Vorbild, nicht Führung Theologie und Journalistik

Eine kritische publizistische Öffentlichkeit wird in Deutschland in der Reformationszeit erstritten und ertrotzt. Nicht zuletzt deshalb ist die Berichterstattung zu 500 Jahre Beginn der Reformation ein ausgezeichnetes Terrain, um den Zusammenhang von Theologie und Journalistik zu bedenken.

Die Presse ist die Vierte Macht im Staate. Um zu wirken, braucht sie Öffentlichkeit, ohne Öffentlichkeit kein Journalismus. Der virtuelle Raum, in dem sich eine freie Presse entwickeln kann, besteht aus einem mehr oder weniger großen Publikum mit der Option zu freier Rede und zu Gegenrede. Das gilt für Text, Bild, Bewegtbild oder Ton. Indem sich solche Öffentlichkeit konstituiert, folgt die Frage, wer im Medienstrom das Wichtige und Interessante herausgreift, aufbereitet und kommentiert. Der journalistische Beruf entsteht. Mit neuen Medien (wie dem Internet) stellt sich dieselbe Frage, in neuem Gewand. Dabei geht es immer auch darum, wer die Meinungsführung in der Öffentlichkeit gewinnt.

Mit der Reformation wird Journalismus erst möglich

Solche kritische Öffentlichkeit entsteht erstmals in der Reformation. So urteilt schon Robert E. Prutz in seiner Geschichte des Journalismus von 1845: „und ist mithin erst […] mit der Reformation […] der Journalismus selbst möglich geworden“.  Kritisch ist diese Öffentlichkeit, weil nicht aufgrund von Vorgabe und Zwang, sondern in der Suche nach den richtigen Kriterien über diskutierte Themen entschieden werden soll: „Lasset die Geister aufeinanderplatzen […] Aber die Faust haltet stille“ (Martin Luther). Öffentlichkeit wurde es, weil der Buchdruck damals den Akteuren die Mittel dazu in die Hand legte. In der Feier 500 Jahre Reformation bedenkt oder feiert der heutige Journalismus also auch die Schaffung der Grundlagen seiner eigenen Profession.

Es heißt: „Jede Zeit bekommt die Medien, die sie verdient.“ Der Kalauer lässt sich beliebig fortsetzen, etwa: jedes Land bekommt die Wirtschaftsbosse, die es verdient, jede Zeitung die Ressorts-Chefs…, aber mit dem Verdienstgedanken soll man vorsichtig sein und die Sache ist zu ernst, um damit zu spaßen.

Die Entstehung der Öffentlichkeit

Die kritische Öffentlichkeit wurde gegen nicht geringe Widerstände „ertrotzt“. Wie weit vorausgreifend diese Errungenschaft war, zeigt die Tatsache, dass es alsbald zu empfindlichen Rückschritten kommen und Jahrhunderte dauern würde bis zur Akzeptanz. Es ist nur ein kurzes Aufflackern, durch Luther entzündet. Das Bild von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen (Heinrich Heine) – selten ist es so angebracht wie hier. Doch zusätzlich zu den Errungenschaften ist der versäumten Gelegenheiten zu gedenken. Die Grundlage des Journalismus entsteht im 16. Jahrhundert. Doch: Ist die Reformation damit nicht zugleich Steigbügelhalter für jenen unseligen Partei- und Kampagnen-Journalismus, der uns bis heute so zu schaffen macht? Vielleicht liegt es auch hieran, dass das heurige Erinnern an 500 Jahre Reformation für manche in erster Linie Anlass „tiefer Trauer“ ist, oder sein sollte.

Gemeinsame Ursprünge von Reformation und Journalistik

Nicht nur im historischen Ursprung, sondern schon der Sache nach haben Journalistik und Evangelische Theologie viel gemeinsam. Beiden geht es um Wahrheit: um die Kriterien rechter Wahrheitssuche. „Die Achtung vor der Wahrheit […] und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ So steht es im Pressekodex des Deutschen Presserats, erster Satz. Die Journalistik als wissenschaftliche Disziplin sucht klarzustellen, nach welchen Methoden, Darstellungsformen, mit welchen Informationsquellen journalistische Arbeit vonstattengehen soll. Die zeitenthobene Journalistik ist dabei zum Tagesgeschäft des Journalismus ein Korrektiv und manchmal auch ein „Widerpart“ (Klaus Meier).

