Claudius, Walter, Bach Musik und Reformation

Dem musikalischen Meister-Biografen Martin Geck – „einer der letzten Universalgelehrten der deutschen Musikwissenschaft“ – wird „beflügelter Protestantismus mit unverkennbarer Achtundsechziger-Einfärbung“ zugeschrieben. Ein Gespräch über moderne Lieder, das Claudius’sche „Der Mond ist aufgegangen“ und das Musik-Ereignis Reformation.

Ab und zu genügt schon ein Titelverzeichnis, um die Bedeutung eines Lebenswerks zu demonstrieren. Beim Dortmunder Musikwissenschaftler Martin Geck liest sich das so: Von den über zwölf Musikerbiografien erschienen Johann Sebastian Bach in 11 Auflagen, Ludwig van Beethoven in 10, Richard Wagner in 4, Bach-Söhne in 3, Mendelssohn Bartholdy in 4 Auflagen. Für die viel beachteten Porträts, auch zu Mozart, Schumann, Matthias Claudius und Brahms, heimste er etliche Literaturpreise ein. Allein die Bach-Biografie erschien in über zehn Sprachen.

Insofern ließ es sich als Adelung und Ritterschlag verstehen, als der „eingefärbte“ „68er“ (Frankfurter Rundschau) mit Luthers Lieder. Leuchttürme der Reformation ein Buch zum Jubiläumsjahr veröffentlichte (Olms-Verlag, 22017) – wenn das denn noch nötig gewesen wäre. Aber nein, der protestantische Einfluss auf die Musikgeschichte ist ja unbestritten, die Kirchenmusik an erster Stelle.

Geschenk des Glaubens

Der Autor geht dem in elf Kapiteln nach. Er analysiert einzelne Lieder. Und gewährt Ausblicke hin zu Heinrich Schütz, J.S. Bach oder Felix Mendelssohn Bartholdy. Trotz überschaubaren Umfangs kann der Beitrag Gecks materialiter als einer der gewichtigsten im Lutherjahr bezeichnet werden, theologisch und musikhistorisch. Wie ja insgesamt zum Themenfeld Musik und Reformation 2017 eine reiche Ernte einzufahren war.

Denn genauso wie  zu Reformation und Kunst (vgl. evangelische aspekte 4/2017) oder in den Debatten zu Reformation und Kapitalismus (evangelische aspekte 1/2018) neue Forschungsbeiträge und -kontroversen zu verzeichnen sind, kleine oder größere Aufbrüche, zeigte sich im Reformationsjahr die Vielseitigkeit evangelischer Musikkultur in ganzer Vitalität und Breite.

In der Universitätsstadt Tübingen etwa fanden wie seit Jahren so auch 2017 Motetten und Kantatengottesdienste konstant hohen Zuspruch, mit Bachs Werken nicht weniger als mit Pachelbel oder Johann Walter. Und zur Erschließung der Wirkungs- und Druckgeschichte von Luthers Liedern bescherte das Reformationsjahr z.B. eine neue wissenschaftliche Edition sämtlicher Lieder durch Jürgen Heidrich und Johannes Schilling (Martin Luther. Die Lieder. Reclam- u. Carus-Verlag 2017; ähnlich im Ortus-Verlag von Hans-Otto Korth; gut greifbar sind alle Texte auch in der neu aufgelegten populären Insel-Ausgabe Martin Luther. Ausgewählte Schriften. Bd. 5, 2017).

Als Alttestamentler und Bibelübersetzer setzt Luther auf die Kraft der Psalmen – erschafft auf diese Weise die Gattung des deutschen Psalmlieds (Ps 130, Ps 67, Ps 46…) und stiftet somit dem Protestantismus als fortdauerndes Erbe die altjüdischen Texte bleibend bis in die Mitte des evangelischen Gottesdienstes ein. Seine Wiederentdeckung des Glaubens als Geschenk, des getrosten Gottvertrauens und der Barmherzigkeit anstatt kasuistischer Gesetzlichkeit verpflanzt und gießt er so in eine auch für Laien verständliche und nachsingbare Sprache.

Vertontes Gottvertrauen

Auslöser für Luthers Liedschaffen war bekanntlich der frühe Märtyrertod zweier Lutheraner (Verbrennung 1523 in Brüssel). Nicht nur deshalb kreisen viele Lieder um Trost und Zuspruch, Hoffnung, (Todes-)Überwindung (Ostern). Gerade die Lieder zum Kirchenjahr handeln dabei ebenso von „Aufbruch“ oder „Kraft von oben“ (Pfingsten) wie von Trauer, Angefochtenheit und Leiden (Passion, Karfreitag).

