesentliches, wenn sie schmerzliche Grenzerfahrungen wie Krankheit und Kranke, Sterben und Sterbende in ihrem Leben und aus ihrem Leben verdrängen. Wenn sie die Wahrheit an Krankenbetten meiden, fürchten und leugnen. Und wenn sie so jede bewusste und wahrhaftige Auseinandersetzung mit der Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens für sich und in ihren Beziehungen vermeiden.

Für diese Auseinandersetzung aber brauchen wir Menschen nachhaltige und widerständige Kraftquellen. Solche Quellen, die für den wahrhaftigen Umgang mit unserer Endlichkeit immer neu Kraft, Trost und Hoffnung schenken, sind für uns verlässliche Liebes-Beziehungen und ist für uns das Vertrauen auf Gottes Lebens-Macht, die stärker ist als der Tod.

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