Journalistik und Evangelische Theologie geht es beiden um die Kriterien rechter Wahrheitssuche.

Auch die 95 Thesen, die nach überwiegender Meinung der Forschung am 31. Oktober 1517 an die Wittenberger Schlosskirche „angeschlagen“ wurden, sind überschrieben: „Aus Liebe zur Wahrheit…“ sollen die nachstehenden Sätze diskutiert werden. Das Abwägen von Meinung und Gegenmeinung gehört zum Wesen der akademischen Disputation. Luther stellte sich mit Überzeugung solch öffentlicher Debatte, exemplarisch die Leipziger Disputation (1519) mit dem damals angesehenen Kontroverstheologen Johannes Eck. Sie dauerte mehrere Wochen. Sogar eigenen Streitschriften fügt Luther oft Schriften der Gegner im Originaltext an. Der Leser soll sich selbst ein Urteil bilden. Durchaus vorbildlich…

Die Suche nach der Wahrheit

Was ist Wahrheit? Hinsichtlich des diesjährigen Reformations-Gedenkens lautet die Frage gleichsinnig: Was war und ist die Reformation? Zu sagen, es habe nur die Einzelgestalt Luther gegeben, wäre töricht. Selbst Kritik am Ablass gab es schon vor 1517. Die Reformation war ein Geschehen auf breiter Front. Als historische Größe, die Gesellschaft, Staat, Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur, Kunst, Musik und, ja, auch „die Religion“ nachhaltig in Bewegung brachte, kann sie ja als das Faktum, das sie ist, weder für Deutschland, noch Europa, noch viele weitere Regionen der Welt geleugnet werden. Auch von katholischer Seite wird freimütig eingeräumt, dass viele Anliegen der Reformation weit verbreitet und berechtigt waren. Heute vertritt niemand, Ablass gegen Bares zu verkaufen. Im Jahre 1570 legte Papst Pius V. fest, dass exkommuniziert wird, wer mit Ablass handelt.

Doch kann auch die historische Größe des Wittenberger Theologen, meistgelesenen Schriftstellers der Zeit, Komponisten, Dichters, Bibelübersetzers, Kirchenvaters, Rhetorikers, Sprachschöpfers, Bildungs- und Universitätsreformers Luther kaum verschwiegen werden. Frühere Generationen und Geistesgrößen wussten noch davon, wie Herder, Lessing, oder Heinrich Heine: „Ruhm dem Luther […] von dessen Wohltaten wir noch heute leben! […] Der Zwerg, der auf den Schultern des Riesen steht, kann freilich weiter schauen als dieser selbst, besonders wenn er eine Brille aufgesetzt; aber zu der erhöhten Anschauung fehlt das hohe Gefühl, das Riesenherz […]“

Reformationsgedächtnis und journalistisches Ethos

Das Reformationsgedächtnis scheint bislang zuerst ein heuristisches Geschehen, also zu weiterer Erkenntnis der eigentlichen Sache und zu deren zugrundeliegenden Wirkmechanismen (erst noch) führend. Heuristische Anliegen verfolgt prinzipiell die Journalistik im Blick auf die öffentliche Kommunikation. Es trifft sich hier das Anliegen stets notwendiger Medienkritik mit einem schönen Lutherwort, der bei der Auslegung zum 1. Gebot des hebräischen Dekalogs zu der analytischen Meisterformulierung kommt: „Woran du nun dein Herz hängst … das ist recht eigentlich dein Gott.“ Gott und Götter, das können (auch heimliche) Gesichtspunkte sein, die ein Leben, einen Redaktionsplan oder einen Leitartikel lenken. Für etliche davon ist man bereit, kleine oder größere Opfer zu bringen. Manchmal sogar das journalistische Ethos.

