Ich möchte, dass irgendwas von mir bleibt Leben und Sterben im Netz

Daten jeglicher Art ins Netz zu stellen will gut überlegt sein. Dennoch schreiben Menschen persönlichste Dinge ins Internet-Tagebuch, über ihr Schicksal, über ihr Leben und Sterben. Warum? Eine Antwort im Selbstversuch.

An einem Tag im Oktober 2013 saß ich am Esstisch und fasste mir aus einem Impuls heraus an eine Stelle an meiner rechten Brust, etwa auf halbem Wege zum Schlüsselbein. Direkt auf die Stelle, wo eine Verhärtung, eine Art Knoten zu spüren war. Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ausgerechnet dorthin gefasst habe. Aber da war etwas, das komisch war, das da nicht hingehörte. Ich rief beim Frauenarzt an und bat um einen Termin. Man bot mir einen im nächsten Monat an. Ich legte auf. Rief wieder an: „Was, wenn es Krebs ist? Können Sie mich nicht vorher irgendwie einschieben?“

Der Knoten wurde wegen seines Aussehens im Ultraschall als harmloses Fibroadenom eingeordnet, eine Bindegewebsansammlung. Kein Grund zur Sorge. Ich wurde schwanger, der Knoten wuchs. Auf mein vehementes Drängen hin wurde der Knoten biopsiert, also eine Gewebeprobe entnommen. Am 1. April 2014 sollte ich das Ergebnis bekommen. Ich ging früher von der Arbeit heim. Andere Telefonate wimmelte ich ab. Dann der Anruf mit der Nachricht: Krebs in der Schwangerschaft. Was für ein Horror! Wie soll man sowas im Kopf (oder im Bauch) überein kriegen? Das beginnende Leben im Bauch, das Sterben in der Brust. Der Krebs „ernährte“ sich zum Teil von den Hormonen. Man riet mir zur Abtreibung, damit man mich besser behandeln könne. Krebs in der Schwangerschaft ist selten, die Schwangerschaft selbst bedeutet eine Komplikation bei der Krebstherapie.

“Ich fand heraus, dass beides zusammen geht, Schwangerschaft und Krebstherapie.” (Heike Schmidt-Langer)

Ich fand heraus, dass beides zusammen geht. Der Krebs konnte behandelt werden, ohne die Schwangerschaft ernsthaft zu gefährden. Es war ein langer, schwieriger Weg, voller Stolpersteine, auch bürokratischer. Vieles wurde entschieden, die Entscheidung dann im Verlauf wieder umgeschmissen, ein kompetentes Ärzteteam war im ständigen Austausch und auch wir Eltern mussten permanent wachsam sein. Ich war erst im fünften Monat schwanger, der Bauch konnte noch übersehen werden und Ärzte sind auch nur Menschen. Permanent fragten wir nach, widersprachen („Nein, kein Kontrastmittel!“), fanden in enger Absprache mit „unserer“ Ärztin einen eigenen Weg. Ich bekam einen Port. Dann die erste Chemo. Noch vor der zweiten Runde heirateten wir, um eine gewisse Rechtssicherheit für den Fall der Fälle zu haben.Foto

Eine digitale Welle der Unterstützung

Wie setzt man sich mit dem Tod auseinander, während man damit beschäftigt ist, um zwei Leben zu kämpfen? Wie freut man sich auf ein Baby, wenn dafür eigentlich gar kein Raum ist? Wohin mit meinen Gedanken und Erfahrungen, die so fernab jeglicher Normalität waren? Ich schrieb darüber auf Twitter und auf meinem Blog. Ich erhielt unglaubliche Unterstützung im Internet. Es war gut, nicht allein zu den Chemos zu müssen, die sich mit jedem Mal mehr wie ein Gang zum Schafott anfühlten – schließlich werden nicht nur die Krebszellen vergiftet – sondern von vielen Menschen digital begleitet zu werden. Sie, wie auch viele Menschen aus meiner realen Umgebung, trugen mich durch diese Zeit und ich ließ sie teilhaben. Berichtete auf Twitter, auf Instagram und im Blog über Fortschritte, aber auch über Rückschritte und Situationen der Überforderung. Eine Gruppe aus meinem virtuellen Umfeld fand sich zusammen, um beim NCT-Lauf in Heidelberg Gelder für die Krebsforschung zu sammeln. Diese Gruppe läuft seither jedes Jahr dort mit – und ich inzwischen mit ihnen.

