Historisch wenig ergiebig und theologisch sinnlos Fünf Anmerkungen zur historischen Jesusforschung

Klaus Wengst sieht nicht, was theologisch dazu nötigen könnte, historisch nach Jesus zurückzufragen. Seine These: Diese Rückfrage hintergeht methodisch notwendig den sachlichen Ausgangspunkt der Evangelien und des ganzen Neuen Testaments, das Zeugnis von der Auferweckung Jesu durch Gott, und das ist eine theologische Unmöglichkeit.

1. Zuerst: die Eigenart der Evangelien bedenken

Der Professor für Systematische und Neutestamentliche Exegese Martin Kähler nennt in seinem berühmten Vortrag vom 7. August 1891 “die Bescheidenheit” als “die erste Tugend echter Geschichtsforschung”. Er fährt fort: “Bescheidenheit kommt von Bescheid wissen; und wer Bescheid weiß mit geschichtlichen Tatsachen und Quellen, der lernt Bescheidenheit sowohl im Wissen als im Verstehen.” (Martin Kähler, “Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus”, Vortrag auf der Wuppertaler Pastorenkonferenz, Leipzig 1892, 6f.)

Kähler hat dabei die Evangelien im Blick, die sich gegenüber der Rückfrage nach dem “historischen” Jesus als sehr widerständig erweisen. Man kann sie literarisch in die Gattung des bios beziehungsweise der vita einordnen. Aber damit ist das Entscheidende noch nicht gesagt.

An markanter Stelle unterscheiden sie sich auch formal von dieser Gattung. Sie beenden die Erzählung nicht mit dem Tod ihres “Helden” und sagen auch nichts über Bedeutung und Nachwirken seines Lebenswerkes. Am Ende steht das Zeugnis von der Auferweckung Jesu durch Gott – ein analogieloses Ereignis, das von historischer Forschung nicht erfasst werden kann, weil es einer ganz anderen Ebene angehört als der historisch verifizierbarer Faktizität.

So begegnet Jesus in den Evangelien nicht als einmal Gewesener und inzwischen Verstorbener, sondern als bleibend lebendig Gegenwärtiger. Das – Gottes endzeitlich-neuschöpferisches Handeln am hingerichteten Jesus und nicht irgendeine Besonderheit am Menschen Jesus – ist der Konstruktionspunkt der Evangelien. Er bestimmt ihre Darstellung durchgehend.

Aspekte des tatsächlichen Geschehens werden in dieser Rückschau so dargeboten, dass den Lesenden und Hörenden das Mitsein Gottes auf dem Weg Jesu deutlich werden soll. Da die Evangelisten Gott aus ihrer jüdischen Bibel kennen, bringen sie Gottes Mitsein mit Jesus dadurch zum Ausdruck, dass sie dessen Geschichte mit ihrer Bibel erzählen.

2. Der Ansatz historischer Jesusforschung als Gegensatz zum Grundsatz der Evangelien

Historische Jesusforschung hat gegenüber den Evangelien als ihren einzig relevanten Quellen ein völlig anderes Interesse, nämlich historisch verwertbares Datenmaterial zu gewinnen. Sie muss es Quellen abringen, die zwar die Geschichte eines bestimmten Menschen im Blick haben, aber sie auf einer anderen Ebene als der bloßer historischer Faktizität bieten. Sie stellen die Geschichte Jesu in die Dimension Gottes und erzählen daher legendarisch. Historische Jesusforschung muss den Konstruktionspunkt der Evangelien ausschalten und hinter den Texten nach dem tatsächlichen Geschehen suchen. Vor dieses Grundproblem sieht sie sich seit ihrem Beginn mit Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) gestellt. Dieser sah, dass die Darstellung der Evangelien ganz und gar auf der – nach ihm betrügerischen – Behauptung der Auferstehung gründet, war aber so optimistisch “die Tünche der Apostel” wegnehmen zu können und so zu dem vorzudringen, was Jesus tatsächlich gesagt und getan hat.

Das ist das Elend aller historischen Jesusforschung, dass sie sich ihre Ausgangsbasis hinter ihren Quellen erst selbst konstruieren muss. Da deren Konstruktionspunkt für sie nicht akzeptabel sein kann, muss sie das jeweilige Gesamtbild der Evangelien und dessen Zusammenhang zerschlagen und erhält somit kontextlose Trümmerstücke, für die sie neue Kontexte imaginieren und zu einem selbstgemachten neuen Gesamtbild gestalten muss.