Die Probe aufs Exempel

Auch in der heutigen öffentlichen Kommunikation wird nach bestimmten Gesichtspunkten sortiert, kommentiert und präsentiert. Auch deshalb ist die Berichterstattung zu 500 Jahre Reformation ein dankbares Terrain, um das Thema „Theologie und Journalistik“ zu beleuchten, live, im praktischen Vollzug: als Probe aufs Exempel. Vier Beispiele für Baustellen:

  • Nachdem der erste Pulverdampf des publizistischen Feuerwerks zu „2017“ verraucht ist, beginnt die Zeit, um seriöse von unseriösen, substanzielle von leichtgewichtigen Beiträgen zu trennen. Immer hilfreich, weiß der Journalist, ist eine gewisse Quellenkenntnis. Was für Abgründe tun sich da auf… Nicht, dass jeder Reformations-Experte wäre, wir Evangelischen am wenigsten. Doch manche Beiträge und Bücher bauen sich fast vollständig aus der – sehr unsicheren – Quellenüberlieferung der sog. Tischreden Luthers auf, also sekundäre Nachschriften von Dritten. Das geht gar nicht!
  • Dann ist da die Sache mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten. Isolierte Sätze lassen sich effektvoll einsetzen, das ahnt der Journalist – schließlich arbeitet man selbst nach der Methode im täglichen Geschäft. Doch zumindest anderen Akteuren im Wissensdiskurs sollte man es nicht unbemerkt durchgehen lassen. Dazu gehörten geschichtliche Einordnungen und auch theologische. Wo bleibt der historische Verstand? Wir sprechen über Kontexte aus einem halben Jahrtausend Abstand…
  • Schließlich das viel verhandelte Archiv-Problem: Ein Blick ins Redaktionsarchiv verschafft vertieftes Vorwissen. Doch besteht so auch die Gefahr fortgesetzten Schubladendenkens, ein Autor schreibt vom andern ab – das funktioniert auch medienübergreifend –, der Blick für Neues geht verloren. Leicht kolportiert das unbelegte Behauptungen und Falschmeldungen. Wie die, Luther sei ein übler Bauernhasser (dazu unten mehr).
  • Prinzipiell war im Reformationsjahr, wie es nicht anders sein konnte, mit lancierten Beiträgen von interessierten Kreisen fest zu rechnen. Das liegt etwa an nachklingenden konfessionellen Animositäten, die auch über Kontinent- und Ländergrenzen wirken. Anderes ist schon von ferne als die religionsverächtliche Darstellung kirchlicher Positionen erkennbar, an die man sich hierzulande geradezu gewöhnt hat.

Journalismus mit Distanz

Ziffer 9 des Pressekodex lautet immerhin: „Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen zu schmähen.“ Man hat das Problem teils dadurch gelöst, dass man in der Berichterstattung auf religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen schlicht generell verzichtet hat. Doch Fragen nach Tod und Ewigkeit, nach Sinn und gutem Handeln gehören auch zur Wirklichkeit…

Dem Leser überlassen, was er daraus macht.

Wie sagte Hanns Joachim Friedrichs, früherer Anchorman der ARD-Tagesthemen: Der gute Journalist soll sich nicht gemein machen mit einer Sache. Also besser vorbildlich dem Rezipienten überlassen, was er daraus macht. Seinen „Beruf“ – übrigens wie Max Weber zeigte, eine sprachliche und inhaltliche Schöpfung Luthers – erfüllt der Journalist dann eben darin, dass er bewusst Abstand und methodisch Abstinenz zu seinen eigenen ganz persönlichen „Göttern“ hält. Klarmachen muss man sich aber allemal, dass es grundständige Journalistik in Deutschland erst seit ca. 40 Jahren gibt.

Die Reformation – ein spirituell-geistliches Ereignis

Die Reformation war nun eben auch ein geistlich-spirituelles Ereignis. Die Kirchen begehen 2017 als Rückbesinnung auf die „Christus-Botschaft“, also als Erinnerung an den Konnex von Gottvertrauen und Nächstenliebe (Mt 22,37-39), also an die Menschenfreundlichkeit Gottes, also an die Gottes-Ansage, die den Menschen „in die Krise“ führt (Lk 9,24), ihn aber auch in seiner Größe thematisiert (Mt 5,13-15). Groß Denken vom Menschen ist ein urchristlicher Topos. Die Ursprungsbotschaft des Christentums bedeutet die Umwertung der Werte oder wie Luther pointiert: das Lernen einer „neuen Sprache“ (nova lingua), weil durch das provokative Christusgeschehen jede Sache eine neue Bedeutung erhält.