Trotz Isolation Teil des Ganzen

Die Chemotherapie schwächt das Immunsystem. Um mein Leben und das ungeborene Leben nicht zu gefährden, musste ich mich weitgehend isolieren – keine öffentlichen Veranstaltungen, keine Menschenansammlung. Aufgrund der Corona-Situation erleben wir die Isolation, soziale und kulturelle Einschränkungen gerade im Kollektiv. Wir erfahren alle hautnah, dass uns persönliche Nähe fehlt, wenn wir unsere Verwandten nicht umarmen dürfen, um sie nicht zu gefährden und nicht gefährdet zu werden. Dennoch machen viele gerade die Erfahrung, dass menschliche Zuwendung digital ebenfalls funktioniert. Vielleicht sind auch Sie in diesen kontaktarmen Zeiten mehr auf digitale Wege umgestiegen? Video-Telefonie oder -Konferenz, Messenger – es ist kein Substitut für eine echte Umarmung, für ein Gespräch im selben Raum, aber es funktioniert.

Meine Gedanken mussten irgendwohin, ich brauchte das Gefühl, trotz meiner partiellen Isolation Teil eines Ganzen zu sein. Das Internet war nah, verfügbar, ich fand dort zu jeder Tages- und Nachtzeit Zuspruch, Gleichgesinnte, Unterstützung, ja, Freunde.

Im Internet fand ich zu jeder Tages- und Nachtzeit Zuspruch, Gleichgesinnte, Unterstützung.

Wer chronisch krank ist, hat insgesamt weniger Energie. Braucht aber andererseits eigentlich viel mehr davon für sämtliche Auseinandersetzungen mit Behörden, Krankenkassen, Ärzten usw. Wenn ich kräftemäßig am Ende war, war selbst ein Telefonat zu viel. Ein Tweet aber, damals noch nur 140 Zeichen, das geht (fast) immer.

Kommunikationsmedium Online-Tagebuch

Der Tumor wurde unter der Chemo etwas kleiner. Das Baby entwickelte sich gut, wuchs aber langsam. Dann die OP zur Tumorentfernung. Die Wunde musste heilen, was unter Chemo aufgrund ihrer Wirkung auf die komplette Zellteilung nicht möglich ist. Eineinhalb Monate später die (eingeleitete, man musste schließlich mit der Therapie fortfahren) Geburt eines zarten, gesunden Mädchens mit sehr dichtem Haarschopf. Nun konnten auch andere Chemos eingesetzt werden, weil ich nicht mehr schwanger war. Die Bestrahlung folgte, danach Reha. Die Chemotherapie nach der Geburt schwächte mich so sehr, dass ich nicht mehr als 10 Minuten, auf den Kinderwagen gestützt laufen konnte – mit gerade mal 35 Jahren. Das macht das Leben klein und das Internet ungemein nah.

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Ein weiterer Vorteil, den das Internet-Tagebuch (Blog oder Twitter) für mich bot: ein paar Zeilen dort informierten (fast) mein komplettes Umfeld über den aktuellen Stand. Eine höchst effiziente Methode, die meinem Energiehaushalt sehr entsprach.

Enttabuisierung des Sterbens

Inzwischen gelte ich als geheilt. Mein virtuelles Umfeld gibt es immer noch. Ich habe Freunde vor Ort, aber auch Freunde im Internet. In Notfällen sind sie da, die einen physisch, die anderen virtuell. Seither habe ich viele Schicksale in meinem digitalen Umfeld miterlebt. Unsere Geschichten im Netz helfen, Krankheiten und auch das Sterben zu enttabuisieren. Über Krebs hat man lange Zeit nicht gesprochen. Er ist ja meist nicht zu sehen, zumindest am Anfang. Die Perücke gibt’s auf Rezept, sie verdeckt die offensichtliche Folge der Chemotherapie, den Haarausfall. Ich hatte nie eine Perücke, spielte von Anfang an mit offenen Karten, ging mit Glatze raus, wenn es warm genug war, mit Tuch oder Mütze an den anderen Tagen. Diese Form des offenen Umgangs mit der Krankheit war gut für mich und hat auch meiner Familie geholfen. Sie ist sicher nicht für jede*n das Richtige. Auf meinem Weg zu dieser Umgangsform hat mir das regelmäßige Formulieren meiner Ängste und Erlebnisse auf Twitter geholfen.

