Franziskus, ein „evangelischer“ Heiliger? Ein Plädoyer gegen die vorschnelle Indienstnahme des Ordensgründers

Sozialrevolutionär, Öko-Lyriker oder Hippie avant la lettre – auch unter Protestanten sind vielfältige Bilder des Franz von Assisi im Umlauf. Die mit ihm programmatisch verknüpften Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung verschaffen seiner Person höchste Aktualität. Bei der Indienstnahme des Ordensgründers für aktuelle Anliegen wird die facettenreiche Gestalt des historischen Franziskus allerdings oft durch Klischees überlagert. Gerade der mittelalterliche Ordensgründer lässt jedoch auch „evangelische“ Züge erkennen.

Auf dem Evangelischen Kirchentag in Dresden 2011 feierte ein Rock-Poem der besonderen Art Premiere: Mit Songs von Rio Reiser, Band-Leader von „Ton Steine Scherben“, wurde in einer 100-minütigen Performance das Leben des Franz von Assisi in Szene gesetzt. In fünf Szenen, dargestellt durch den Schauspieler Jörg Simmat, ging das Publikum den Weg des Heiligen aus dem 12./13. Jahrhundert mit. Die Jury des Kirchentages zeichnete das Stück mit einer Förderung aus.

Dass der katholische Heilige Franziskus zum Star auf einem Evangelischen Kirchentags wird, überrascht wenig. Denn auch unter Protestantinnen und Protestanten hat der mittelalterliche Wanderprediger schon lange eine kaum überschaubare Anhängerschar – und das nicht nur, weil das lauthals geschmetterte „Laudato si“ in keinem evangelischen Kindergottesdienst fehlen darf. Von der evangelischen Franz-von-Assisi-Kirche in Hamburg-Neuallermöhe über Gebetstexte des katholischen Ordensgründers im Evangelischen Gesangbuch bis zum Franziskus-Gedenktag der EKD an seinem  Todestag (am 3. Oktober statt wie in der katholischen Kirche am 4. Oktober) reichen die Zeugnisse seiner Anerkennung. Kein anderer katholischer Heiliger erfährt heute im protestantischen Umfeld eine ähnlich breite Wertschätzung.

Der Heilige für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung

Dass Franz von Assisi auch in der evangelischen Kirche fast immer ein „Heimspiel“ hat, liegt vor allem an der Aktualität von drei Themen, die mit seinem Leben aufs Engste verbunden sind: Besitzverzicht, Naturverbundenheit und Friedfertigkeit. Kaum überhörbar klingen damit drei große Themenkomplexe an, die auch unter Protestantinnen und Protestanten in den letzten 40 Jahren zu Dauerbrennern geworden sind: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Man könnte Franziskus denn auch den „Heiligen des Konziliaren Prozesses“ nennen, der sich diese Themenfelder in ökumenischer Verantwortung beispielhaft auf die Fahnen geschrieben hat.

Mit der Konzentration auf diese drei Aspekte ist allerdings auch eine Verengung des Blicks auf den Mann aus Assisi verbunden. Die facettenreiche Gestalt des historischen Franziskus verwandelt sich so leicht in das Klischee eines Sozialrevolutionärs, eines Öko-Lyrikers oder eines Hippie avant la lettre. Für entsprechende Projektionen bietet Leben des Franz von Assisi zweifellos Anknüpfungspunkte. Aber mit dem Giovanni Battista Bernardone, der Ende 1181 oder Anfang 1182 im umbrischen Assisi geboren wurde und der als Franciscus Assisiensis zum Ordensgründer wurde, hat das kaum mehr zu tun als ein Groschenroman mit Weltliteratur.

Über die Lebensgeschichte dieses Mannes sind wir durch zeitgenössische Quellen erfreulich umfangreich, wenn auch zum Teil legenhaft informiert. Der erste Biograph, Thomas Celano, berichtet,  was er nach eigenen Worten „aus seinem eigenen Munde gehört und von glaubwürdigen und zuverlässigen Zeugen erfahren“ hat. Neben einer Lebensbeschreibung im Auftrag des Papstes fasste er eine weitere im Auftrag der franziskanischen Ordensleitung ab, in die auch die Erinnerungen von drei Lebensgefährten von Franziskus („Dreigefährtenlegende“) eingingen. Obwohl diese Biographien im Laufe der Jahrhunderte zugunsten eines geglätteten Franziskus-Bildes dem Verdikt der Ordensleitung verfielen und vernichtet werden sollten, haben sie sich doch bis heute erhalten. Sie vermitteln ein adäquateres Bild als die späteren Lebensbeschreibungen des Bonaventura von Bagnoregio (1221–1274).

