Barmherzigkeit und Politik – (Wie) Geht das zusammen? Wir haben prominente Politiker/innen gefragt

»Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen!«, behauptete einst Helmut Schmidt. Wie sehen Politiker das im Hinblick auf das Gebot der Barmherzigkeit heute?

Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen

Schon 1995 betonte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dass „Barmherzigkeit der Quellgrund der sozialen Gerechtigkeit“ ist. Das ist weit mehr als die Reduzierung der Barmherzigkeit auf eine Eigenschaft Gottes, der dem Gläubigen seine Barmherzigkeit schenkt. Wie heißt es in der Bergpredigt: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren“ (Matthäus 5,7).

Das setzt aber mehr als Gottesliebe voraus. Es bedeutet aktives Tun. Für mich ist das die Aufgabe der Politik. Wir schaffen Rahmenbedingungen für eine sozial gerechte Gesellschaft, die Menschen von ihrem Einkommen auskömmlich leben lässt, die gegen Kinderarmut und Not im Alter genauso kämpft, wie gegen Obdachlosigkeit und für die Integration von Menschen auf der Flucht vor Kriegen und Verfolgung. Barmherzigkeit der Politik ist für mich die Garantie des Staates für den Erhalt des Sozialstaates, das auf dem Prinzip der Solidarität in der Gesellschaft fußt. Dann werden wir aus meiner Sicht auch dem biblischen Anspruch von Barmherzigkeit gerecht.

Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble MdB

Barmherzigkeit und Politik – (wie) geht das zusammen? Es geht nicht leicht zusammen – und identisch ist es ohnehin nicht. Wir haben dies in den letzten beiden Jahren beim Umgang mit der Flüchtlingssituation wieder neu lernen müssen. Es war Richard Schröder, evangelischer Theologe und SPD-Fraktionsvorsitzender in der im März 1990 zum ersten Mal frei gewählten DDR-Volkskammer, der letzten August in der FAZ daran erinnert hat: Der einzelne Bürger, der einzelne Christ zumal, kann und soll barmherzig gerade auch gegenüber Flüchtlingen sein. Aber der Staat kann nicht barmherzig sein; er muss gerecht sein. Der Staat muss unterscheiden, zuteilen, begrenzen – eben um die Fähigkeit, zu helfen, überhaupt zu erhalten.

Dies ist das Dilemma. Moralische Eindeutigkeit lässt sich nicht umstandslos in Politik übersetzen. Dafür ist in der Flüchtlingssituation auch die viel kritisierte Zusammenarbeit mit der gegenwärtigen türkischen Regierung ein Beispiel. Aber sie ist nötig, weil wir anders den Menschenhändlern nicht die Geschäftsgrundlage nehmen können.

Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D.

Von dem verstorbenen brasilianischen Bischof Helder Camara stammt das treffende Wort: „Wenn jemand an Arme Brot verteilt, dann gilt er als Heiliger. Sagt er, dass der Arme ein Recht auf Brot hat, dann gilt er als links und gefährlich.“

Ja, in der Politik und für Politiker muss es vor allem darum gehen, für „strukturelle Barmherzigkeit“ zu sorgen, also für einen gerechten Sozialstaat. Wenn er funktioniert, wenn alles gut geht, dann ist der Sozialstaat Solidarität und Umverteilung zwischen Starken und Schwachen, Arbeithabenden und Arbeitslosen, Gesunden und Kranken, Jungen und Alten. Er macht den Schwachen und Bedürftigen aus einem Objekt gewiss löblicher individueller Barmherzigkeit zu einem Subjekt von Rechtsansprüchen, die ihre tiefste Begründung in seiner Menschenwürde findet. Genau das ist die eigentliche, innere Leistung des Sozialstaats, die es unbedingt zu erhalten gilt.

Aber wir wissen doch, auch wenn’s gut geht, reicht vergesellschaftete, verstaatlichte Barmherzigkeit nicht aus. Wir als konkrete Menschen bleiben aufgefordert zu individueller Barmherzigkeit. Und die ist mehr als ein Verhalten nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Wie du mir, so ich dir. Sie ist vielmehr eine Unbedingtheit und Unmittelbarkeit der Zuwendung zum Anderen, ist eine Großzügigkeit, die weder rechnet noch rechtet noch richtet. Ohne diese Barmherzigkeit bliebe der Sozialstaat trotz allem kalt.

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg

Gerechtigkeit dient dazu, „dem menschlichen Wesen das zu sichern, was ihm gebührt“ (Jeanne Hersch). Um solche Gerechtigkeit gesellschaftlich durchzusetzen und abzusichern, braucht es natürlich Macht, politische Macht. Das heißt umgekehrt: Politische Macht ist kein Selbstzweck, sondern in diesem Fall Mittel, um Gerechtigkeit zu wahren. Daraus und nur daraus erhält die politische Macht ihren Sinn. Politik und der Staat als Ganzes müssen also nicht barmherzig sein, sondern gerecht. Sonst würden sie einzelne Menschen oder Gruppen bevorzugen oder benachteiligen.

Nun sind die Menschen aber alle verschieden. Will die Politik Gerechtigkeit schaffen, muss sie also mit dieser Verschiedenheit umgehen und das „Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“ (Hannah Arendt) organisieren. Ob die Politik dabei ihr Ziel erreicht, Gerechtigkeit, also gleiche Bedingungen, gleiche Chancen, gleiche Rechte zu schaffen, bemisst sich am tatsächlichen und erkennbaren Ergebnis. „In der Politik zählen die guten Absichten nicht.“ (Jeanne Hersch) Politisch bewährt sich eine Handlung nur durch ihr Ergebnis. Die Politiker müssen von den Folgen her denken. Das ist eine große Herausforderung für jeden in der Politik Tätigen, und es wäre vermessen zu glauben, das ginge ohne Fehler.

Wenn ich als Politiker aber Fehler mache, kann ich den Wählern nicht kommen und sagen, dass ich es doch gut gemeint habe. Dann muss ich mich den Wählern stellen und mit ihrem Urteil leben. So wenig also die Bürger vom Staat und von der Politik Barmherzigkeit erwarten sollten (sondern eben Gerechtigkeit), so wenig brauche ich als Politiker auf die Barmherzigkeit der Wähler zu hoffen. Und trotzdem brauche ich auch als Mensch in der Politik Barmherzigkeit. Auch wenn bei Fehlern in der Politik die eigenen guten Absichten nichts zählen, so sind sie doch wesentlich für mein persönliches Gewissen. Die guten Absichten zählen bei Gott und bei meinen Lieben, denn sie schauen auf das, was ich bin, und nicht auf das, was ich getan habe. Bei ihnen hoffe ich auf Barmherzigkeit.

Leider haben wir von den angefragten Politikerinnen keine Statements erhalten.

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