Auch das Sterben hat in unserem Alltag, in unseren Kulturkreisen keinen Platz mehr. Es spielt sich fast ausschließlich in fiktionalen Geschichten ab, etwa dem Sonntagabend-Krimi. Lediglich in Gotteshäusern gibt es noch eine Trauerkultur. Abseits davon bleibt der Tod eine abstrakte statistische Größe, die uns nichts angeht.

Schon lange ist Sterben eine oft einsame Angelegenheit und jetzt, während der Pandemie erst recht. Nur wenige Angehörige dürfen in die Krankenhäuser, im Falle einer Covid-19-Erkrankung sogar nur im Schutzanzug. Bestattungen können anonym erledigt werden und von Trauernden wird schon nach kurzer Zeit erwartet, dass sie wieder funktionieren.

Dem Wahnsinn im eigenen Kopf entfliehen

Von Regina las ich auf Twitter. Sie bekam mit 25 Brustkrebs diagnostiziert. Dann Metastasen in den Knochen, in Leber und Lunge. Sie musste ihr Medizinstudium abbrechen, kämpfte mit Herzmuskel- und Lungenentzündungen. Im Oktober 2018 schrieb sie im Blog von Kathrin, einer anderen an Krebs erkrankten Twitterin, einen Gastbeitrag. Ihre Motivation dazu formuliert sie ganz klar: „Ich möchte etwas hinterlassen. Ich möchte, dass irgendwas von mir bleibt.“ Sie starb einen Monat später, aber ihre Worte bestehen weiter.

Die Gastgeberin auf diesem Blog, Kathrin, schrieb zu ihrer Motivation, ihre Erlebnisse mit anderen im Internet zu teilen: „Mit dieser Seite versuche ich dem Wahnsinn in meinem Kopf zu entfliehen. Zwar helfen Gespräche aber manchmal möchte ich es auch so leise wie möglich in die Welt hinausschreien…und mich nicht ständig wiederholen. Ein Ventil für mich…“

Ein Ventil kann es auch für Angehörige sein. Kathrins Mann führt seit ihrem Tod den Blog weiter. Er schreibt auf dem Blog über die Trauerfeier, über die Armut, die mit chronischen Krankheiten, vor allem in jungen Jahren, oft einhergeht, über das (vergangene) Leben mit seiner Frau und das jetzige ohne sie.

Abschied und Gedenken im Netz

Andere Angehörige lassen Blogs und Social Media-Accounts von Verstorbenen einfach stehen, ob mit Gedenkstatus oder Eintrag über den Tod des Accounts-Inhabers oder auch gänzlich unberührt. Manche Accounts verschwinden auch mit oder schon kurz vor dem Tod ihrer Inhaber. Wenn dies bewusst vorher geschieht, gibt es oft noch einen Abschiedspost des/der schwer Erkrankten. Mit den engsten digitalen Vertrauten werden eventuell noch Handynummern ausgetauscht, um bis zuletzt verbunden bleiben zu können. Es ist schön, wenn jemand seinen Weg bis zum Schluss so selbstbestimmt gestalten kann. Ein offener Umgang mit dem Leben und dem Tod macht auch das gemeinsame Erinnern leichter.  Im gemeinsamen Trauern, in der Erinnerung können wir uns gegenseitig stützen, digital wie analog. Manche trauern ganz privat für sich. Manche lieber gemeinsam. Manche brauchen Unterstützung, vielleicht sogar finanzieller Art, andere möchten in Ruhe gelassen werden oder brauchen erst mal Zeit. Das ist im Netz wie im realen Leben auch. Hier, in meinem Heimatdorf, funktioniert das Aufgefangen werden nach einem plötzlichen Todesfall noch ganz analog. Stirbt jemand, dann wird der Trauernde in der ersten Zeit nach dem Tod regelmäßig von allen möglichen Leuten aus dem Dorf besucht, darf reden und erzählen. In größeren Städten mag das vielleicht nicht mehr so funktionieren, aber das Internet, das ist auch so ein Dorf.

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1 Gedanke zu „<span class="entry-title-primary">Ich möchte, dass irgendwas von mir bleibt</span> <span class="entry-subtitle">Leben und Sterben im Netz</span>“

  1. Diese Gedanken haben mich tief berührt. Dass das anonyme Internet eben auch neue Freunde schaffen kann und Themen abdeckt, an die man sich im echten Leben vielleicht nicht herantraut. Ein aufwühlender ehrlicher Text einer jungen Frau die immer wieder aufsteht. Diesen Mut wünsche ich uns allen.

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