Eine Jugend als Playboy

Als Franziskus in Assisi das Licht der Welt erblickt, befindet sich sein Vater, der wohlhabende Tuchhändler Pietro di Bernardone, gerade auf einer Handelsreise in Frankreich. Seine Mutter Pica gibt ihm den Namen Giovanni; doch als der Vater heimkehrt, erhält er von diesem den Rufnamen Francesco („Französchen“). Die Eltern lassen Franziskus eine vergleichsweise gute Bildung angedeihen. In seiner Jugend zählt für ihn aber vor allem sein eigenes Vergnügen. Mit seinen Altersgenossen feiert er rauschende Partys und gibt dabei das Geld seines Vaters mit beiden Händen aus. 1202 wird das lockere Leben durch einen Krieg gegen die Nachbarstadt Perugia beendet. Franziskus gerät im Laufe des Feldzugs in Gefangenschaft und kommt erst ein Jahr später gegen eine Lösegeldzahlung seines Vaters wieder frei.

Aus dem Kerker in Perugia bringt er nicht nur eine schwere Krankheit mit, die ihn lebenslang belastet, sondern auch eine tiefe persönliche Verunsicherung. In der Folge zerbricht sein bisheriges Lebensideal, die höfische Lebensform eines Ritters. Er zieht sich aus seinem bisherigen Freundeskreis zurück und wird statt auf rauschenden Festen plötzlich in Gesellschaft von Bettlern und Aussätzigen gesehen. Statt das Geld seines Vaters für Wein, Weib und Gesang zu verprassen, verschenkt er nun Waren aus dessen Lagerhaus als Almosen.

Berufungsvision und Leben in Armut

Was ist der Grund für diese radikale Lebenswende? Franziskus hat eine Reihe von Visionen, die entscheidende im Jahr 1205. Er sitzt in der halb zerfallenen, kleinen Kirche in San Damiano bei Assisi und meditiert über dem dortigen Bild des gekreuzigten Christus. Plötzlich hört er dessen Stimme: „Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät.“ Franziskus versteht dies zunächst ganz wörtlich und macht sich die Instandsetzung des Gotteshauses zur Aufgabe: Er erbettelt Baustoffe und begibt sich mit eigenen Händen an die Arbeit. Über kurz oder lang wird im aber klar, dass sich der Auftrag nicht nur auf das Kirchengebäude, sondern auf die Institution der Kirche als ganze bezieht. Damit wird der Ruf vom Kreuz zu einer Berufung im umfassenden Sinn: Franziskus weiß sich beauftragt, den geistlichen Verfall der Kirche zu bekämpfen und sie neu zu ihrem Gründer zu bekehren.

„Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät.“

Es dauert nicht lange, bis der neue Lebenswandel zum erneuten Konflikt und zum völligen Bruch mit dem Vater führt: Weil Franziskus Waren und Geld aus dem Geschäft seines Vaters für seine Bautätigkeit und für wohltätige Zwecke verwendet, macht dieser ihm schließlich den Prozess. Während der Gerichtsverhandlung im Jahr 1207 zieht Franziskus sich nackt aus und wirft seinem Vater vor versammelter Menge die Kleider vor die Füße: „Von jetzt an kann ich frei sagen: ‚Vater, der du bist im Himmel‘, nicht: Vater Pietro di Bernardone. Ich gebe ihm nicht nur das Geld hier zurück, sondern ich verzichte auch auf alle Kleider. So will ich mich nackt zum Herrn auf den Weg machen“.

Mit dieser eindrucksvollen Zeichenhandlung löst Franziskus nicht nur alle familiären Bindungen und verzichtet auf sein Erbe. Er stellt sich mit ihr auch demonstrativ in die Nachfolge des am Kreuz seiner Kleider beraubten Christus. So wird die Szene im doppelten Sinne zum Ausgangspunkt einer neuen Lebensform: Zum einen lebt Franziskus nun außerhalb der Stadtmauern in selbst gewählter Armut und muss sich seinen Lebensunterhalt erbetteln. Zum anderen sieht er sich mehr und mehr in einer besonderen Beziehung zu dem gekreuzigten, die Erlösung vollziehenden Christus. Dass beides zusammen gehört, bestätigt sich für ihn im Jahr 1208, als er während der Messe das Evangelium von der Aussendung der Jünger in Matthäus 10 hört. Den Anspruch Jesu an seine Jünger, nicht nur ohne Reichtümer, sondern in völliger Besitzlosigkeit zu leben, bezieht Franziskus unmittelbar auf sich selbst. Von da an geht er barfuß, nur noch mit einer einfachen Kutte bekleidet, und lehnt nicht nur jeden Besitz, sondern sogar jeden Kontakt mit Geld strikt ab.

