Stichwort: Gnade

Eine umfassende Betrachtung zum Stichwort Gnade müsste mehreres bereithalten: Die eigentliche Wortherkunft im Deutschen (von ganada: Wohlwollen, Gunst); den Gebrauch in verschiedenen Zusammenhängen, juristisch, theologisch…; die historische Begriffsentwicklung. Schließlich wäre „die Bedeutung heute“ relevant.

Blickt man in frühe hebräische Traditionen, fällt auf, dass eine Vielzahl von Wortstämmen für den Sachverhalt vorkommt. Psalmen sprechen von Gottes gnädigem Wohlgefallen (Ps 30,8; Ps 89,18) mit dem Wortstamm: chen – Zuneigung. In den Klageliedern 3,22 steht chesed: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind…“ Weitere sind rachamim – sich erbarmende Liebe oder razon – Freundlichkeit, Huld.

Viele neutestamentliche Briefe beginnen mit der Formel „Gnade sei mit euch und Friede von Gott“ (vgl. Röm 1,7; 1. Kor 1,3; 2. Kor 1,3; Gal 1,3, …). Viele enden: „Die Gnade sei mit euch“ (Hebr 13,25; Gal 6,18 u.ö.). So bietet Gnade hier schon rein formal den Rahmen für alles Weitere. Diese Gnadenformel kann zugleich ein Hinweis darauf sein, dass die Zusage von Gnade eine Verwandtschaft zu Segenswünschen und zum Segen hat.

Aus der weiteren Theologiegeschichte seien zwei Stationen hervorgehoben: Das Konzil von Orange im 6. Jahrhundert n. Chr. betont energisch die Verbindung von Gnade und Gottes Geist. Zum lehrhaften Zentralbegriff wird sie schließlich (spätestens) im 16. Jahrhundert.

Gnade – Gerechtigkeit – Barmherzigkeit

Oft zeigen Begriffe ihre besondere Bedeutung, wenn man sie mit anderen vergleicht. Was unterscheidet Gnade von Gerechtigkeit? Was unterscheidet Gnade von Barmherzigkeit?

Durchläuft man daraufhin biblische Texte, zeigt sich überraschenderweise, dass für das Alte Testament Gottes Gerechtigkeit entscheidend mit Gottes Gemeinschaftstreue, d.h. der gnädigen Bundestreue Gottes gleichzusetzen ist. Bei Gott müssen sich Gerechtigkeit und Gnade nicht ausschließen. Hieran wären weitläufige und fruchtbare Darstellungen zum Wechselbezug von Gnade und Barmherzigkeit im Neuen Testament anzuschließen. Als Schnellzusammenfassung gelte die einfache Beobachtung, dass in den neutestamentlichen Briefen auch die eröffnende Formel „Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott“ (1. Tim 1,2; 2. Joh 3) vorkommt.

Während Barmherzigkeit stärker die affektive Seite von Gnade enthält, die an sich auch statisch wirken kann, steht bei Gerechtigkeit in dieser Perspektive die Frage nach möglichen Hindernissen für ein Wohlwollen im Vordergrund. An der Schaltstelle für die Beschreibung des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Gnade rangiert die theologische Lehre von der Rechtfertigung. Paradigmatische Explikation erfährt sie in den Gleichniserzählungen der Evangelien wie der von den 99 Schafen (Mt 18,10-14; Lk 15,3-7).

Von katholischer Seite sind zum Thema Rechtfertigung und Barmherzigkeit in jüngerer Zeit zwei aufsehenerregende Impulse erfolgt. Der emeritierte Papst Benedikt äußerte im März 2016: „Mir scheint, dass sich im Thema der göttlichen Barmherzigkeit das, was die Rechtfertigung durch den Glauben bedeutet, auf neue Weise ausdrückt. Von der Barmherzigkeit Gottes ausgehend, die alle suchen, kann man auch heute den Kern der Rechtfertigungslehre neu interpretieren und ihn in seiner ganzen Relevanz darstellen.“ (Osservatore Romano, Ausgabe 14/2016). Kardinal Walter Kasper meint: „Die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes war Luthers Antwort auf seine persönliche Frage und Not wie auf die Fragen seiner Zeit; sie ist auch heute die Antwort auf die Zeichen der Zeit und die drängenden Fragen vieler Menschen.“ (Martin Luther, eine ökumenische Perspektive, Verlag Patmos 2016)

Charisma kommt von Gnade

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Wortableitung Charisma von griech. charis – Gnade kommt und bei der Entstehung der urchristlichen Dienstgemeinschaft mit der neutestamentlichen Charismenlehre (vgl. 1. Kor 12; Eph 4) eine wegweisende Funktion erfüllt.

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