Bannt der Kirchentag Luther ein zweites Mal?

Sollte nun ausgerechnet der Open-Air-Thinktank des Protestantismus – der Evangelische Kirchentag – 2017 in Wittenberg den Zug verpassen? Wird Luther gar, wie angedroht, vom Kirchentag gebannt? Das wäre schade, Interessantes böte er genug: Luther, der Exeget (Bibelausleger). Die Reformation als Bildungsoffensive. Luther, der Gesellschaftstheoretiker, der im Kern die damalige Ständegesellschaft auflöst (was zuvor auf die drei Stände Wehrstand, Lehrstand, Nährstand aufgeteilt war, vereint Luther innerhalb jeder einzelnen Person, vgl. Theologie und Ökonomie, aspekte 3/2016). Die lutherische Theologie von Buße, Vergebung und Gewissen, die der deutschen Öffentlichkeit endlich einen heilsamen Umgang mit der NS-Vergangenheit eröffnen kann.

Endlich, denn es wäre nötig; die Themen, die bislang Aufmerksamkeit erwecken, zeigen insgesamt, dass es nicht nur die ersten Hundertjahrfeiern in internationalem und ökumenischem Geist sind, sondern auch die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg. So zieht das Menschsein des Menschen Neugierde auf sich – das liegt nahe nach ideologieverseuchten Erfahrungen totalitärer unmenschlicher Systeme… Und kriegerische Ereignisse wie die Bauernaufstände (1524/25) finden Resonanz.

Luther der Friedensaktivist

Damit zu Luthers angeblichem Hass auf alle Landwirte. Viele Forderungen der Bauern unterstützte Luther und stellt sich persönlich vor Ort. Schon ab 1522 warnt er vor Gewaltanwendung. Beide Parteien verweist er strikt auf den Rechtsweg. War das abschätziger Hass? Er redet auch den Fürsten ins Gewissen. Luther agiert als Friedensaktivist. Eilig verbreitet er den Friedensvertrag von Weingarten.

Die Bauern wollen nicht warten. Sie gehen durchaus blutrünstig vor (Weinsberger Bluttat), brandschatzen und plündern: Es ist ein heraufziehender, brutal geführter Bürgerkrieg, der viel Blut kosten würde. In diesem Kontext sind die scharfen abwehrenden Äußerungen Luthers zu hören, die oft kontextlos zitiert werden. Seine Argumentation, die Wortwahl im Einzelnen einmal beiseite, war am Friedenserhalt und am Recht orientiert.

Wie ein historisch gerechtes Urteil aussieht, möchte man da eher als „offen“ bezeichnen (vgl. die Standard-Luther-Biographie von Martin Brecht und die von Armin Kohnle. Die vier bis fünf wichtigeren Beiträge Luthers zum Bauernkrieg sind nachzulesen in der Suhrkamp-Ausgabe von K. Bornkamm / G. Ebeling (Hg.): Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Insel-Verlag, 6 Bde.; eine Ausgabe teils zwar mit eigenwilliger Textauswahl, aber mit sorgfältig erstellten Einführungen – gerade im Vergleich zu manchen eher ungelenken Textsammlungen wie zuletzt erschienen.)

Selbst für konfessionelle Rechthaberei taugt der Bauernkrieg nicht. Als der katholische Herzog Georg seine Truppen zur Niederschlagung des Aufstands losschickte, tat er dies nicht aus reformatorischem Eifer. Wie denn auch die Ablehnung der Bauernforderungen gerade auf der „altgläubigen“ Seite deutlich war. Luther indes hält sich nicht in feiner Distanz. Er begibt sich mitten ins Geschehen, mögliche Fehleinschätzungen inklusive. Pathetisch die Historikerin Ricarda Huch: „Luthers Leben war ein fortwährendes Ausüben der Liebe […]. Er wandte sich nicht mit vornehmer Verachtung von der Welt ab, sondern warf sich mitten in sie hinein…“

Vorbild sein, statt führen wollen

Guter Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er überzeugen, nicht überreden will. Gute Theologie ebenso. Beiden ist gemeinsam, dass sie Kriterien für die Wahrheitssuche kennen, benennen und im öffentlichen Diskurs argumentativ zur Verfügung stellen sollten. Durch Vorbild überzeugen…

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