Daran hat aller Wechsel der Methoden nichts geändert und kann er auch nichts ändern. Das doppelte Differenzkriterium, mit dem man seit Bultmann und dann besonders während der “neuen Frage” sicheren Boden unter die Füße zu bekommen meinte und das notwendig einen unjüdischen Jesus hervorbrachte, hat man fallen gelassen. Es wurde im Lehrbuch von Theißen und Merz durch das doppelte Plausibilitätskriterium ersetzt: “Historisch ist in den Quellen das, was sich als Auswirkung Jesu begreifen läßt und gleichzeitig nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein kann.” (Gerd Theißen/Annette Merz, “Der historische Jesus. Ein Lehrbuch”, Göttingen 1996, 117.)

In den Evangelien ist jedoch alles “als Auswirkung Jesu” dargestellt. Man müsste also schon vorgängig etwas über Jesus wissen, damit dieses Kriterium funktionieren kann. Aber dieses Wissen soll ja allererst mit Hilfe dieses Kriteriums erschlossen werden.

Was den anderen Aspekt betrifft, dass historisch sei, was nur im jüdischen Kontext entstanden sein kann, so greift auch das nicht. Denn die Einsicht bricht sich langsam Bahn, dass das Reden von “christlich”, “Christen” und “Christentum” im ersten Jahrhundert ein Anachronismus ist, dass die aus dem ersten Jahrhundert stammenden neutestamentlichen Schriften – und also auch die Evangelien – von Haus aus jüdische Schriften sind.

Man kann es daher verstehen, dass etwa Wolfgang Stegemann auf Authentizitätsnachweise für einzelne Texte verzichtet und sich allgemein auf die Kategorie der Plausibilität verlegt. Er nimmt aus den Texten für den “historischen” Jesus das auf, was ihm unter dem Gesichtspunkt neuzeitlicher Vernunft als plausibel erscheint.

Allerdings: Plausibel ist, was dem jeweils Argumentierenden als plausibel erscheint. Anderen erscheint anderes als plausibel, wie die äußerst divergenten Jesusrekonstruktionen zeigen, worauf noch einzugehen ist.

3. Das Wenige, was historisch als “sehr wahrscheinlich” gelten kann

David Friedrich Strauß hat in seinem “Leben Jesu” von 1835 unter der historischen Fragestellung sämtliche Evangelientexte einer kritischen Durchsicht unterzogen. Was ich im ersten Punkt als Eigenart der Evangelien herausgestellt habe, dass die Evangelisten aus der Perspektive ihres Glaubens an die Auferweckung Jesu dessen Geschichte betrachten und also auf einer anderen Ebene als der historischer Faktizität darstellen, wird von Strauß mit dem Begriff “mythisch” gekennzeichnet.

Er zitiert aus einem 1832 erschienenen Aufsatz von Usteri als “die richtige Einsicht”, “wie viel an den so entstandenen Mythen geschichtliche Grundlage auf der einen und poetische Symbolik auf der anderen Seite sei, lasse sich jetzt nicht mehr unterscheiden, durch kein noch so scharfes kritisches Messer lassen sich diese beiden Elemente jetzt noch von einander sondern”. (David Friedrich Strauß, “Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Erster Band”, Tübingen 1835 (reprographischer Nachdruck Darmstadt 1969), 70.)

Als Ergebnis seiner Kritik, was sich als “historischer Grund und Boden” der Evangelien ergibt, benennt Strauß “das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu, daß er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdischen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pharisäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche eingeladen habe, daß er aber am Ende dem Haß und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestorben sei”. (A.a.O. 72)

Von den acht Punkten dieses Gerüstes müssen noch zwei, die eng zusammengehören, gestrichen werden, nämlich die den Pharisäismus betreffenden. Das ist im Wesentlichen alles, was eine im Kählerschen Sinn bescheidene historische Kritik als “sehr” oder auch “höchst wahrscheinlich” herausbekommen kann. Was darüber hinausgehend vorgebracht wird, findet sich sofort im Streit der Meinungen wieder: Es kann so, es kann aber auch anders gewesen sein.

Dem entspricht es, dass es in allen Abschnitten der historischen Jesusforschung – wie immer man sie gliedert – ein Chaos unterschiedlichster Jesusbilder gab. Das ist für historische Forschung, die sich der Erkenntnis des tatsächlich Geschehenen nähern will, das ja immer nur ein bestimmtes gewesen sein kann, alles andere als eine Empfehlung.

Käsemann meinte, die “unverwechselbare Eigenart Jesu” herausstellen zu können. Angesichts der Permanenz des Chaos von Darstellungen des “historischen” Jesus muss dieser vielmehr als ein Wechselbalg bezeichnet werden.