Dies wird auch zur Leitregel der kleinen Gruppe, die sich dem Bußprediger bald anschließt – unter ihnen weitere Angehörige der Oberschicht. Die Männer leben unter dem Spott und der Verachtung ihrer Umgebung in Reisighütten auf dem Gelände einer kleinen Kirche. Sie unternehmen mehrere, Predigtreisen durch Mittelitalien, die ihnen aber keine wachsende Anhängerschaft, sondern lediglich den Ruf der Ketzerei einbringen.

Ordensgründung und Konflikte mit der römischen Kurie

Als im Frühjahr 1209 die Gruppe auf zwölf Gefährten angewachsen ist, begibt sie sich nach Rom. Um dem Vorwurf der Irrlehre zu begegnen, beantragen die Brüder die päpstliche Billigung für ihre Lebensweise in Buße und Armut. Sie legen dafür eine aus Evangelien-Zitaten bestehende „Regel“ zur Genehmigung vor. Gegen die darin vorgesehene Bußpredigt hat Papst Innozenz III. nichts einzuwenden. Die radikale Armutsregel stößt jedoch auf Skepsis und Widerstand – zu sehr stehen andere Armutsbewegungen wie die Katharer oder Waldenser bereits im Visier der Kurie und unter dem Verdacht der Häresie. Erst nach längeren Befragungen und Interventionen von Fürsprechern wird im Herbst 1210 die päpstliche Erlaubnis erteilt. Franziskus gibt der damit entstandenen Bruderschaft den Namen Ordo Fratrum Minorum (Orden der geringeren Brüder).

Was niemand erwartet hatte: Während der folgenden zehn Jahre breitete sich die franziskanische Gemeinschaft über ganz Europa aus und wird zu einer Massenbewegung. Immer mehr Männer aus allen gesellschaftlichen Gruppen sind vom neuen, radikalen Lebensstil des Ordens beeindruckt und treten ihm bei. Mit der jungen Adeligen Klara von Assisi, die schon als Jugendliche von Franz fasziniert war, schließt sich ihm im Jahr 1211 erstmals auch eine Frau an. Sie begründet den Frauenzweig des Franziskanerordens, die Klarissen.

Mit der jungen Adeligen Klara von Assisii schließt sich 1211 erstmals auch eine Frau dem Orden an. Sie begründet den Frauenzweig des Franziskanerordens, die Klarissen.

Je größer der Zulauf, umso größer werden allerdings auch die Bedenken der römischen Kurie. Sie drängt Franziskus vom radikalen Armutsgebot Abstand zu nehmen. Als der Ordensgründer im Jahr 1219/1220 als Missionar mit den Kreuzfahrern in Ägypten unterwegs ist, spitzt sich der Konflikt auch innerhalb der Gemeinschaft zu. Unter den Brüdern werden die Rufe nach einer Lockerung des Armutsgebotes lauter. Bei seiner Rückkehr nach Italien ist Franziskus nicht nur durch Krankheit geschwächt, sondern sieht sich auch massivem Druck ausgesetzt. Schließlich tritt er als Leiter des Ordens zurück und erklärt sich mehr oder weniger widerwillig bereit, die Ordensregel anzupassen. Die neue, bis heute gültige Regel (Regula bullata) kommt nicht ohne Redaktion durch die römische Kurie zustande. Sie wird im Jahr 1223 von der Ordensversammlung angenommen und anschließend vom inzwischen amtierenden Papst Honorius III. genehmigt. Die radikale Armutsforderung ist in ihr im Hinblick auf die Anforderungen des Lebens in einer massiv gewachsenen Ordensgemeinschaft abgeschwächt. Die Annahme von Geld bleibt den Brüdern aber auch darin untersagt.