Bei 37 Liedern wird heute Luther textlich oder als Komponist die Verfasserschaft zugeschrieben, wie „Verleih uns Frieden“, „Nun bitten wir den Heiligen Geist“, „Mitten wir im Leben sind“, „Es wolle Gott uns gnädig sein“. Mit den Lied-Themen ist zugleich ein Qualitätskriterium zur bis heute immer wiederkehrenden Frage gegeben, was ein gutes, rezeptionsfähiges Kirchenlied ausmacht: Musik und Text sollten schlicht der Sache angemessen sein – d.h. gehaltvoll und dem Inhalt würdig.

„Luthers Lieder sind Weltliteratur“ (Johannes Schilling), „wahre Kunstwerke“ (Patrice Veit). Entsprechend hat es auch 2017 an Aufführungen und Adaptionen nicht gefehlt. Als CD-Einspielung sind „Luthers Lieder“ sowie Vertonungen von Praetorius bis Bach erhältlich mit Texten von Joachim Gauck, Walter Steinmeier u.a.m.

Ob also zigtausende SängerInnen in Chorkonzerten und Oratorien, ob mit dem Vortrag von Ein feste Burg ist unser Gott um 15:17 Uhr am 31.10.2017 auf über 1517 Marktplätzen durch Blechbläser- und Posaunenchöre: Musikalisch aktiv, kreativ und produktiv sind Evangelen auch noch heute; bei zeitgenössischen Kindermusicals (z.B. durch Erhard Eppler), beim Engagement von Profimusikern wie Gunther Emmerlich oder Klaus Meine, bei Uraufführungen von Jörg Herchet oder von Michael Schütz auf dem Kirchentag in Potsdam.

1. Herr Professor Geck, „Musica ist ein göttliches Geschenk“, sagt Luther; in Lübeck eröffnete öffentliches Singen die kirchliche Erneuerung. Warum ist das gesungene Wort für die Reformation so bedeutsam?

Man kann das gut an dem Luther-Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ zeigen. Das sangen im Jahr 1529 in Göttingen einige Wollenweber, die sich anlässlich der üblichen Prozession zum Bartholomäustag vor dem Haus des Wollenwebers Bock versammeln, um sich mit diesem Lied in die Prozession einzureihen – natürlich in protestierender Absicht.

Die meisten dieser Weber konnten sicherlich nicht lesen, deshalb werden auch kaum viel Einblick in die Schriften Luthers gehabt haben. Sie gehörten vielmehr zu einem eher verachteten Berufsstand, hatten schwer um ihr tägliches Brot zu kämpfen. Wenn diese Leute „Aus tiefer Not“ anstimmten, ging es ihnen vielleicht auch um Gewissensnot, zunächst aber um ihre leibliche Not. An wen sollten sie sich da wenden? Kirche und Obrigkeit halfen nicht; aber da gab es ja einen Doktor Martinus Luther, der seit einem Jahrzehnt von der Freiheit eines Christenmenschen predigte, jedoch von der Kirche in den Bann getan worden war. Vielleicht konnte der helfen, vielleicht predigte der jene Barmherzigkeit, an der es die etablierte Kirche fehlen ließ? Die Webergesellen hatten auf ihrer Wanderschaft da so einiges aufgeschnappt. Und sie hatten einige Luther-Lieder auswendig gelernt. Die sangen sie nun wie Protestlieder – selbst nicht wissend, was dabei herauskommen würde. Sie wollten sich nicht nur etwas vorpredigen lassen, sondern selbst aktiv werden; und dafür kam überhaupt nur das kollektiv gesungene Lied in Betracht.

Wenn man sagt, die Reformation sei ersungen worden, so gilt das weniger für zahmen gottesdienstlichen Gesang, denn der klappte anfänglich oft noch sehr schlecht. Es trifft vielmehr auf das Lied als öffentliches Fanal zu. Das konnte von Mund zu Mund gehen. Und die Melodie war wie ein Fluss, auf dem das Schiffchen des Textes schwimmen konnte – auch und gerade bei leseunkundigen Leuten.

1.1 Was ist typisch für Luthers Lieder?

Grob gesagt, lassen sich zwei Typen unterscheiden. Da sind zum einen die an der kirchlichen Tradition orientierten Lieder wie „Gelobet seist du, Jesu Christ“, die textlich wie musikalisch auf älteren Vorlagen beruhen; dazu zählen auch die zahlreichen Psalmlieder.

