Sehnsucht nach Spiritualität Selbstbestimmung, Religion und seelische Heilung

Spiritualität ist ein Modewort. Moden mögen flüchtig sein, sie sind aber nicht immer schon Unsinn. Da die Veränderungen im religiösen Feld mit rasantem Tempo vor sich gehen, lohnt es sich, dieser Mode genauer nachzugehen.

Typisch für Phänomene, die auf Resonanz stoßen, ist zunächst, dass sich unter den einschlägigen Begriffen ganz verschiedene Vorstellungen versammeln. Was unter „Spiritualität“ eigentlich gemeint sei, ist keineswegs klar. Die Ideen reichen von einer privatisierten Religiosität christlicher Herkunft bis hin zu esoterischen und exotischen Vorstellungen und Praktiken. Immer aber wird Religion als Erfahrungsphänomen aufgefasst und als Sache der einzelnen Individuen. Spiritualität ist erlebte Religion, oder doch zumindest die Suche nach ihr.

1. Was ist im Leben wirklich wichtig?

Es ist sinnvoll, den Begriff Spiritualität nicht allzu weit zu fassen. Sie meint zunächst nichts anderes als die religiöse Praxis eingespielter Übungsformen, also von Atemtechniken (Meditation), asketischen Praktiken, Pilgerschaft und allen ritualisierten Unterbrechungen des Lebens. Da alle diese Praktiken erlebnisintensiv sind, verbindet sich mit ihnen automatisch eine bestimmte Sicht auf das Leben, also eine spirituelle Haltung. Das ist es, was mit dem Begriff „spirituell“ in der Regel gemeint ist. Es geht dabei nicht um verschrobene Esoterik, sondern um eine nüchterne Besinnung auf das, was im Leben wirklich wichtig ist.

Mit ihrer Erlebnisorientierung wendet sich die spirituelle Sehnsucht von einer dogmatisch fixierten, theologisch abstrakten und oft genug selbstzentrierten Kirchlichkeit ab. Sie strebt keine Glaubenswahrheit an, keine feste Zugehörigkeit zu einer Gruppe, und schon gar keine Unterordnung unter sakrale Autoritäten. Sie zielt auf eine Erfahrung, die das eigene Leben neu ausrichten und auf einen tragfähigen Grund stellen kann.

Spiritualität als Kern der Religionen

Damit zielt Spiritualität auf das, was Religion im Kern eigentlich ausmacht. Religion ist mehr als „Kontingenzbewältigung“ oder als „Transzendenzbezug“, und sie ist auch mehr und anderes als Glaubensdogma und sakrale Praxis. Religion ist eine Deutung der Welt und des Lebens, die auf eine umfassende, faszinierende und prägende Erfahrung zurückgreift.

Meist wird diese Erfahrung von einem Religionsstifter gemacht, oder auch von einer Gruppe, oder sie entsteht im Lauf eines langen Traditionsstromes. So, sagt diese Erfahrung, ist die Welt: eine Ansammlung von Leid (so der Buddhismus), eine unlösbare Mischung aus Gegensätzen (so der Taoismus), die Verpflichtung zur Unterwerfung unter einen außerweltlichen Willen (so der Islam), ein Wunder an Schönheit und Gnade (so das Christentum) usw. Diese Sicht der Welt prägt Überzeugungen aus, verschafft sich Anhänger und religiöses Personal, übersetzt sich in Geschichten, Heilige Schriften, in Ethik, Symbole und Riten. Spiritualität versucht, diese Deutung der Welt immer wieder neu erfahrbar zu machen und in das eigene Leben zu holen.

2. Moderne Lebenssituation und seelische Leiden

Es ist kein Zufall, dass die Wertschätzung der Spiritualität etwa in demselben Maße zunimmt, wie die gegenüber den Kirchen abnimmt. Denn offensichtlich wird in den Kirchen eine Glaubenswelt gepflegt, die mit den Fragen und Nöten der späten Moderne kaum noch vermittelbar ist.

