Gott als Weltmacht Und warum ist davon so wenig zu merken?

Das Vertrauen in die weltordnende Macht Gottes ist selbst bei vielen Christen längst brüchig. Die Welt scheint vielerorts in heilloser Unordnung und Gott weit weg. Was ist von ihm noch zu erwarten?

Von den 12-25-jährigen Bundesbürgern, die gläubig sind oder dem Glauben nicht ablehnend gegenüberstehen, stimmen nur 38,1 Prozent der Aussage zu, dass „Gott in den Lauf der Welt eingreift“. Ein größerer Anteil von 39,9 Prozent glaubt das hingegen nicht (15. Shell-Studie, 2006). Die Mehrheit der Befragten hängt also einer Überzeugung an, die in der Geistesgeschichte als „Deismus“ bezeichnet wird. Danach wird das Göttliche zwar für den Ursprung des Universums verantwortlich gemacht, sein aktuelles Wirken in der Welt aber bestritten. Gott „hat den Himmel zugemacht, ist abgereist, ist ganz weit weg und kümmert sich‘n Dreck“, beschreibt Udo Lindenberg diese Haltung – etwas weniger akademisch – in einem seiner Songs („Kleiner Junge“, 1983).

Alttestamentliches Vertrauen in Gottes Weltmacht

Ganz anders klingt das noch im Gesangbuch der ersten Christen, dem Psalter: „Alle Welt fürchte den HERRN, und vor ihm scheue sich alles, was auf dem Erdboden wohnet. Denn wenn er spricht, so geschieht‘s; wenn er gebietet, so steht‘s da“, bekennt z.B. Psalm 33,8f. Auch an zahlreichen anderen Stellen des Alten Testaments ist zwar nicht von „Allmacht“ die Rede – dieser Begriff spielt in der Bibel nur eine marginale Rolle –, aber doch von überaus großer, auch in die weltliche Sphäre hineinreichender Macht Gottes: „Er gibt die Fürsten preis, dass sie nichts sind, und die Richter auf Erden macht er zunichte“, heißt es z.B. in Jes 40,23. Und in Jes 45,7 bekennt sich Gott selbst zu seiner umfassenden Weltmacht: „der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der HERR, der dies alles tut.“

Die Lücke zwischen Erwartung und Wirklichkeit

„Es scheint indes, als seien sich die biblischen Menschen der Macht ihres Gottes nicht immer sicher oder über ihre Wirkungsweise nicht immer glücklich gewesen“, konstatiert allerdings auch der Alttestamentler Walter Dietrich in seinem Artikel „Allmacht Gottes“ im Wissenschaftlichen Bibellexikon WIBILEX: „Der Anspruch bzw. die Erwartung und die erfahrbare Wirklichkeit klafften allzu oft auseinander. Einzelne Gläubige litten unter der Ungerechtigkeit Mächtiger, Israel litt unter auswärtigen Mächten, Jhwh schien machtlos“ (www.wibilex.de/stichwort/13033/). So trifft Gott in Jes 51,9 die drängende Aufforderung: „Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des HERRN!“ und in Jes 63,15 gar die vorwurfsvolle Frage: „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?“

Vor der Theodizee-Frage

Diese Frage ist seither nicht mehr verstummt. Das Hiob-Buch formuliert sie angesichts der unverschuldeten Not seiner Hauptperson in immer neuen Wendungen, und bis heute bedrängt sie in Form der berühmten Theodizee-Frage auch viele Christinnen und Christen: Warum greift Gott nicht ein, wenn das Leid überhandnimmt? Warum nutzt er seine Macht nicht, um Menschen vor Unheil zu bewahren und für friedliche und gerechte Zustände in der Welt zu sorgen?

Gerade in unserer naturwissenschaftlich geprägten Welt lautet eine der gängigsten Antworten: weil die Welt durch einen eigengesetzlichen Ablauf gesteuert wird, in den selbst Gott nicht (mehr) verändernd eingreifen kann. Man geht davon aus, dass die Welt wie ein einmal aufgezogenes Uhrwerk unabänderlich abläuft, oder dass nach einmal vollzogener Schöpfung statt Gott nun allein der Mensch mit den Entscheidungen seines freien Willens die Weltläufe bestimmt.

