Billige Zivilcourage? Über den gesellschaftlichen Wert von digitalem Engagement

Politischer Aktivismus ist ohne die Nutzung von Social-Media-Plattformen heute kaum noch denkbar. Die Hürden für eine Mitwirkung der Einzelnen sind so niedrig wie nie. In der Kirche begegnet man dieser Form des Engagements jedoch oft mit Skepsis – zu Unrecht.

Kennen Sie Joseph Kony? Wenn nicht, dann waren Sie im Sommer vor vier Jahren vermutlich nicht bei Facebook, Youtube oder Twitter aktiv. Denn seit dem Jahr 2012 kennen viele Social-Media-Nutzer den ehemaligen ugandischen Rebellenführer zumindest dem Namen nach. Die kleine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Invisible Children hatte damals ein hochprofessionelles und hochemotionales Video für eine Kampagne erstellt. Es sollte Aufmerksamkeit für die Taten des mutmaßlichen Kriegsverbrechers erzeugen, dem unter anderem der Einsatz von Kindersoldaten vorgeworfen wird. Das Video wurde zig-millionenfach auf den einschlägigen Social-Media-Plattformen geteilt, auch von Popstars wie Rihanna oder Justin Bieber, und gilt als eine der erfolgreichsten viralen Videokampagnen.

Engagement verändert sich

Man kann das mögen oder nicht: Engagement ist heute kurzfristiger, fragmentarischer, anlass- und themenbezogener als vor dreißig Jahren. Einen politischen Akt zu tätigen, ist im Zeitalter der digitalen Vernetzung vermutlich so einfach und niedrigschwellig wie nie zuvor: „Follow“- und „Like“-Buttons sind schnell betätigt, eine Botschaft ist leicht geteilt, eine Petition einfach erstellt und noch schneller unterzeichnet. Klicktivismus wird das Phänomen in der Bewegungsforschung auch genannt. Politisches Engagement mit Maus und Tastatur, dem man sich spontan und oft ohne Konsequenzen für das eigene Leben gefahrlos anschließen kann.

Aber geht es dabei wirklich um die Sache? Oder nicht doch mehr um Selbstdarstellung? Brauchen Teilhabe und Zivilcourage nicht Langfristigkeit und persönlichen Einsatz, um nachhaltig zu wirken? Hoffnungen auf eine Frischzellenkur für die repräsentative Demokratie, zum Beispiel durch eine Öffnung der Institutionen mittels direktdemokratischer Elemente, haben sich bislang jedenfalls noch nicht wirklich erfüllt.

Einsatz für das eigene Image

Kony 2012 gilt in Hinblick auf die generierte Aufmerksamkeit als Erfolg. Das erklärte Ziel der Kampagne war es aber, so viel öffentlichen Druck zu erzeugen, dass westliche Staaten zu einem Militäreinsatz zur Ergreifung Joseph Konys gezwungen wären und er vor ein Gericht gestellt werden könnte. Der US-amerikanische Präsident Barack Obama reagierte zwar und lobte eine Belohnung auf den Warlord aus. Kony aber, der sich 2012 schon nicht mehr in Uganda aufgehalten haben soll, ist vermutlich bis heute auf freiem Fuß. Neben der Tatsache, dass Kritiker den Filmemachern aus den USA vorwarfen, in ihrem viralen Video rassistische Motive zu bedienen und die Situation in Uganda verzerrt darzustellen, muss man konstatieren, dass die Kampagne weniger ein Erfolg für die gute Sache war, als ein (auch monetärer) Gewinn für die Initiatoren.

Profitiert haben aber womöglich auch Millionen westlicher Internetnutzer, die durch den kurzfristigen politischen Akt des Video-Teilens ihr Gewissen beruhigen und ihr Image mit einem Schein von Engagement aufladen konnten. Keinem von ihnen möchte man unterstellen, es sei dabei nicht auch um die Sache gegangen, oder dass die gespürte Empörung nicht echt gewesen sei. Geteilt wurde das Video aber zum großen Teil von Menschen, die sich davor und danach nicht sonderlich für den afrikanischen Kontinent interessierten und schon gar nicht für eine Mitverantwortung westlicher Kolonial- und Neokolonialpolitik an dort herrschenden ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen. Dazu passt, dass Straßenproteste, zu denen Invisible Children unter dem Titel „Cover the Night“ im Anschluss an die Videokampagne aufrief, im Sande verliefen beziehungsweise größtenteils gar nicht erst zustande kamen.

„Um die Welt zu retten, klicken Sie bitte hier“

Nach den Anschlägen von Paris war das eigene Profilbild bei Facebook dank einer neuen Funktion der Plattform in Sekundenschnelle blau, weiß und rot eingefärbt, um „Unterstützung für Frankreich und die Menschen in Paris zu zeigen“, wie das Unternehmen es damals formulierte. Bald danach war es bei vielen dann aber auch schon wieder in den Farben des Lieblingsfußballvereins geschmückt.