Die Lebenssituation ist inzwischen vor allem durch die Schattenseiten der autonomen Selbstentfaltung gekennzeichnet. Immer mehr Menschen empfinden Leistungsdruck, Erfolgsorientierung und Selbstverantwortung als tendenzielle Überforderungen. Verbreitet ist die mehr oder weniger vage Empfindung: „Es stimmt etwas nicht, ich bin aus dem Gleichgewicht, ich fühle mich leer“. Erschöpfungserscheinungen aller Art verbreiten sich geradezu epidemisch: Lustlosigkeit, Burnout, Depressivität und Demenz. Immer öfter wird die Frage nach dem Sinn gestellt: „Wozu das alles?“

Die Freudlosigkeit vieler Menschen ist in starren Gesichtern und eingesunkenen Körperhaltungen deutlich ablesbar – sie ist andererseits aber schon wieder so normal geworden, dass sie kaum noch wirklich auffällt. Zudem ist Cool-Sein, der Ausdruck scheinbarer Überlegenheit und möglichst perfekten Funktionierens, eine Haltung geworden, die als erstrebenswert gilt.

Der Preis der „freien Selbstbestimmung“

Die freie Selbstbestimmung ist zur modernen Grundhaltung geworden. Sie orientiert sich an eigenen Bedürfnissen, die an die Stelle des althergebrachten Gehorsams, der Pflichterfüllung und der Autoritätshörigkeit treten. Das Leben erscheint dadurch als bunt und voller Entfaltungs- und Erlebnismöglichkeiten.

Selbstbestimmung braucht allerdings eine Entschiedenheit und Klarheit, die es gerade angesichts der immer unüberschaubarer werdenden Möglichkeiten immer weniger gibt. Selbstbestimmung geht auch auf Kosten des Eingebunden-Seins in alles, was größer ist als ich selbst: Gemeinschaft, Natur, Kultur, Religion. Das Leben wird zum Projekt, dessen Ziele man selbst festlegt.

Zunehmende Selbstbespiegelungen (Wie geht es mir eigentlich?) und die Lustlosigkeit befriedigter Bedürfnisse – die „Melancholie der Erfüllung“ – machen aus dem autonomen und selbstbestimmten Menschen eine Karikatur: den eingesunkenen, mit sich selbst beschäftigten, abwesenden und freudlosen Menschen, der sich immer mehr in seine eigene Isolation einspinnt.

Was zu Gunsten der selbstmächtigen Aktivität verloren geht, ist der Ursinn von re-ligio: Die Erfahrung der Ver-bundenheit, der verlässlichen Beziehung und des Gehalten-Seins. Genau dies ist wohl der Hauptgrund dafür, warum Spiritualität derzeit so attraktiv ist. Sie ist die erfahrene re-ligio: die spürbare Verbindung zum Leben.

3. Sehnsucht nach religiöser Orientierung

Auf die skizzierten seelischen Verwerfungen geben weder die vernunft-philosophische Tradition (etwa der „kategorische Imperativ“ nach Kant), noch die eingespielten Glaubensthemen der christlichen Religion eine tragfähige Antwort. Einem seelisch erschöpften Menschen unserer Zeit, dem sein Leben als sinnlos erscheint, ist mit einer Ermahnung zu kräftigerem Glauben nicht weiterzuhelfen.

Das Christentum empfiehlt sich in seiner etablierten Form nur noch sehr eingeschränkt für seelische Entwicklungen.

Das Christentum empfiehlt sich in seiner etablierten Form nur noch sehr eingeschränkt für seelische Entwicklungen. Seine tiefe Lebensklugheit muss inzwischen regelrecht aus Trümmern hervorgeholt werden. Die christliche Heilsgeschichte, die das Leben unter den übergeordneten Ablauf eines urzeitlichen Sündenfalls, einer am Kreuz geschehenen „Erlösung“ und einer endzeitlichen Errettung der Glaubenden stellt, ist da kaum noch nachvollziehbar. Nicht „Sünden“ sind für den modernen Menschen ein Problem, sondern weit eher die geschilderten seelischen Nöte. Kaum jemand vermag alte metaphysische Wahrheiten noch auf sein eigenes konkretes Leben zu beziehen. Gesucht sind konkrete, erfahrbare und in den Alltag umsetzbare Schritte.

