Was fördert oder verhindert Zivilcourage? Erkenntnisse der Motivationsforschung

Am Anfang steht die Überzeugung: Zivilcourage braucht Heldentaten. Am Ende verstehen wir: Zivilcourage beginnt im Kleinen – durch hinschauen und hinhören, eingreifen und einstehen für seine Überzeugungen.

Die Studierenden Hans und Sophie Scholl, die als Mitglieder der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ im Kampf gegen die Nazidiktatur in Deutschland ihr Leben verloren; der chinesische Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo; der ehemalige Bürgermeister von Palermo Leoluca Orlando, der stets in Lebensgefahr dem organisierten Verbrechen die Stirn geboten hat  – diese Menschen gelten mit ihrem Aufbegehren gegen die Verletzung bürgerlicher Grundrechte, gegen Gewalt und Menschenverachtung als die Vorbilder für Zivilcourage.

Der herausragende Mut Einzelner darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zivilcouragiertes Verhalten gerade auch „im Kleinen“, in den verschiedensten Lebensbereichen notwendig werden kann, wenn Menschen ausgelacht, beleidigt, gedemütigt, bedroht oder angegriffen werden – und damit wird Zivilcourage zur Aufgabe für jeden Einzelnen.

Zivilcourage im Alltag

  • Eine Kollegin beobachtet schon seit längerem, wie ein Kollege von anderen Teammitgliedern systematisch ausgegrenzt und schikaniert wird. Beim nächsten Vorfall spricht sie in ihrer Teamsitzung ihre Beobachtung an.
  • Fahrgäste eines Trams werden Zeugen, wie zwei Jugendliche einen dunkelhäutigen Mann anpöbeln. Eine Frau steht auf und bittet den angegriffenen Mann, sich neben sie zu setzen.
  • Eine Passantin hört aus dem geöffneten Fenster einer Wohnung das Geräusch von Schlägen und lautes Schreien eines Kindes. Die Frau will der Sache genauer nachgehen und läutet an der Wohnungstür.
  • Eine Gruppe Jugendlicher wartet auf den Bus. Sie sind in gereizter Stimmung und ziehen über andere her. Ihr Blick fällt auf einen übergewichtigen Mann auf der anderen Straßenseite: „Fette sollte man zum Abschuss freigeben!“ Eine Ohrenzeugin spricht die Jugendlichen an und äußert klar aber ruhig, wie sehr sie diese Bemerkung störe.

In den geschilderten Situationen tritt jemand ein für eine andere Person, die beleidigt, bedroht oder gar tätlich angegriffen wird. Es sind dies Beispiele für Zivilcourage.

Respektlosigkeit, Feindseligkeit, Gewalt haben viele Gesichter. Gesellschaft und Politik suchen nach Ansatzpunkten, um Diskriminierung und Gewalt einzudämmen und allgemein ein Klima von Toleranz und Friedfertigkeit zu fördern. Dem Konzept der Zivilcourage kommt in diesem Zusammenhang große Bedeutung zu. Dies umso mehr, als das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht nur von formalen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt, sondern vor allem auch von der Bereitschaft jedes einzelnen, diese gesellschaftlichen Grundwerte zu verteidigen.

1. Bedingungen von Zivilcourage

Wovon hängt es ab, ob Menschen sich mutig für andere einsetzen, wenn diese ausgegrenzt oder gedemütigt werden? Kann man Zivilcourage lernen? Diese und andere Fragen werden seit einiger Zeit in Psychologie, Politikwissenschaft und Soziologie diskutiert. Im Folgenden werden die wichtigsten psychologischen Erkenntnisse zu den Bedingungen von zivilcouragiertem Handeln zusammengefasst.