Gott greift ein – anders als gedacht

Gleichwohl gehört es zum Kern des christlichen Bekenntnisses, dass Gott vor 2000 Jahren auf alles entscheidende Weise in den Lauf der Welt eingegriffen hat: nämlich in der Verkündigung und im Wirken seines Propheten aus Nazareth, im  Sterben und in der Auferstehung Jesu Christi. Allerdings bedeutet es tatsächlich einen Affront gegenüber aller weltlichen Logik, genau in diesen Ereignissen das machtvolle Wirken Gottes zu sehen. Das galt schon für die Zeitgenossen Jesu: Die einen hielten seine Verkündigung von der unbedingten göttlichen Liebe und Vergebung für alle Menschen für eine lästerliche Irrlehre. Die anderen sahen in seiner Hinrichtung als Verbrecher den Beweis dafür, dass er nicht der von Gott gesandte Messias sein konnte. Dass in beidem Gott gehandelt und gerade damit seine Macht in der Welt sichtbar geworden war, stellt damals wie heute die besondere Zumutung des christlichen Glaubens dar.

Gottes Welt- und Ohnmacht

Bekanntlich waren es denn auch zunächst nur wenige, die gerade im augenscheinlichen Scheitern der Mission Jesu den Erweis göttlicher Heilsmacht entdeckten. Sie machten sich ihren eigenen Reim darauf, warum der erwartete Messias nicht als mächtiger Herrscher ein neues Reich aufgerichtet hatte, sondern als verurteilter Verbrecher jämmerlich zugrunde gegangen war. Im Christus-Hymnus des Philipper-Briefes liest dieser „Reim“ sich so: „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,6-8).

In Jesus hat Gott demonstrativ auf jede herrschaftliche Machtausübung verzichtet.

Auf die Aufforderung „Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des HERRN!“ hat Gott in Jesus danach demonstrativ mit dem Verzicht auf jede herrschaftliche Machtausübung reagiert. Und auf die auch heute immer wieder neu gestellte Frage: „Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?“ gibt er nur die eine, wenn auch für viele Menschen offensichtlich enttäuschende Antwort: „Schaut her! Hier hängen sie, mit dem von mir Gesandten am Kreuz!“ Statt des imposanten Eingreifens scheint das demütige Erdulden das zentrale Kennzeichen von Gottes Macht zu sein. Einen anderen Erweis seiner Herrschaft, als den, den Jesus am Kreuz erbracht hat, bleibt er bewusst schuldig.

Warten auf die Macht „von oben“

Umso erstaunlicher ist es, wie wenig christliche Erwartungen an Gottes Weltmacht bis heute von diesem dramatischen Paradigmenwechsel berührt sind. Und dies, obwohl doch in jeder Kirche das Bild des gedemütigten Menschen, der die (Ohn-)Macht Gottes verkörpert, an prominentester Stelle im Blick ist. Sollte dieses Bild nicht immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass sich Gottes Weltmacht gerade nicht in der zwanghaften, möglicherweise sogar gewaltsamen Durchsetzung weltlicher Veränderungen „von oben“ auswirkt? Dennoch ist es genau das, was viele Christenmenschen bis heute von Gottes Macht erwarten. Sonst würde kaum so oft, auch in gottesdienstlichen Fürbitten, für ein direktes Eingreifen Gottes gebetet – bei dessen Ausbleiben das Vertrauen in Gottes „Weltmacht“ dann zwangsläufig schwindet.

Die unerbittliche Anfrage des Gekreuzigten

Nicht weniger erstaunlich ist es, wie wenig das eigene Handeln der meisten Christinnen und Christen davon geprägt ist, dass im Zentrum ihrer gottesdienstlichen Andacht ein öffentlich exekutiertes Folteropfer steht. Offensichtlich wird dessen Bild ebenso wenig als Mahnmal für die Opfer von Terror und Gewalt auch in unseren Tagen verstanden wie als Zeugnis der Ohnmacht und des Leidens Gottes angesichts dieser Gräuel. Sonst wäre das gänzlich unbefangene Feiern von Gottesdiensten, in denen diese grausame Wirklichkeit keinerlei Rolle spielt, im Angesicht dieses Bildes kaum möglich.

Das Bild des Gekreuzigten wird durch die gottesdienstliche Praxis auf weite Strecken ausgeblendet.

Aber sich dieser Zumutung und den damit verbundenen Anfragen an das eigene Handeln zu entziehen, scheint eine der Fähigkeiten zu sein, die Gottesdienstbesucher/innen ebenso wie Pfarrer/innen in besonderer Weise beherrschen. Indem das Bild des Gekreuzigten, das doch allen vor Augen ist, durch die gottesdienstliche Praxis selbst auf weite Strecken an den Rand gedrängt oder gänzlich ausgeblendet wird, hält man sich die unerbittliche Anfrage Gottes vom Leib, was man denn selbst angesichts dieser gotterbärmlichen Wirklichkeit zu unternehmen gedenke. So nachvollziehbar es sein mag, dass man sich nicht ständig mit dieser Realität beschäftigen will – dem theologischen Stellenwert des Kreuzestodes Jesu entspricht es jedenfalls nicht.

Vor dem Sinnbild der eigenen (Mit-)Schuld

Die doppelte Verweigerung gegenüber dem urchristlichen Paradigmenwechsel hat zwei wichtige, für die meisten Christen entlastende Konsequenzen: Zum einen bleibt das gängige Machtverständnis in Kraft und es ist nicht nötig, die göttliche Umkehrung von Macht und Ohnmacht auch in der eigenen Existenz umzusetzen. Was könnten daraus auch für grundstürzende Veränderungen entstehen! Zum anderen ermöglicht es der Ruf nach Gottes Eingreifen, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen und im eigenen Leben alles beim Alten zu lassen. Ironischerweise wird das Bild des Gekreuzigten gerade dadurch neu mit einem Sinngehalt aufgeladen, zu dem viele Christenmenschen heute ebenfalls eher ein distanziert-kritisches Verhältnis haben: Der Mann am Kreuz verkörpert das durch die (Mit-)Schuld des Betrachters zu Tode gekommene Opfer.

Der Keim einer revolutionären Veränderung

Es scheint also, als hätte selbst die Christenheit die seltsame Macht-Lektion, die Gott in Jesus vor zweitausend Jahren aller Welt erteilt hat, bis heute nicht gelernt. Dabei steckt in ihr ein revolutionärer Keim, der die Welt vielleicht tatsächlich mehr als alles andere verändern könnte. Es ist der Keim eines Handelns, das sich an den Ursachen von Not und Unrecht selbst beteiligt weiß, und das sich von der voraussetzungslosen Hingabe Jesu zu ungekanntem Eintreten gegen diese Realität inspirieren und ermutigen lässt. Selbst wenn sich daraus im Einzelnen gar keine großartigen Folgen ergeben, können aus solchen Keimen doch Entwicklungen wachsen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Die Bewegung, die Jesus selbst vor zweitausend Jahren auf zunächst unscheinbare Weise ausgelöst hat, ist das beste Beispiel dafür. Ihr verdanken wir bis heute, dass an vielen Stellen der Erde Menschen für Frieden und Gerechtigkeit, für Freiheit und Menschenrechte eintreten und dass diese Werte zumindest in erheblichen Teilen auch unsere westlichen Gesellschaften prägen.

Gott handelt heute

Die einzige Art und Weise, wie Gott in dieser Welt handeln kann oder will, ist offensichtlich durch Menschen, die sich von seiner Ohnmacht in die Pflicht nehmen lassen. Wie das gehen und wohin es freilich auch führen kann, lässt sich am Beispiel Jesu ablesen. Dass Gott in dessen Lebens- und Sterbensgeschichte die gängigen Werte umgekehrt und die Welt, wie wir sie kennen, vom Kopf auf die Füße gestellt hat, macht den außerordentlichen Anspruch seines Auftrags aus. Ihm lässt sich nicht ohne einen radikalen Schnitt mit dem gängigen Machtverständnis und den nach wie vor allgegenwärtigen Machtsehnsüchten unserer Tage folgen. Und nicht ohne den festen Blick auf das Bild der göttlichen Ohnmacht, das uns in Jesus vor Augen steht. Es ist die eigentliche Weltmacht Gottes, Menschen durch die Verkündigung seines verstörenden Wortes auch heute noch für diesen steinigen Weg zu gewinnen.

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