Das Christentum erstarrt in religiöser Kultur

Was allen Religionen ganz automatisch passiert, ist auch im Christentum eingetreten: Die ursprüngliche religiöse Inspiration, die im Christentum die religiöse Erfahrung der unbedingten Gottesnähe ist, hat sich längst in die Formen einer religiösen Kultur übersetzt. Sie ist dort inzwischen weitgehend erstarrt und wird zunehmend seelenlos verwaltet. Sie verkümmert unter rituellen Routinen, gläubigen Richtigkeiten und theologischer Abstraktion.

Im Christentum muss das in Zeiten einer „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) und einer massiven Individualisierung, in der die Menschen nach dem persönlichen Nutzen fragen, überdeutlich auffallen. Es erklärt den Sinkflug der christlichen Institutionen Kirche und Theologie – und es erklärt auch die gesteigerte Nachfrage nach Spiritualität. Nicht mehr Glaube oder Frömmigkeit sind angesagt, denn die beziehen sich allzu sehr auf einen vorgeordneten Glaubenskosmos, der immer unverständlicher wird und kaum noch Erfahrungsbezüge erkennen lässt. Sondern es ist die persönlich spürbare Religiosität, die interessiert.

4. Kontaktaufnahme mit dem Wissen der Religion

Mit der Sehnsucht nach solch einer erfahrungsnahen Religion verbindet sich die Ahnung, dass Religion eine klügere Deutung der großen Fragen bieten kann als die moderne Selbstbestimmung mit ihrer Ausrichtung an Leistung, Erfolg und Konsum.

Von der Selbstzentrierung über den Schmerz zur Individuation

Echte Spiritualität hat eine sehr enge Nähe zur Selbstentwicklung. Daher gibt es keine ernsthafte Spiritualität ohne die Idee eines Weges und der geduldigen Übung. Vielleicht ließe sich daher die Pilgerschaft als spirituelle Urform verstehen.

Wer immer sich ernsthaft einer spirituellen Übung verschreibt, muss mit der Konfrontation mit dem Schmerz rechnen. Darin aber hat die Spiritualität gerade ihr heilsames Potential. Wer das Negative nicht flieht und verdrängt, sondern anschauen und letztlich akzeptieren kann, kann ein freierer Menschen werden. Ihm wird ein Satz wie der von Meister Eckhart: „Wenn Gott dir ein Leiden schickt, ist das das allerbeste“ nicht mehr als dumme Provokation erscheinen, sondern als eine seelische Notwendigkeit oder gar als Selbstverständlichkeit.

Ein nüchterner Blick auf den Menschen

Im Christentum nimmt der spirituell Übende Kontakt mit einer kulturgeschichtlich ebenso einmaligen wie seelisch heilsamen Realistik auf. Der Mensch wird hier mit einer geradezu drastischen Nüchternheit gesehen. Adam, Kain, selbst der Erfolgsmensch David, Hiob, der klagende Jeremia und allem voran die Passion und das Kreuz des Jesus sind Gegenbilder zu jeder Form der Idealisierung und der illusionären Beschönigung. Die Passionsgeschichte ist Aufklärung in ihrer tiefsten Form: wer liebt, macht sich verletzlich und zieht die Wut derer auf sich, die auf Sicherheiten setzen – lebt aber unbedingt besser und sinnvoller.

Die Passionsgeschichte ist Aufklärung in ihrer tiefsten Form: wer liebt, macht sich verletzlich.

Möglich ist dieser Blick der jüdisch-christlichen Tradition durch die grundlegende Beziehung zwischen Gott und Mensch geworden, die sich in Begriffen wie „Ebenbild Gottes“, „Bund“ und „Liebe“ ausdrückt – Urformen der re-ligio, des Bezogenseins. Sie sieht den Menschen aus einer weiteren und dadurch nüchterneren Perspektive heraus.