Luthers Lieder: über weite Strecken Psalmentheologie

Und dann gibt es Lieder durchaus innovativen Charakters, in denen Luther gleichsam dem Volk aufs Maul schaut. So folgt „Ein neues Lied wir heben an“ dem Typus des öffentlich gesungenen Marktliedes, ähnlich auch „Ein feste Burg“, wenngleich dieses Lied zugleich ein Psalmlied ist. „Nun freut euch lieben Christen g’mein“ ist dem Typus eines volkstümlichen Liebesliedes nachgebildet. „Vom Himmel hoch“ erinnert in seiner ersten Fassung nicht nur textlich, sondern auch musikalisch an ein „Kränzellied“, wie es die jungen Leute bei ihrem Zusammentreffen auf dem Dorfplatz sangen. Die spätere, heute bekannte Melodie zu „Vom Himmel hoch“ hat Luther offenbar aus eigenem Antrieb neu geschaffen: Womöglich war ihm gesagt worden, dass die ursprüngliche Weise zu sehr an den Brauch des Kränzelsingens erinnere. Das war ja in den Augen der Obrigkeit keineswegs nur harmlos, wurde vielmehr weidlich zum Flirten benutzt.

1.2 Wie wichtig waren der Einfluss des Torgauer „Urkantor“ Johann Walter oder des Münchner Komponisten Ludwig Senfl?

Mit Walter stand Luther in regem persönlichem Kontakt. Er nannte ihn seinen lieben Freund. Und er bekam von ihm sicherlich wichtige musikalische Anregungen, nicht zuletzt für die Gestaltung seiner „Deutschen Messe“. Zu Senfl gab es nur brieflichen Kontakt. Luther erbat sich von ihm eine Sterbemotette. Offensichtlich lag ihm daran, mit diesem zu seiner Zeit hochberühmten Komponisten auf Augenhöhe zu kommunizieren – natürlich in lateinischer Sprache.

2. Vom gregorianischen Gesang über Luthers Choral hin zu Heinrich Schütz, Bach oder Mendelssohns Reformationssinfonie: Was macht das „Sprachereignis Reformation“ auch zu einem Musikereignis?

Psalm 116, Vers 10 lautet: „Ich glaube, darum rede ich“. So strikt wie dieser Satz ist oft Luthers Rede. Und davon hat sich vieles auf die evangelische Kirchenmusik übertragen. Es geht nun nicht länger nur um eine schöne, wohlklingende Vertonung biblischer Worte, obwohl dies einem Luther durchaus genügt hätte, wie man an seiner Liebe zur Musik von Josquin Desprez sehen kann. Die Komponistengenerationen nach Luther entwickeln vielmehr den Ehrgeiz, ihrerseits akzentuiert in Tönen zu ›predigen‹.

Das bedeutet etwa für Heinrich Schütz, die biblischen Worte gleichsam in eine musikalisch direkte Rede zu überführen. Wenn Schütz das Psalmwort „Ich liege und schlafe, und erwache, denn der Herr hält mich“ vertont, so wird dem Hörer auch musikalisch ganz aktuell vorgeführt, was da passiert: Anfänglich ruht die Musik in sich, dann wird die lebhaft, indem die Melodie gleichsam aufspringt; schließlich kommt das Ganze in ein ruhiges Gleichgewicht, „denn der Herr hält mich“.

Bach ist da weniger spontan, dafür tiefgründiger: Er ›bedenkt‹ den Wortsinn des biblischen Textes noch vielschichtiger: Die Chorpartie über die biblischen Worte „Es ist der alte Bund, Mensch, du musst sterben“ aus dem „Actus tragicus“ kommentieren die Instrumente nonverbal mit der Kirchenliedweise „Ich hab mein Sach’ Gott heimgestellt“. In vielen mehrchörigen Psalmen von Felix Mendelssohn Bartholdy dominiert der Gestus der Anbetung. Das ist dem Gesang der Engel im Himmel nachempfunden. Auch Luther hörte ja bei ihn bewegender Musik die Engel im Himmel singen. Das Wunderwerk der Polyphonie vergleicht er mit einem himmlischen Reigen.

2.1 Richard Wagner meinte, dass „der Luther’sche Choral die Seele der Reformation gerettet habe vor dem Staub der Disputationen“. Dasselbe gelte im 18. Jahrhundert von Bach. Hat er recht?

Wagner hatte für solche Zusammenhänge ein gutes Gespür. In seiner Zeit herrschte in der evangelischen Kirche der Rationalismus – ungeachtet der gleichzeitigen Erweckungsbewegungen. Es war aber auch die Zeit des Historismus. Da konnten sich fromme und zugleich gebildete Menschen gleich in zweierlei Hinsicht an dem bewährten Alten à la Luther oder Bach freuen: In beiden Fällen ging es um sprachlichen und musikalischen Ausdruck, der kernig war, ohne sich gegen die Gefühlsebene des Glaubens abzuschotten.

2.2 Die Reformation bringt den Gemeindegesang, die Gattung des Psalmlieds und das illustrierte Gesangbuch hervor. Hat sie zuletzt auch den entscheidenden Beitrag zur „Karriere“ der fröhlichen Dur-Tonart in der Kirche und anderswo geleistet, oder wäre das übertrieben?