Tausende deutschsprachige Online-Petitionen zu allen möglichen Themen werden jährlich auf nicht-staatlichen Plattformen wie openpetition.de und change.org aufgesetzt oder beim Petitionsausschuss des Bundestages eingereicht. Forderungen reichen von der Förderung der Krebsbehandlungsmethode Hyperthermie durch Krankenkassen über den Baustopp einer Flüchtlingsunterkunft bis zu der nach freiem Samstagsparken in der Stadt Bingen. Viele von ihnen gelangen gar nicht erst in den vierstelligen Unterschriftenbereich. Kritiker machten aus dem Begriff Klicktivismus deshalb schnell Slacktivismus, also den wenig wirksamen Aktivismus der Faulenzer (engl.: Slacker): Um die Welt zu retten, klicken Sie bitte hier.

Marginalisierte Gruppen erobern Diskurse der Mehrheitsgesellschaft

Ist das Internet also ein Treiber von billiger Zivilcourage und Pseudo-Engagement? Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Sich verändernde Strukturen für Teilhabe und politisches Engagement sind natürlich kein rein digitales Phänomen. Es hilft, sie im Kontext von zunehmender Individualisierung und der tiefen Krise der Institutionen der repräsentativen Demokratie zu betrachten. Einen Dualismus aus (gutem) analogem und (schlechtem) digitalem Engagement aufzumachen, greift zudem schon allein deshalb zu kurz, weil es keine klare Trennung gibt und beide Formen sich häufig vermischen.

Wieder ist es ein Blick in die USA, der hier sehr informativ ist: Unter dem Hashtag #BlackLivesMatter formiert sich dort seit einigen Jahren der Protest gegen immer noch vorherrschenden Alltagsrassismus und Polizeigewalt gegenüber People of Colour. Das Wort Hashtag ist zusammengesetzt aus den englischen Wörter für Raute („hash“) und Schlagwort („tag“). Das Prinzip dahinter ist für die Organisation der Informationsflut im Internet ein wichtiger Faktor: Auf Plattformen wie Twitter und Facebook lassen sich durch einen Klick auf mit dem Raute-Zeichen versehene Wörter, also Hashtags, alle öffentlichen Posts anzeigen, die von ihren Autoren ebenfalls damit gekennzeichnet wurden. Jeder kann diese Verschlagwortung nutzen und selbst prägen. Befeuert durch die vielfach in Audio und Video dokumentierte – teilweise sogar live gestreamte – Brutalität von Polizisten im Umgang mit Afroamerikanern, die nach wie vor regelmäßig zum Tod unbewaffneter Bürger führt, schwoll in den vergangenen Jahren der öffentliche Unmut (nicht nur der Betroffenen) über den alltäglichen Rassismus in den USA an.

Das Hashtag-Prinzip machte dabei die vielen Einzelstimmen hörbar: Versehen mit dem Schlagwort #BlackLivesMatter waren sie nicht mehr vereinzelte Beschwerden, sondern ein mächtiger Chor, der bestehende, aber von vielen übersehene Ungerechtigkeiten anklagt. Gerade der Dienst Twitter schafft so Raum für relevante Gegenöffentlichkeiten, in denen Gruppen jenseits des Mainstreams ihre Identitäten und Ansprüche stärken können. Durch die permanente Öffentlichkeit und potenziell globale Reichweite der Posts, wurden die bislang nicht ausreichend repräsentierten Sichtweisen und Lebensrealitäten in die öffentliche Wahrnehmung getragen. Selbstverständlich bedeutet dies nicht das sofortige Ende des Rassismus – aber Jahrzehnte nach dem Tod Martin Luther Kings gelangt das Thema, das viele gerne für beendet erklärt hätten, wieder auf die politische Agenda. #BlackLivesMatter zeigt, wie eine diskriminierte Minderheit mit Hilfe von Social-Media-Plattformen die Diskurse der Mehrheitsgesellschaft erobern kann.

Eine Weiterentwicklung der Außerparlamentarischen Opposition

Aus den spontanen Protesten und Solidaritätsbekundungen unter dem Hashtag ist mittlerweile eine Bürgerrechtsbewegung geworden, die dezentral und lose über Social-Media-Plattformen organisiert wird und den Protest auch auf die Straße bringt. Eine Bewegung, die nicht von langer Hand geplant wurde, sondern die sich aus der echten Betroffenheit und Empörung von tausenden Menschen speist. Gerade indem dieser Protest von Individuen auch sichtbar mit der eigenen Identitätsarbeit verknüpft und authentisch aus dem eigenen Leben gespeist wird, entfaltet er seine Wirkung.

In einem hörenswerten Beitrag bei „Deutschlandradio Kultur“ wurde dieser Hashtag-Aktivismus jüngst treffend als Weiterentwicklung der Außerparlamentarischen Opposition bezeichnet (www.deutschlandradiokultur.de/aktivismus-im-netz-vom-hashtag-zur-buergerbewegung.976.de.html?dram:article_id=367155). Ein prominentes deutsches Beispiel ist der Hashtag #Aufschrei, der im Nachgang der Herrenwitz-Affäre um den damaligen FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle den alltäglichen Sexismus sichtbar machte, den viele Frauen heute noch erfahren. Solche für eine repräsentative Demokratie wichtigen Impulse marginalisierter Perspektiven und Interessen würden nicht ihre Wirkung entfalten, wenn es nicht Tausende gäbe, die die Anliegen inhaltlich teilen und dann auch tatsächlich weiterverbreiten. Ein Klick mag für die Einzelnen nicht aufwendig sein – in der Masse aber kann er eine große Rolle spielen.