Franziskus zieht sich nach diesen Ereignissen als Eremit auf den Berg La Verna zurück. Dort lebt er bis zu seinem Tod im Jahr 1226, von Krankheit ausgezehrt und unter zunehmender Erblindung. Um einer weiteren Verwässerung seines Armutsgebotes vorzubeugen, untersagt er in seinem Testament jegliche Kommentierung der Ordensregel. Dies verhindert aber nicht, dass nach seinem Tod die Auseinandersetzungen neu aufflammen. Papst Gregor IX., der zuvor als Kardinal Hugolino an der Abfassung der Regula bullata selbst beteiligt war, setzt daraufhin das Testament des Ordensgründers außer Kraft und entschärft das Armutsgebot durch zahlreiche Sonderbestimmungen. Damit gliedert er den franziskanischen Orden de facto in das Rechtssystem der Römischen Kirche ein. Zugleich erklärt er Franziskus nur zwei Jahre nach seinem Tod zu einem Heiligen.

Nachfolge Christi statt Sozialromantik

Was ist aus evangelischer Sicht von diesem „Heiligen“ zu halten? Welche Rolle spielen „protestantische Tugenden“ in seinem Leben? Und welche Bedeutung haben die drei erwähnten Schlüsselthemen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung für seine Botschaft wirklich?

Der „Poverello“, wie Franziskus oft genannt wird, taugt im Hinblick auf sein Armutsgebot nicht als Vorbild für jedermann.

Aus dem bereits Gesagten ist klar: Die radikale Armutsforderung des Franz von Assisi ist keine sozialkaritative oder gar sozialrevolutionäre Maßnahme. Es geht nicht darum, dass der Verzicht auf Reichtum oder Güter zu einem sozialen Ausgleich führen möge. Ziel der Armutsregel ist vielmehr, das eigene Leben radikal am Gebot und Vorbild Christi auszurichten. Das ist eine überzeugende Begründung, die aber mit dem modernen Ideal der Gerechtigkeit im Sinne einer gerechten Verteilung der Güter nur indirekt zu tun hat. So lässt sich Franziskus denn auch allenfalls im Hinblick auf die kurzfristige karitative Verwendung seines elterlichen Vermögens für moderne Sozialromantik in Anspruch nehmen. Sein Armutsgebot hat jedoch wesentlich tiefere Wurzeln und ist in der radikalen Form gerade nicht verallgemeinerbar. Der „Poverello“ („der kleine Arme“), wie Franziskus oft genannt wird, taugt in dieser Hinsicht nicht als Vorbild für jedermann.

Erlösung der Schöpfung statt Öko-Ideologie

Ähnlich verhält es sich mit der Indienstnahme des Franziskus für moderne ökologische Ideen. Papst Johannes Paul II. hat den Heiligen zum Patron des Umweltschutzes und der Ökologie ernannt (Patron der Tierärzte war er schon zuvor).  Dass Franziskus dafür wie prädestiniert erscheint, liegt an seinem geschwisterlichen Verhältnis zur Schöpfung. Er war überzeugt, dass auch Tiere und Pflanzen beseelt waren und sah die ganze Schöpfung erfüllt von göttlichem Leben. In seinem berühmten Sonnengesang spricht er sogar Sonne und Mond, Wind und Wasser, Feuer und Erde als Brüder und Schwestern an. Legendär ist die berühmte „Vogelpredigt“, in der die Vögel zum Lob des Schöpfers aufgerufen werden. Und nicht zuletzt geht auf Franziskus die Tradition des Krippenspiels zurück, bei deren Begründung er die Heilige Messe in einer Stallhöhle in Anwesenheit von lebendigen Tieren über einer echten Krippe feierte.

So zweifellos in alledem ein außergewöhnliches Verhältnis zur Schöpfung zum Ausdruck kommt, an das eine Schöpfungstheologie auch im 21. Jahrhundert anknüpfen kann, so weit ist dies doch von modernen Bemühungen des Umweltschutzes entfernt. Die Schöpfungsverbundenheit des Franziskus ist denn auch eher ein Anknüpfungspunkt für moderne Naturromantik oder kindliche Sangesbegeisterung, als dass Franziskus deshalb – wie der Befreiungstheologe Leonardo Boff formuliert – als „westlicher Archetyp des ökologischen Menschen“ gelten könnte. Denn dem Mann aus Assisi ging es nicht um die Bewahrung der Schöpfung, sondern um ihre Erlösung. Nicht nur der Mensch, sondern das ganze Universum, sollte an der göttlichen Erlösung teilhaben. Auch Tiere, Pflanzen und die ganze unbelebte Natur sollten zur Einheit mit ihrem Schöpfer zurück finden. Dies freilich ist kein Werk, das vom Menschen zu vollbringen wäre, sondern das mit dem Erlösungshandeln Gottes geschieht. Wenn man in Franziskus einen Vorläufer der ökologischen Bewegung unserer Tage sehen will, dann sollte man dabei nicht übersehen, dass sein Verhältnis zum „oikos“ mindestens so stark eschatologisch wie schöpfungstheologisch bestimmt war.