Was dem Lied in der Dur-Tonart geschichtlich vorausging, war nicht das Lied in „Moll“. Vielmehr bewegten sich die Liedweisen vor Luther im Rahmen der Kirchentonarten. Diese aber kannten keinen Gegensatz zwischen „Dur – Moll“ gleich „fröhlich – traurig“ oder gar „männlich – weiblich“. Doch es stimmt schon: Luther hatte bereits eine Art „Dur-Gefühl“. Und je länger je mehr gewann dieses Dur-Gefühl in der evangelischen Kirche die Überhand. Und daran ist Luther gewiss nicht ganz unschuldig gewesen.

3. In die Reihe evangelischer Lieddichter gehört auch Matthias Claudius mit Liedzeilen wie „‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg … – und ich begehre nicht schuld daran zu sein“ oder mit dem Erntedanklied „Wir pflügen und wir streuen“ (EG 508). Ist auch Claudius als ein Spross lutherischer Liedkunst anzusehen?

Sie sollten „Der Mond ist aufgegangen“ nicht vergessen. Dieses Lied hat Claudius dem Abendlied „Nun ruhen alle Wälder“ von Paul Gerhard nachgedichtet. Man kann sicherlich eine Linie von Luther über Nikolaus Herman, Philipp Nicolai, Paul Gerhard und Gerhard Tersteegen hin zu Claudius ziehen. Dieser hat sich übrigens sehr dafür eingesetzt, dass die traditionellen Kirchenliedtexte nicht im Sinne des Rationalismus ›modernisiert‹ würden. Als das in seiner Landeskirche trotzdem geschah, mochte er im Gottesdienst nur noch ungern aus dem neuen Gesangbuch singen. Damit man von diesem Widerstand nichts mitbekam, setzte er sich lieber auf die Empore.

3.1 Sie sprechen in Ihren Büchern als Angehöriger der 68er- und der Kriegsgeneration oft offen aus der Ich-Perspektive, von Rezensenten ab und an „bekrittelt“. Eine Wahlverwandtschaft zu Claudius, für den die Existenz „die erste aller Eigenschaften“ ist?

Was ich über Musik, aber auch was ich über Luther schreibe, will ich persönlich ›ausfüllen‹ können. Übrigens spiele ich fast jeden Abend vor dem Schlafengehen am Klavier „Der Mond ist aufgegangen“. Und morgens, nicht ganz so oft, aber immer nach dem gleichen Ritual: „Die güldne Sonne“, „Gott ist gegenwärtig“ und „Lobe den Herren“. Darunter ist also ausgerechnet kein Lutherlied. Doch das liegt vor allem daran, dass sich meine Frau in der Liedauswahl wiederfinden soll. Die stammt aus einem katholischen Elternhaus und hat jetzt Kontakt auch zu freikirchlichen Kreisen.

3.2 Auch Luther getraut sich im Lied „Nun freut euch lieben Christen g’mein“ freimütig in der Ich-Form zu singen.

Ja, das ist im damaligen ›öffentlichen‹ Kirchenlied ganz neu. Zuvor findet man es freilich schon in Dichtungen und Liedern, die der Mystik nahestehen. Luther erweist sich – gerade in „Nun freut euch lieben Christen g’mein“ – als genuiner Mystiker: „… denn ich bin dein, und du bist mein …“ heißt es in der 7. Strophe. Das ist typische Jesus-Minne.

3.3 In einer Mischung aus rationaler Skepsis und feinsinnigem Schabernack hat sich Matthias Claudius (1740-1815) manchen Spaß auf seine „aufgeklärte“ Zeit erlaubt und wollte doch als Dichter und „Wandsbeker Bote“ zu allgemeiner Bildung und Besserung beitragen. In dieser Haltung ein Vorbild für – zuweilen ebenfalls – heitere und aufmunternde (Kirchen-)Musik?

Ein weites Feld… Wer hätte etwas gegen aufmunternde Musik im Gottesdienst? Was sie in diesem Sinne wählen, müssen die Gemeinden nach ihren Möglichkeiten vor Ort entscheiden. Für mich wäre es freilich ein Verlust, wenn etwa Luthers Lieder dabei unter den Tisch fielen. Andererseits bringt es nichts, wenn sie kaum einer mehr kennt und deshalb auch nicht mitsingen kann. Mein Vorschlag: Man könnte Luthers Lieder im strophischen Wechsel mit ›neuen‹ Liedern singen. Der Kantor oder eine Sängergruppe singen die 1. Strophe „Nun freut euch lieben Christen g’mein“; und die ‘junge’ Gemeinde antwortet mit dem ‘Refrain’ „Mercy is falling“ usw.

Das Interview führte Manfred Schütz auf schriftlichem Weg.

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar