Schlüsse aus Geschichten ziehen Theologie und Geschichte als Lernwissenschaften

Kann man aus Geschichte lernen? Jedenfalls kann man aus Geschichten Schlüsse ziehen, meint Manfred Schütz und stellt zugleich die Konzeption der Artikelserie „Theologie und…“ vor.

Der Historiker Johann Gustav Droysen beschreibt die Methoden der Geschichtswissenschaft mit drei Schritten. Erstens gehe es darum, das vorhandene historische Material in den Blick zu nehmen. Also Denkmäler und weitere Überreste, Aussagen von Zeitzeugen… Zweitens sei dieses kritisch zu sichten und zu prüfen – hinsichtlich der Echtheit, der Abfolge zwischen Früherem und Späterem…. An dritter Stelle stehe dann die Interpretation.

Droysens „Historik“ gilt als ein Klassiker seines Fachs. Was auffällt: So logisch und so nachvollziehbar das Vorgehen ist, ein detailliertes Methodenideal bietet es nicht. So mangelt es auch nicht an Kritteleien am „unwissenschaftlichen Charakter“ und Anwürfen, dass mangels festgelegter Prinzipien ja jeder beliebige Schriftsteller sich zum Geschichtsschreiber aufwerfen könne. Droysen geht verschiedentlich und ausdrücklich darauf ein. Die Frage steht im Raum, was die Geschichte „ist“, was sie für uns bedeutet.

Steine zum Sprechen bringen

Als Droysens Grundlagenwerk 1868 als Buch erscheint, ist die Geschichtswissenschaft noch eine junge Disziplin. Als eigenständiges Fach wurde sie tatsächlich erst im 19. Jahrhundert an den Universitäten etabliert. Zwar hat sich seither etliches getan. Die Sozialwissenschaften haben ihre Forschungsansätze geltend gemacht. Es wurden stärker als bisher Konstanten in der Anthropologie thematisiert. Doch auch heutige Einführungen in „die Geschichte“ bieten hinsichtlich vorgegebener Methodik nicht allzu viel. Flapsig formuliert: Geschichte hat eigentlich nur Quellen und Überliefertes (davon unzählig viel), doch kaum ausgearbeitete Methoden.

Die Aufgabe des Historikers ist buchstäblich und oft: Steine zum Sprechen bringen. Über ganze Epochen der Erdgeschichte gibt es nur „unsprachliches“ Material. Die „steinernen Überlieferungen“ aus der Vergangenheit gelten in vieler Hinsicht gar als besonders zuverlässig – wie etwa bei Grenzstreitigkeiten zwischen Gutsbesitzern nicht so sehr darauf geachtet wird, was Bauer A oder Bauer B dazu sagt. Zur Urteilsfällung begibt man sich stattdessen lieber ins Gelände, direkt vor Ort, um zu sehen, wo der Grenzstein liegt. Ist dieses festgestellt, dann kann es nur noch um die Frage gehen, ob er immer schon hier stand, heimlich verlegt wurde, ob er rechtmäßig hier aufgestellt ist, etc. Der aufgesuchte Stein spricht eine klare Sprache. Das gilt sogar dann, wenn er nicht vorzufinden ist.

Theologie und Geschichte

Auch für die Theologie zählt der Umgang mit Überliefertem zum festen Grundbestand. Schon deshalb gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der Geschichtswissenschaft. Gemeinsam ist das Interesse an dem, was vordem war. Gemeinsam das Interesse, wie das Überlieferte ins Heute kommt, wie es wirkt und wirken soll.

Cicero: Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens?

Aber hat die Geschichte uns überhaupt etwas zu sagen? Betrifft mich das? War das nicht alles eine andere Zeit? Für die Altvorderen hieß es „Historia magistra vitae“, Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens (Cicero). Demnach ergibt sich aus der Geschichte Bedeutungsvolles für die Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinn treten sowohl die Theologen als auch die Historiker mit einer positiven Erwartungshaltung an die Historie(n) heran.

Geschichte oder Geschichten?

Wie die „Profangeschichte“ kennt dabei auch die Theologie „sprechende Steine“. Interessanterweise wird es ja stets dann lebendig, wenn bei Ausgrabungen ein neuer Fund zu Tage kommt. Wie kürzlich, als in Wittenberg über die Überreste aus Martin Luthers mutmaßlicher Küche berichtet wurde. Nun habe man endlich einen authentischen Einblick und Zugang auf die wahre Persönlichkeit des Reformators…

Bezeichnenderweise scheint der Historiker gerade hier, bei den „unsprachlichen“ Rahmendaten, die präzisesten Methoden zu besitzen. Etwa die C14-Methode zur Radiokarbondatierung aus der Archäologie. Oder wenn mit quantitativen Auswertungen die ausschlaggebenden Bevölkerungsstrukturen für Entwicklungen in der Geschichte erhoben werden.

Zwischenfrage: Die Geschichte? Gibt es die Geschichte überhaupt? Ist nicht vielmehr von den Geschichten zu reden, den vielen verschiedenen, die immer subjektiv sind und subjektiv bleiben? Erst in der Neuzeit kommt ja die Singularvokabel „die Geschichte“ in qualifizierter Weise auf. Vormals sprach man im Plural von „Geschichten“. In postmodernen Zeiten wird wiederum die Zersplitterung in die vielen verschiedenen Einzelgeschichten herausgestellt.