Eine neue Sicht auf das Leben

So kann auch die Angst vor der Freiheit, dem seelischen Grundproblem schlechthin, in einem tieferen Vertrauen überwunden werden. Das Streben nach Sicherheit, Macht, Ansehen, Erfolg und anderen Formen steriler Stabilität kann einer risikobereiten Lebendigkeit und einer Zumutung des Aufbruchs weichen, wie ihn die Großen der Religion vor Augen führen: Abraham, Mose, die Propheten, Jesus, Franziskus, Luther.

Es ist alles andere als Zufall, dass das erste Wort Jesu der Aufruf zur Wandlung ist: „kehrt um!“, genauer übersetzt: „verändert eure Sichtweise!“ Wiedergeburt, Erleuchtung, Erwachen sind Begriffe für das Ziel des spirituellen Weges. Es geht um eine gesteigerte Lebendigkeit und eine neue, befreitere Sicht auf das Leben.

5. Spiritualität als Heilungsweg

Im Kern geht es der Religion daher immer um eine gesteigerte und veränderte Wahrnehmung, die zu einer veränderten Haltung der Akzeptanz führt. Dasselbe Ziel haben alle Formen von Therapie, weshalb zwischen beiden auch eine enge Verbindung besteht – auch wenn das die Vertreter beider Seiten gerade auf Grund der großen Nähe oft nicht wahrhaben wollen.

Spiritualität ist praktizierte Religion. Fast immer beginnt der Weg mit einem vergrößerten Leidensdruck. So kann es nicht weitergehen! Die Spiritualität setzt daher ganz grundlegend auf Formen der Unterbrechung. Statt Alltag, Gedankenmühle, Terminplan und Stress bietet sie eingespielte Übungsformen an, die es erlauben, sich einmal neben den „ganz normalen Wahnsinn“ zu stellen.

Übungsformen der Spiritualität

Atmen, Meditieren und Beten sind die bekanntesten davon. Aber auch alle Formen der Askese zählen dazu, vor allem das Fasten und der Verzicht auf Suchtmittel. Noch deutlicher wird das beim Pilgern, für das eine tageweise, meist eine mehrtägige oder gar mehrwöchige Unterbrechung gewählt wird. Generell wird das auch in allen Formen von Auszeit-Nehmen deutlich: im Kultus, der den Wochenrhythmus durch eine geweihte Zeit am Sonntagmorgen unterbricht; aber auch in den mehr oder weniger unbewussten Formen von Traum und ritualisiertem Tanz. Es ist eingespielter therapeutischer Jargon, wenn Menschen von sich sagen, sie müssten einmal „in die Wüste gehen“. Dafür kommt eine lange Wanderung ebenso in Frage wie eine Kur, ein Rückzug in die Einsamkeit der Natur oder eines Klosters, oder eine Therapie. Als kombinierte und eher strenge Form bieten inzwischen viele Klöster Exerzitien an.

Der Weg zur inneren Befreiung

Spiritualität ist individuell lebbare und selbst verantwortete Religion. Immer braucht sie den klaren Aufbruch und die bewusste Übung. Dann kann sie zu einer Veränderung der Haltung führen, die als befreiend erlebt wird. Es ist jene Bewusstwerdung, auf die alle großen Religionen mit ihren Traditionen zielen: „Nicht die Dinge sind es, die dich hindern. Du selbst bist es, der sich in den Dingen hindert. Darum fang bei dir selbst an und lass dich!“ (Meister Eckhart). Die eigene Einstellung verändern, zu Gelassenheit finden: das klingt nach wenig, und ist doch das Größte, was ein Mensch erleben kann.

Zum Weiterlesen

Joachim Kunstmann: Leben eben! Religion für Sinnsucher – eine Anleitung, Gütersloher Verlagshaus, 240 S., 17,99 EUR, ISBN 978-3-579-08156-4.

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