Die Kluft zwischen Werten und Handeln

Öffentliche Appelle tragen sicher dazu bei, das Thema im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern. Doch selbst wenn viele Menschen die Grundwerte von sozialer Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Solidarität teilen, so schlagen sich diese Überzeugungen nicht immer in ihrem Handeln nieder. Eine Umfrage mit 2700 Personen im Rahmen des auf zehn Jahre angelegten „Projekts zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF-Survey 2002–2012) unter der Leitung des bekannten deutschen Soziologen Wilhelm Heitmeyer gibt einen Blick auf diesen Sachverhalt. Ziel des Projektes war es, das Ausmaß und die Entwicklung menschenfeindlicher Einstellungen (Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Heterophobie, Etabliertenvorrechte) in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zu analysieren und auf der Basis sozialpsychologischer und soziologischer Konzepte zu erklären. 60 Prozent der Befragten berichteten, dass in ihrer Umgebung ablehnende Äußerungen über Ausländer gefallen seien, 20 Prozent berichteten von ablehnenden Äußerungen gegenüber Juden und 15 Prozent von Übergriffen auf Ausländer. Nur ein Drittel bis zur Hälfte der Befragten gab an, in den angesprochenen problematischen Situationen etwas unternommen zu haben.

Angesichts solcher Übergriffe zu schweigen und tatenlos zuzusehen, hat fatale Konsequenzen: Nicht nur, dass man das Opfer sich selbst überlässt, Schweigen kann als Zustimmung fehlinterpretiert werden und letztlich die Feindseligkeit weiter fördern. Die Rassismusforschung zeigt auf, dass fremdenfeindlich motivierte Gewalttäter ihre Taten damit rechtfertigen, sie vollzögen ja nur das, was die schweigende Mehrheit auch vertrete. Und damit gilt: Die schweigende Mehrheit, die Diskriminierung toleriert, macht diese erst möglich. Genau dies kommt in der Aussage des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan bei der Gedenkfeier der UN anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum Ausdruck: „Das Böse braucht das Schweigen der Mehrheit“.

Das Fünf-Hürden-Modell der Zivilcourage

Was sind nun aber die Voraussetzungen dafür, dass eine Person Zivilcourage zeigt und nicht tatenlos zusieht? Die psychologische Forschung zu prosozialem Verhalten bietet mit der differenzierten Analyse konkreter Notsituationen einen ersten Anknüpfungspunkt. Gemäß den US-amerikanischen Sozialpsychologen Bibb Latané und John Darley müssen bei einem Notfall verschiedene „Hürden“ genommen werden:

  1. Zunächst muss das Ereignis überhaupt bemerkt werden (ein Beispiel: Ein Mann sitzt in einem öffentlichen Bus und hört vor lauter Stimmengewirr und Verkehrslärm nicht, dass im hinteren Teil des Fahrzeugs eine Frau belästig wird).
  2. Das Ereignis muss als Notfall interpretiert werden (z.B. „Es handelt sich um sexuelle Belästigung und nicht um den privaten Streit eines Pärchens!“).
  3. Als nächster Schritt muss der Beobachter sich zuständig fühlen einzugreifen und darf die Verantwortung nicht auf die anderen Zeugen abschieben (z.B. „Ah, da sind andere näher dran, der sieht kräftiger und kompetenter aus als ich, soll der doch was unternehmen!“). Das Abschieben der Verantwortung auf andere – in der Fachliteratur als „Verantwortungs­diffusion“ bezeichnet – ist ein Erklärungsansatz für den vielfach empirisch belegten Befund, dass die Hilfsbereitschaft Einzelner sinkt, wenn mehrere Personen einen Notfall beobachten.
  4. Die nächste Hürde betrifft die Frage, ob der Beobachter über das notwendige Wissen verfügt, was konkret zu tun oder unbedingt zu unterlassen ist (z.B.: Soll ich das Opfer ansprechen? Soll ich die Polizei rufen? Soll ich versuchen den Täter vom Opfer wegzuziehen?).
  5. Erst dann entscheidet er, welche Form der Hilfeleistung angemessen ist und führt diese aus, so er über die notwendigen Handlungsroutinen verfügt.

Soziale und individuelle Bedingungen von Zivilcourage

Diese in einer konkreten Zivilcourage-Situation ablaufenden Prozesse basieren ihrerseits auf umfassenderen sozialen aber auch individuellen Merkmalen:

  • Einerseits ist von Bedeutung, welcher gesellschaftliche Wert Zivilcourage beigemessen wird und inwiefern positive Vorbilder für Zivilcourage verfügbar sind, beispielsweise durch eine entsprechende Berichterstattung in den Medien.
  • Ob Menschen Zivilcourage zeigen, hängt anderseits zu einem hohen Grad von ihren ethischen Überzeugungen ab, also inwieweit sie Werte wie Solidarität, soziale Verantwortung, Fürsorglichkeit als verbindliche Leitlinien ihres Handelns betrachten.
  • Darüber hinaus spielen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale für Zivilcourage eine besondere Rolle: Personen, die sich durch geringe Ängstlichkeit, hohes Selbstvertrauen und hohe Empathiefähigkeit auszeichnen, werden sich in bedrohlichen Situationen mutiger für andere einsetzen als ängstliche, selbstunsichere und wenig einfühlsame Personen.

Aktuelle psychologische Forschung analysiert zunehmend handlungsregulative Prozesse, die in Zivilcourage-Situationen wirksam werden. Im Mittelpunkt steht hier einerseits die automatische Auslösung von Verhalten, anderseits die verhaltenssteuernde Rolle von bewussten Zielsetzungen. Besonders interessant ist die Erkenntnis, dass Verhaltensweisen aufgrund bestimmter Wahrnehmungen automatisch, also ohne bewusste Entscheidung, ausgelöst werden können. So zeigen Studien, dass beispielweise die Aktivierung bestimmter sozialer Kategorien (z.B. Obdachloser) automatische Verhaltensreaktionen (z.B. wegsehen) nach sich ziehen, die ein couragiertes Eingreifen behindern.

Zu hohe Ziele verhindern Zivilcourage

Unser Verhalten wird neben diesen unbewussten Einflüssen jedoch maßgeblich von bewussten Zielsetzungen gesteuert. Einer der am besten belegten Sachverhalte der Motivationspsychologie ist, dass anspruchsvolle, dabei aber realistische Ziele den Handlungserfolg unterstützen. Ebenso muss man aber feststellen, dass falsche Zielsetzungen unser Handeln massiv beeinträchtigen können. Wie die psychologische Zielforschung zeigt, wirken überfordernde und damit unrealistische Ziele demotivierend.

Übertragen auf den Bereich der Zivilcourage lässt sich festhalten, dass falsche Ziele der handelnden Person ein Eingreifen verhindern können. Und wie die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen, sind vielfach die Ziele für eine konkrete Zivilcourage-Situation zu hoch gegriffen: Eine Person beobachtet eine tätliche Auseinandersetzung und ihr Ziel besteht darin, die Schläger vom Opfer zu trennen, vor Augen, dass das wahre Zivilcourage sei. Das ist jedoch zu gefährlich, also unternimmt sie nichts.

Ein zweites Beispiel: In einem Straßencafé sitzt am Nachbartisch eine Gruppe von Jugendlichen. Ihr Gespräch dreht sich um Arbeitslose, man wisse ja schon, was für ein Menschenschlag dies sei, Schmarotzer, man sollte die alle… Eine Ohrenzeugin möchte diesen diffamierenden Reden Einhalt gebieten. In ihren Augen liegt wahre Zivilcourage jedoch darin, die Phrasendrescher von einer anderen Meinung zu überzeugen, sie von ihren pauschalisierenden Vorurteilen abzubringen: „Aber die sind ja unverbesserlich, da ändere ich ja doch nichts!“, so ihr Denken. Also schweigt die Person betreten.

Und schließlich ein drittes Beispiel: Die Anzeichen häufen sich, dass es bei der Nachbarfamilie wiederholt zu Handgreiflichkeiten kommt. Die Person ist alarmiert, setzt sich zum Ziel, die Nachbarn zur Rede zu stellen und zur Vernunft zu bringen, resigniert aber schnell: „Was kann ich da schon ausrichten…“.

Realistischere Ziele könnten in den geschilderten Fällen eine hilfreiche Leitlinie für zivilcouragiertes Eingreifen sein, so beispielsweise die Polizei zu rufen, ruhig aber klar zu widersprechen und sich über Beratungsstellen zu informieren – all diese kleinen Schritte wären ein Zeichen von Zivilcourage.

2. Zivilcourage trainieren

Eine Besonderheit von Zivilcourage-Situationen besteht schließlich darin, dass sie häufig überraschend auftreten, vielfach mehrdeutig und dabei emotional belastend sind. Kurz: Zivilcourage fordert Handeln unter erschwerten Bedingungen, für die häufig die Handlungsroutine fehlt. Diese Handlungsroutine aufzubauen, ist damit eines der wichtigsten Ziele der Förderung von Zivilcourage. Es geht also konkret darum, in Trainings die Kompetenz zu stärken, in kritischen Situationen prompt und angemessen zu reagieren.

Die Psychologie verfügt über vielfältige Erkenntnisse, wie man Verhalten in kritischen Situationen fördern kann. Trainings zielen auf die Vermittlung von handlungsrelevantem Wissen und auf die Stärkung der Handlungskompetenz, um in den verschiedensten Zivilcourage-Situationen (z.B. verbale Attacken, Pöbeleien, tätliche Übergriffe) adäquat eingreifen zu können. Nur wer einerseits weiß, welches Verhalten in einer konkreten Situation hilfreich ist (z.B.: Was soll ich tun, wenn ich Zeuge einer Schlägerei werde?) und andererseits ein bestimmtes Verhaltensprogramm quasi automatisch zur Verfügung hat (z.B. einen Notruf absetzen), wird im entscheidenden Augenblick auch zivilcouragiert eingreifen und das Richtige tun.

Die Säulen der Zivilcourage: Wissen und Handeln

Das Zürcher Zivilcourage-Training, das hier exemplarisch genannt werden soll, ist modular aufgebaut und kann damit auf die Bedürfnisse unterschiedlichster Zielgruppen und verschiedenste institutionelle Rahmenbedingungen angepasst werden. Das so genannte „Wissensmodul“ umfasst einerseits theoretische Kurzpräsentationen zu den Bedingungen von Zivilcourage und zu spezifischen Strategien zur Überwindung von Handlungsschwierigkeiten. Andererseits wird vermittelt, was man in einer kritischen Situation konkret tun kann und was man auf keinen Fall tun darf (z.B.: Nie den Täter anfassen! Nie in eine Schlägerei eingreifen!).

Neben der Wissensvermittlung nimmt das Einüben relevanter Verhaltensweisen einen großen Raum ein. In erfahrungsbasierten Übungen wie Rollenspielen und mentalen Simulationen werden konkrete Situationen durchgespielt. Dabei stammen die im Training bearbeiteten Zivilcourage-Situationen aus dem persönlichen Erfahrungsbereich der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Hierbei geht es vor allem darum, die Teilnehmer auf die unterschiedlichen Arten fremdenfeindlicher Vorfälle vorzubereiten, die wir plakativ als „Parolen“, „Pöbeleien“ und „Prügelei“ bezeichnen.

Der Situationstyp „Parolen“ bezieht sich auf Vorfälle, bei denen jemand herabwür­digende (z.B. fremdenfeindliche, antisemitische, sexistische) Aussagen über andere nicht anwesende Personen macht. Der Situationstyp „Pöbeleien“ beschreibt Vorfälle, bei denen eine Person direkt verbal angegriffen wird. Zu diesen beiden Situationstypen werden jeweils mehrere Rollenspiele durchgeführt, um verschiedene Reaktionsweisen zu erproben und auf Stärken und Schwächen hin zu analysieren. Im Hinblick auf den Situationstyp „Prügelei“, bei dem es um beobachtete physische Gewalt gegen eine andere Person geht, wird mental eingeübt, wie man sich bei derartigen Vorfällen verhalten sollte.

Hinschauen und hinhören, eingreifen und einstehen für seine Überzeugungen, wenn andere unwürdig behandelt werden – kleine Schritte aber ein klares Zeichen gegen Gewalt und Intoleranz.

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Jonas, Kai J.; Boos, Margarete und Brandstätter, Veronika (Hrsg.): Zivilcourage trainieren! Theorie und Praxis. Göttingen, Hogrefe Verlag, 2007.

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