Friedfertigkeit und strenger Gehorsam

Seinen Ruf als Mann des Friedens schließlich verdankt Franziskus zum einen dem Friedensgruß, der von den ersten Tagen an der Kern seiner Predigt war: „Einen Gruß hat mir der Herr offenbart: wir sollten sagen: Der Herr gebe dir Frieden“ sowie dem ihm zugeschriebenen Gebet: „O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens“. Dies ging bei Franziskus mit Demut und Gewaltverzicht einher. Beispielhaft zeigt sich dies an seinem Auftreten im Kreuzzug des Jahres 1219: In seiner „Feldpredigt“ prangerte er nicht nur die Grausamkeiten der Kreuzritter an und forderte sie zur Beendigung des Krieges auf. Es ist auch verbürgt, dass er waffenlos dem Sultan gegenübertrat und von ihm ein Friedensangebot an die Kreuzritter überbrachte. Seine Vermittlung blieb aber erfolglos: Die Kreuzritter lachten ihn aus und lehnten das Friedensangebot ab. An diese (gescheiterte) Friedensmission knüpften Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mit ihren Einladungen zum Friedensgebet der Religionen nach Assisi in den Jahren 1986 bis 2011 an.

Der direkte, im Evangelium bezeugte Auftrag Jesu stand für Franziskus am Ende über jeder durch kirchliche Autorität gefassten Entscheidung.

Aber auch in anderen Konfliktsituationen zeichnete sich Franziskus durch Großmut und Kompromissbereitschaft aus. Als der Streit um die Ordensregel eskalierte, ließ er es nicht auf einen Machtkampf ankommen, sondern sorgte durch seine Einwilligung in eine Neufassung der Regel für den Zusammenhalt des Ordens. Diese Friedfertigkeit hat allerdings eine Kehrseite: Es ist die des innerkirchlichen Gehorsams, der sich bis zur blinden Unterwerfung steigern kann. Nicht nur aus taktischen Gründen lag Franziskus sehr daran, jeglichen Anschein von Ungehorsam gegenüber dem apostolischen Stuhl zu vermeiden. Auch aus innerer Überzeugung lehnte er sich nicht gegen die zahlreichen, zum Teil massiven Interventionen aus Rom auf. Die Grenze seines Gehorsams war für ihn allerdings da erreicht, wo er den Kern der göttlichen Offenbarung berührt sah. Seine radikale Armutsregel begründete und verteidigte er mit dem Wort des Evangeliums und der Treue zu seiner Berufung. Der direkte Auftrag Jesu stand für ihn am Ende über jeder durch kirchliche Autorität gefassten Entscheidung.

Franziskus als Vertreter klassisch protestantischer Grundwerte

Darin zeigt sich – bei aller Prägung durch die katholische Hierarchie – nun doch ein „evangelischer“ Zug im Leben dieses Heiligen. Denn die primäre Orientierung an der Botschaft der Bibel, die Eigenverantwortung des einzelnen auch in religiösen Fragen und der Vorrang von Gewissensentscheidungen vor hierarchisch legitimierten Weisungen sind klassisch protestantische Grundwerte. Aus evangelischer Sicht sind dies nicht weniger bemerkenswerte Kennzeichen dieses Heiligenlebens als seine Friedfertigkeit, Naturverbundenheit und Besitzlosigkeit. Mögen im Katholizismus Romantisierung und Verkitschung die größten Gefahren für das Bild des Franziskus sein, so sind es im Protestantismus vorschnelle Indienstnahme und „Verpopung“ (Luise Rinser). Ob man Franziskus zum Vorläufer der Ökopazifisten stilisiert oder den Sonnengesang in Sakro-Pop verwandelt – worum es dem Bußprediger aus Assisi im Kern ging, erschließt sich mit beidem nur wenig. Dafür braucht es den Blick auf die Radikalität seiner Botschaft und seiner gelebten Nachfolge, auch wenn uns das den „Heiligen“ eher fremd denn zum Vorbild macht.

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