Der Dortmunder Aufstand Vor 50 Jahren formierte sich der pietistische Widerstand gegen eine „moderne“ Theologie

Es ist der 6. März 1966. In der Dortmunder Westfalenhalle versammeln sich 20000 Menschen. Gegen den „Vormarsch der Gottlosigkeit“. Die evangelikale Bewegung erhebt in Deutschland den Anspruch, letzte Hüterin eines unverfälschten Evangeliums zu sein.

Ein Arbeitskreis von 30 Männern (keine Frau), der sich seit Beginn jenes Jahres den Namen „Bekenntnisbewegung KEIN ANDERES EVANGELIUM gegeben hatte, zeichnet als Veranstalter der Kundgebung verantwortlich. Er vertritt Gruppen aus dem landeskirchlichen Pietismus und den Freikirchen, die gegen die so genannte „Bultmann-Theologie“ protestieren.

Der moderne Mensch ‚fasst es nicht‘…

Rudolf Bultmann, seit 1921 Professor für Neues Testament in Marburg, war 1941 mit einem Vortrag „Neues Testament und Mythologie“ hervorgetreten. Seine Wirkung, durch den Krieg verzögert, kam erst danach auf etlichen Kanzeln der Gemeinden an. Bultmann hatte gefragt, wie der moderne Mensch durch die mythische Redeweise von Wunder- und Dämonenglaube im Neuen Testament hindurch dennoch die Anrede Gottes verstehen könne. Seine Antwort: den Mythos nicht eliminieren, sondern existential interpretieren. Auf Kreuz und Auferstehung bezogen: „An das Kreuz Christi glauben heißt nicht, auf einen mythischen Vorgang blicken, der sich außerhalb unser und unserer Welt vollzogen hat, auf ein objektiv anschaubares Ereignis … sondern an das Kreuz glauben heißt, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, heißt, sich mit Christus kreuzigen lassen.“ Unglücklicherweise bürgerte sich bald für Bultmanns Sichtweise der negativ besetzte Begriff „Entmythologisierung“ ein. – Bultmann selbst stand während des Kirchenkampfes im Nationalsozialismus (vgl. evangelische aspekte 3/2015) ganz auf der Seite der Bekennenden Kirche.

… und die Bibel überlebt es nicht?

Wohl bewusst wegen dieser Herkunft aus der wissenschaftlichen Theologie hat man in Dortmund für den Hauptvortrag den Erlanger Universitätstheologen Professor Walter Künneth ausgewählt. Er beklagt, dass die „heilsgeschichtlichen Fakten“, besonders bei Kreuz und Auferstehung in „vage Chiffren“ aufgelöst würden. Andere Redner in Dortmund schlagen wesentlich aggressivere Töne an. Schon in seinem Grußwort hatte der Essener Jugendpfarrer Wilhelm Busch vom „Vormarsch der Gottlosigkeit“ gesprochen. Vom „Verrat am Heiligen Geist“, von „neutestamentlicher Atomzertrümmerung“, von „Sturmangriff auf die Bibel“ ist die Rede. Schlagzeilen in ausgelegten Schriften lauten: „Er ruft Menschen in seinen heiligen Krieg“ oder „Partisanentum des Atheismus“. Es sei Zeit, so heißt es, wie im „Dritten Reich“ eine neue „Bekenntnisbewegung“ zu begründen.

Gerade dies veranlasste den Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann zu einer ausgesprochen polemischen Reaktion. Käsemann, Schüler Bultmanns und während des Nationalsozialismus teilweise inhaftierter Pfarrer der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen, beruft sich darauf, dass in seiner Gemeinde Glieder „aus ost- und westpreußischen Gebetsvereinen und schlesische Pietisten“ unter seiner Kanzel gesessen und ihm vertraut haben.

Keine Angst vor der Freiheit des Christenmenschen!

Er sagt: „Wer heute in der Weise der sogenannten Bekenntnisbewegung die moderne Theologie bekämpft, hat … nichts vom Lebensraum der Christen begriffen … Das beherrschende Element des christlichen Lebens ist heute die Angst vor der Freiheit des Christenmenschen … Ordnung ist seit langen Jahrhunderten das Gerüst, an das man alles Leben und Bekennen der Kirche nagelt. Die Botschaft vom Kreuz ist und bleibt explosiv.“

Karl Barth (vgl. evangelische aspekte 3/2014), ein ausgesprochener Gegner der Theologie Bultmanns, reagiert mit ganz anderen Argumenten. Er fragt, warum die Teilnehmer in Dortmund nicht gegen die Aufrüstung der westdeutschen Armee mit Atomwaffen protestierten, gegen Vietnamkrieg und Antisemitismus. Wenn das Dortmunder Zeugnis für Kreuz und Auferstehung dies nicht einschließe, dann sei es ein „Mücken seihendes und Kamele verschluckendes und also pharisäisches Bekenntnis.“

„Kein anderes Evangelium“ – ein zweites „Barmer Bekenntnis“?

Die Tendenz der Dortmunder Initiatoren, ihr Anliegen auf die Ebene der Bekennenden Kirche im „Dritten Reich“ zu heben, ist stark. Deshalb veranstalten sie schon im November des Jahres 1966 eine entsprechende Kundgebung in Düsseldorf, im Gebiet der Rheinischen Kirche, der Heimat des „Barmer Bekenntnisses“ von 1934. Bewusst diesem Bekenntnis nachgebildet, formulieren sie sieben Thesen, gegliedert in Bekenntnis- und Verwerfungssatz.

Sie bringen damit den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Professor Joachim Beckmann, in eine gewisse Verlegenheit. Einerseits hat auch er durchaus Vorbehalte gegen bestimmte Inhalte der Theologie Bultmanns. Andererseits ist er als Leiter einer Landeskirche um Zusammenhalt bemüht. Er erklärt: „Wir dürfen ihre Vertreter (der „modernen Theologie“) nicht einfach verdammen oder exkommunizieren, wie manche das für notwendig halten. Wohl aber können wir nicht verschweigen, dass wir schwere Bedenken gegen gewisse Vorentscheidungen dieser Theologie haben.“

Rudolf Bultmann selbst, schon im 82. Lebensjahr, reagiert ganz unaufgeregt: „Die gegen mich in der Dortmunder Westfalenhalle erhobenen Vorwürfe sind mir völlig gleichgültig. Ich treibe meine Arbeit in dem Bemühen, dass wir nichts gegen die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit  tun können. So steht es im zweiten Korintherbrief (13,8).“

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