Die Unterschiedlichkeit der Rekonstruktionen gründet in der Unterschiedlichkeit der Rekonstrukteure, was sie jeweils aus den Quellen als vermeintlich sichere Ausgangsbasis ansehen, was ihnen jeweils als plausibel erscheint. So hatte schon Martin Kähler 1892 festgestellt, es sei “zumeist der Herren [und inzwischen auch der Damen] eigner Geist, in dem Jesus sich spiegelt”. (Kähler, a.a.O. 14)

Wolfgang Stegemann meint, dieses Phänomen der Selbstspiegelung sei “inzwischen zu einem gleichsam trivialen Argument gegen die historische Jesusforschung geworden”. (Wolfgang Stegemann, “Jesus und seine Zeit”, Stuttgart 2010, 424.) Ob es “trivial” ist, sei dahingestellt; es ist jedenfalls entlarvend.

Neben anderen versucht Stegemann, damit offensiv umzugehen, indem er betont, “dass eine historische Jesusforschung wie alle Geschichtsdeutung und -schreibung eine Konstruktion im perspektivischen Interesse ihrer Autoren ist”. (A.a.O. 24.) Im Blick auf Widersprüche zwischen den Evangelien auf der Ebene des Faktischen meint Stegemann, dass sich “jede aufmerksame Bibellektüre […] irgendwann die Frage stellen muss, was denn nun ‘stimmt’, das heißt welches Evangelium die historischen Ereignisse (am genauesten) abbildet”. (A. a.O. 396.) Diese Frage ist gegenüber den Evangelien unangemessen, weil sie auf einer anderen Ebene darstellen und Widersprüche auf der historischen Ebene dort nichts zur Sache tun. Dagegen stellt sich diese Frage, “was denn nun ‚stimmt‘“, zu Recht und verschärft gegenüber den widersprüchlichen Ergebnissen historischer Jesusforschung, der es ja dezidiert um die historische Ebene geht. Es gibt bei der historischen Jesussuche keinen Fortschritt. Im Nachhinein lässt sich immer wieder nur ihr Scheitern feststellen.

Meine Kritik soll nicht als Verbot historischer Jesusforschung missverstanden werden. Wie sollte ich das Recht haben, ein solches Verbot auszusprechen? Da Jesus eine Person der Geschichte gewesen ist und es Quellen über ihn gibt, kann selbstverständlich historisch nach ihm gefragt werden. Warum sollten Historiker das nicht tun?

Ich wollte lediglich darauf aufmerksam machen, dass angesichts des Charakters der Quellen ein nur mageres Ergebnis erwartet werden kann. Dazu steht die ständig weitergehende immense Produktion von Jesusbüchern in einem krassen Missverhältnis. Vor allem aber ist zu fragen, warum sich Theologen als Historiker gebärden und zu den häufigsten Produzenten von Imaginationen über den “historischen” Jesus werden.

4. Historische Jesusforschung – theologisch notwendig?

Gibt es theologische Gründe für die Rückfrage nach dem “historischen” Jesus? Dafür wird angeführt, dass sich christlicher Glaube auf eine konkrete geschichtliche Gestalt zurückbezieht.

Aber der Glaube bezieht sich auf diese geschichtliche Gestalt aufgrund des Zeugnisses, dass in ihr Gott zu Wort und Wirkung kommt. Das aber ist etwas, das sich nicht historisch verifizieren lässt. Wie sollte der Glaube dadurch wahrer oder gewisser werden, was sich historisch über diese Gestalt feststellen oder imaginieren lässt?

Dass Jesus als Mensch unter Menschen gelebt und gewirkt hat, ist den Evangelien selbstverständlich und muss nicht erst durch historische Forschung dekretiert werden. Die den Evangelien öfters unterstellte oder beifällig behauptete Tendenz zur Vergöttlichung Jesu ergibt sich aus ihrer Lektüre von der späteren altkirchlichen Dogmatik her. In ihrem eigenen jüdischen Kontext gelesen, dienen die dafür beigebrachten Motive dazu, zum Ausdruck zu bringen, dass Gott durch Jesus wirkt.

Die Evangelien erzählen vom Menschen Jesus – wenn man so will: vom irdischen Jesus. Wieso rechtfertigt das theologisch die Suche nach dem “historischen” Jesus, die zu einem Rekonstrukt führt? Doch nur dann, wenn man, was nicht nur bei Käsemann der Fall war, den irdischen Jesus unter der Hand mit dem “historischen” Jesus gleichsetzt.