Wort und Wissenschaft

Besondere Nähe zwischen Theologie und Geschichte gibt es schließlich bei sprachlichen Überlieferungen. Für beide Wissenschaften bilden diese Textquellen den größten Anteil. Berichte, Briefe, offizielle Verlautbarungen, Verhandlungen… Nur, welche mündlichen und schriftlichen Quellen sind als Geschichtsquelle heranzuziehen? Hier treten Fragen nach der Echtheit auf. Fragen nach der Richtigkeit und Wahrheit (vgl. Droysen). Und zwar sowohl, was die Richtigkeit der Quellen anbetrifft, als auch die Richtigkeit und Angemessenheit der sekundären Auswertung und Darstellung. Wort und Wissenschaft, könnte man leicht abstrahierend sagen, sind hier das Thema.

Wie kommt der Geist in die Geschichte?

Hier, an dieser Stelle, hat die Theologie der Geschichtswissenschaft sogar etliches voraus. Denn vom frühesten Beginn an existiert das Christentum ja als Erzählgemeinschaft, die auf ihre eigene Ursprungsgeschichte kontinuierlich reflektiert. Im Umgang mit Überlieferungen ist die Theologie geübt. Durch eine jahrhundertelange Tradition der Auslegungsgeschichte kennt sie sich aus mit Textauslegung, mit mündlichen und schriftlichen Quellen sowie deren aktueller Zu- und Aneignung.

Aus Geschichten Schlüsse ziehen

Schon die neutestamentlichen Autoren legen Wert darauf, ‘nur das weiterzugeben, was sie selbst empfangen haben’ (1. Kor 15,3). Tradition kommt schließlich von tradere (lat.: Weitergeben, überliefern). Auf die Frage, was begründet uns historisch, worin gründet unsere (historische und soziale) Identität, wird andauernd und ausdrücklich rekurriert.

Wenn man so will, ist dies schon durch den Stifter selbst der Theologie in die Wiege gelegt. Als Wanderprediger erzählt er hintergründige Geschichten, vom barmherzigen Samariter, vom gütigen Vater, vom Reich Gottes, usw. Und schon alsbald wird sein eigenes Ergehen, seine eigene Geschichte zum Hauptinhalt, siehe Evangelien. Hier wie da kreist vieles um die Frage, was die Geschichte sagt und „ist“, was sie den Nachfolgenden bedeutet: Welche Schlüsse nun daraus zu ziehen sind.

Geschichte als Lernwissenschaft

Wie also kommt der Geist in die Geschichte? Indem sich die Geschichtswissenschaft damit beschäftigt, was Geschichte „ist“ und was sie uns bedeutet, ist sie (Achtung, jetzt wird es theoretisch) vielleicht am besten als eine kritische Lernwissenschaft zu charakterisieren. Sie lehrt zu unterscheiden zwischen dem, was die Geschichte von sich aus sagt, was andere über sie sagen, interpretiert beides aus ihrer eigenen Sicht – und wird so selbst Geschichte. Geschichtswissenschaft lehrt und lenkt den Blick darauf, wie Geschichte auf Geschichte folgt…

So weit, so gut. Doch kann man aus Geschichten lernen? Können Geschichten Magistra Vitae, Lehrmeisterin des Lebens sein („Lernt von mir“)? These: Lernen, ja. In gewisser Weise viel (etwa über die eigene Herkunft sowie Prägungen). Vor allem aber kann man daraus Schlüsse ziehen, wo man selber steht – Selbsterkenntnis in Zustimmung und Differenz.

Theologie als kritische Lernwissenschaft

Wie die Geschichte ist Theologie als Lernwissenschaft zu kennzeichnen.

Denn wie die Geschichtswissenschaften zieht die Theologie 1. konkrete Schlüsse aus Geschichten. Hier ist etwas zu lernen, was man vorher noch nicht weiß. Die Theologie lernt dabei 2. substantiell von anderen Wissenschaften. Aus inneren Gründen arbeitet sie interdisziplinär. Das macht ihre Vielschichtigkeit aus, bietet aber auch eine Gefahr des permanenten Abdriftens. Plötzlich ist Theologie dann nur noch Geschichte. Oder nur noch Philosophie. Nur noch Psychologie. Oder nur noch eine Mischung aus diesem allem… Hier gilt es dann das jeweils Eigene der Theologie ins “Spiel“ zu bringen. 3. Die Theologie ist schließlich auch in diesem Sinne eine Lernwissenschaft, als sie dazu anleiten will, in welcher Weise (und in welcher nicht) Theologie unter wissenschaftlichen Ansprüchen ‘gelehrt’ werden kann.

In diesem Rahmen – „das Wort und die Wissenschaften“ – bewegt sich unsere Beitragsreihe insgesamt. Sie ist an der „Scharnierstelle“ verortet und sucht exemplarisch Brückenschläge zwischen den Wissenschaften auf ihre Belastbarkeit hin zu erproben, auf Übereinstimmungen und Differenzen. Doch keine Sorge, bei alledem bleiben wir stets mit einem Augenzwinkern unterwegs, wohl wissend, wo wir uns befinden: In der Theologischen Werkstatt – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit in diesem Rahmen oder gar auf ein ultimatives „Non-Plus-Ultra“ der Artikel. Wir machen einfach Probewerkstücke und Experimente…

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