Öffentlicher Einsatz für digitale Bürgerrechte

Das gilt in Deutschland insbesondere für die Szene der digitalen Bürgerrechte. Weil es in Parteien und klassisch zivilgesellschaftlichen Organisationen dafür lange (und in weiten Teilen bis heute) keinen Raum gab, hat sich zu diesem Thema eine lebendige und vielschichtige Szene herausgebildet. Sie mischt sich mit dem Anspruch in netzpolitische Debatten ein, die unterrepräsentierten Perspektiven von Nutzern, Verbrauchern und Bürgern hörbar zu machen. Die breite Unterstützung in den digitalen Öffentlichkeiten ist die größte Stärke dieser Bewegung, weil über sie die Relevanz der grundsätzlichen Anliegen und konkreten Positionen nachgewiesen werden kann. Gerade weil die Parteien als (grundgesetzlich definierte) Katalysatoren des Bürgerwillens bislang nicht in der Lage oder willens sind, diese Perspektiven wirksam aufzunehmen, braucht es das klicktivistische Engagement der Vielen.

Ein aus Regierungsperspektive unliebsamer Whistleblower wie Edward Snowden, der 2013 die illegale Massenüberwachung durch westliche Geheimdienste öffentlich machte, wäre viel leichter zu ignorieren oder zu verfolgen, wenn er im Netz nicht weltweit bis heute große Solidarität, Anerkennung und Aufmerksamkeit erfahren würde. Geradezu existenziell wurde diese Form der Unterstützung für zwei meiner Kollegen bei netzpolitik.org im vergangenen Jahr, als sie vom Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz wegen der Veröffentlichung als geheim eingestufter Dokumente angezeigt wurden. Der Generalbundesanwalt nahm Ermittlungen wegen Landesverrats auf – zum dritten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wegen journalistischer Berichterstattung. Nur dank der großen öffentlichen Empörung, der sich auch klassische Medien anschlossen, und der massiven Unterstützung unter dem Hashtag #Landesverrat, wurde das Verfahren gegen die (wohlgemerkt ausschließlich spendenfinanzierten) Blogger eingestellt.

Rechtspopulismus erfordert klassische Zivilcourage

Persönliches Risiko und großer Aufwand eignen sich also nur bedingt als Kriterien zur Beurteilung des gesellschaftlichen Werts von digitalem Engagement. Im Zuge des Erstarkens einer neuen Rechten und der damit einhergehenden Diskursverrohung, die wir seit geraumer Zeit nicht nur in den neuen Öffentlichkeiten der Social-Media-Plattformen beobachten, werden allerdings bedauerlicherweise auch diese Qualitäten wieder wichtiger. Überraschend gut organisiert stürzen sich zum Beispiel auf Facebook Gruppen selbsternannter Islam- und Flüchtlingskritiker auf das Engagement vermeintlicher „Gutmenschen“. Diese Erfahrung durften in den vergangenen Monaten auch die Social-Media-Kanäle von Diakonie, EKD und anderen evangelischen Akteuren machen, wenn sie etwa über Hilfsprojekte für Geflüchtete berichteten.

Während Strafverfolgungsbehörden für das Vorgehen gegen offenkundig rechtswidrige Posts weder gut genug ausgebildet noch ausgestattet sind, verlassen sich zu viele offenbar darauf, dass das Problem sich dadurch lösen lässt, dass Plattformen wie Facebook einfach mehr Inhalte löschen müssen. Ganz unabhängig davon, dass die großflächige Auslagerung der kritischen Abwägung zwischen legitimer Meinungsäußerung und strafrechtlich relevanter Hetze an ein privates Unternehmen rechtsstaatlich schwer zu rechtfertigen ist: Mit dem Anschwellen des rechten Populismus wird man so offensichtlich nicht fertig.

Doch gerade, weil bei Facebook (eigentlich) sogenannter Klarnamenzwang herrscht und hier nur noch wenige Menschen unter Pseudonym unterwegs sind, braucht es neben Zeit und starken Nerven auch Mut, der eindimensionalen, aber hartnäckigen Menschenfeindlichkeit vieler Kommentatoren zu widersprechen. Die weit verbreitete Digitalskepsis von Menschen und Institutionen der klassischen Zivilgesellschaft wird hier leider zu einem echten Problem. Denn während Vereine, Gewerkschaften und Kirchen häufig Gegenwehr organisieren, wenn auf der Straße menschenfeindliche Parolen skandiert werden, fehlen ihre Stimmen und ihre Multiplikatorenwirkung im digitalen Chor der „Gutmenschen“ bislang häufig.

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