Im Blick auf “die dritte Suche nach dem historischen Jesus” wird hervorgehoben, dass in ihr Jesus nicht mehr antijüdisch profiliert, sondern dass sein Judesein betont herausgestellt werde. Daraus können gute theologische Folgerungen gezogen werden, wie das bei Wolfgang Stegemann geschieht. (A.a.O. 432f.)

Aber ist denn die Jüdischkeit Jesu ein Fündlein der “dritten Suche”? Sie ist in den Evangelien in aller Selbstverständlichkeit gegeben und muss nicht erst durch historische Kritik nachgewiesen werden.

Ich sehe nicht, was theologisch dazu nötigen könnte, historisch nach Jesus zurückzufragen. Ich sehe aber sehr wohl, dass diese Rückfrage methodisch notwendig den sachlichen Ausgangspunkt der Evangelien und des ganzen Neuen Testaments, das Zeugnis von der Auferweckung Jesu durch Gott, hintergeht, und das halte ich für eine theologische Unmöglichkeit.

Ich sehe weiter, dass diejenigen, die diesen Ausgangspunkt hintergehen und dabei ein theologisches Interesse haben, vom Menschen Jesus, um ihn “glaubwürdig” zu machen, Außerordentliches und Besonderes behaupten müssen. Der Glaube wird so aber abhängig von historischer Wissenschaft, die zudem in diesem Fall aufgrund der Quellenlage nur sehr Dürftiges mit großer Wahrscheinlichkeit sagen kann und darüber hinaus nur immer wieder wechselnde Hypothesengebilde bietet. Zudem ist fraglich, ob diese Wissenschaft überhaupt solche Aussagen machen kann, die Unvergleichliches von einem Menschen aussagen.

5. Was Exegetinnen und Exegeten des Neuen Testaments tun und was sie lassen sollten

Nach dem Dargelegten halte ich es im Blick auf die Evangelien ganz schlicht für unser Geschäft als theologische Exegetinnen und Exegeten sie auszulegen, genauer: die vier kanonisch vorliegenden Evangelien in ihrer Unterschiedenheit. In der Disziplin Neues Testament hat historische Kritik hinsichtlich der Evangelien genug zu tun, wenn sie als ihren Gegenstand die vier kanonischen in ihrer vorliegenden Gestalt betrachtet, jedes für sich als jeweilige Einheit.

Ihre profilierte Unterschiedenheit – für die historische Rückfrage entweder Anlass, die Evangelisten der Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit zu zeihen, oder Anlass zur Verlegenheit, die zu hilfloser apologetischer Harmonistik führt – lässt sich als Gewinn wahrnehmen, wenn man herausarbeitet, wie die in österlicher Perspektive erfolgende Erinnerung an Jesus unter Einbeziehung jeweils inzwischen gemachter unterschiedlicher Erfahrungen in jeweils unterschiedlichen Situationen fruchtbar gemacht wird.

Natürlich sind historische Aussagen über die Entstehungssituationen der Evangelien nie mehr als wahrscheinliche Annäherungen. Sie haben einen heuristischen Wert für die Auslegung. Vor allem helfen sie auch, die Unterschiedenheit zwischen der Entstehungssituation der Texte und der Situation der Auslegenden bewusst zu machen. Diese Unterschiedenheit und die Wirkungsgeschichte der Texte sind in der Auslegung mit zu reflektieren.

Gegenüber der historischen Rückfrage nach Jesus hat die Auslegung der vorliegenden Texte den doppelten Vorteil, dass der Bezugstext, abgesehen von wenigen textkritischen Entscheidungen, für alle Beteiligten identisch ist und nicht erst jeweils selbst und anders hergestellt wird und dass es keine “Opfer an Text” gibt, die bei der Rückfrage unvermeidlich sind. Die Evangelien als ganze bieten als spannungsvolle Einheiten allemal mehr als die für den “historischen” Jesus reklamierten Bruchstücke.

Und schließlich, wenn man meint, den Hinweis auf das Chaos historischer Jesusdarstellungen mit dem Hinweis auf das Chaos von Auslegungen der kanonischen Texte kontern zu können: Wer diese Texte auslegt, kann deren nicht zu erschöpfendes Potenzial würdigen und die eigene Auslegung als eine – hoffentlich mögliche – verstehen, die neben vielen anderen möglichen Auslegungen steht. Der Streit ist dann zu führen zwischen möglichen und unmöglichen Auslegungen. Anders formuliert, es geht um Vielfalt ohne Beliebigkeit.

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