Ich bin das Erleben meines Hirnzustands Unser Seelenleben und unsere Freiheit hängen am seidenen Faden intakter Hirnfunktion

Der im Folgenden vertretene monistische Materialismus besagt, dass alle psychischen Prozesse materiell verursacht sind und es eine davon unabhängige geistige Instanz nicht gibt. In welchem Sinne kann unser Wollen und Handeln dann aber noch frei genannt werden?

Die Vorstellung, der menschliche Körper werde von einer immateriellen Seele bewohnt, die der Sitz aller psychischen Prozesse sei und die in der Freiheit des Geistes außerhalb der natürlichen Kausalketten Entschlüsse fassen und mittels des Körpers in der physischen Welt realisieren könne, ist aus mindestens zwei Gründen nicht haltbar:

Die Physik lässt keinen Raum für eine Seele

Es gibt, erstens, viele physische Vorgänge ohne psychische Dimension (z.B. rollt irgendwo ein Sandkorn einige Millimeter), aber umgekehrt keine psychischen Vorgänge ohne physische Dimension (z.B. Wahrnehmung, Sprechen usw.). Die physische Dimension aller realen Phänomene – einschließlich derer, die eine psychische Dimension aufweisen – lässt sich idealiter jeweils vollständig und ohne unerklärlichen Rest mit den Mitteln der modernen Physik beschreiben. Physische Vorgänge unterliegen ausschließlich der Notwendigkeit (Naturgesetze) und dem Zufall, ein Eingriff übernatürlicher, immaterieller oder sonstiger außerphysischer Faktoren oder Akteure ist auch im Rahmen der modernen Physik undenkbar (vgl. Satz von der Energieerhaltung / 1. Hauptsatz der Thermodynamik). Das Gehirn ist ein mit dem Gesamtorganismus und dessen Umwelt vielfach vernetztes Organ, in welchem biochemische und neurophysiologische Prozesse ablaufen, die sich restlos naturgesetzlich beschreiben lassen. Die Physik lässt daher auch im Gehirn keinen Raum für das Eingreifen einer immateriellen Seele.

Das menschliche Bewusstsein ist nicht substanziell

Zweitens, kann das menschliche Bewusstsein kein eigenständiges („substanzielles“) Bewusstsein an und für sich sein. Denn ein substanzielles Bewusstsein wäre seiner Natur nach per Definition notwendigerweise stets bei Bewusstsein; ein auch nur zeitweise bewusstloses Bewusstsein wäre ja ein logischer Widerspruch in sich selbst, mithin: undenkbar! Nun ist aber offensichtlich, dass Menschen nicht stets bei Bewusstsein sind; beispielsweise ist das normale Wachbewusstsein während einer Narkose oder auch im traumlosen Schlaf nicht verfügbar. Daher kann das variable menschliche Bewusstsein kein substanzielles Bewusstsein sein.

Dasselbe Argument greift auch gegen die Konzepte eines Geistes oder einer res cogitans: Wenn sich das menschliche Denken durch einen Geist oder eine res cogitans erklärte, dann würden diese notwendigerweise und ihrer Natur nach per Definition stets denken – ein substanzieller Geist oder eine res cogitans bieten daher keine Erklärung für das lediglich phasenweise und variabel auftretende menschliche Denken.

Seele, Psyche, Ich & Co.?

Wie sieht es mit Begriffen wie Seele, Psyche, Selbst, Ich, Subjekt, usw. aus? Man könnte natürlich die variablen Zustände des Bewusstseins oder des Denkens derartigen immateriellen Trägern zuschreiben. Nur wäre mit dieser Zuschreibung absolut nichts gewonnen! Denn es stellen sich dann dieselben Fragen, wie wenn man psychische Phänomene gleich direkt dem Menschen selbst, der Person zuschreibt, z.B. die Fragen: Wie und warum macht eine Seele manchmal Bewusstsein? Und warum verliert sie ihr Bewusstsein, wenn man das Gehirn mit Narkosemitteln flutet?

Dadurch, dass man in das Übernatürliche und Immaterielle ausgewichen ist, tabuisiert man derartige Fragen, erklärt diese auf Zeit und Ewigkeit für unbeantwortbar. Der Leib-Seele-Dualismus erweist sich in seinem Kern als ein Skeptizismus und ein Antiszientismus. Diese (ehrenwerten!) philosophischen Positionen lassen sich aber überzeugender formulieren, ohne dass man dafür übernatürliche Phänomene und immaterielle Akteure erfindet.

Ohne Hirn ist alles nichts!

Die vorausgegangenen konzeptuellen Überlegungen zu Bewusstsein und Geist stimmen mit den aktuellen empirischen Befunden in den kognitiven Neurowissenschaften überein. Auch wenn dies, vor allem im Zusammenhang mit Nahtod-Erlebnissen, immer wieder einmal anders behauptet wird – bisher gibt es keinen wissenschaftlich überzeugenden Beleg für die Existenz vom Gehirn unabhängiger psychischer Phänomene oder Fähigkeiten (z.B. Wahrnehmung). Es scheint eine wesentliche Eigenschaft aller psychischen Phänomene und Fähigkeiten zu sein, dass sie hirnphysiologisch realisiert werden. Unser Seelenleben hängt am seidenen Faden hinreichend intakter Hirnfunktion. Wir erleben zeitweise den Zustand unseres Gehirns (bzw. von Teilen unseres Gehirns) – und zwar in Form des Erlebens der Wirklichkeit, die uns als Welt umgibt und in der wir uns selbst vorfinden, usw. Der Blick in die Welt ist immer auch der Blick in unser eigenes Gehirn.

Mein Gehirn hat phasenweise ein Ich bzw. mich.

Externe Beobachter können immer nur Umwelt, Verhalten und Hirnprozesse beobachten – die psychischen Phänomene als solche (z.B. Gedanken, Gefühle, Empfindungen) bleiben ihnen jedoch verborgen. Ist das ein Problem für den hier vorgeschlagenen (monistischen) Materialismus? Brauchen wir doch eine zweite, geistige Substanz? Keinesfalls! Die einfache und naheliegende Erklärung für das Erleben ist die viel zu wenig bedachte Tatsache, dass Ich und mein Gehirn in einer sehr außergewöhnlichen Beziehung zueinander stehen (was gerade der Dualismus nicht wahrhaben will): Ich habe nicht mein Gehirn, wie ich ein Herz oder zwei Beine habe, sondern richtiger wäre es zu sagen: Das Gehirn hat phasenweise ein Ich bzw. mich. Mein gesamtes Erleben und Sein als erlebensfähige Person ist der jeweilige Hirnzustand; ohne exakt diesen Zustand meines Gehirns wäre ich ein Anderer oder mich gäbe es gar nicht.

Ich und mein Gehirn sind eins

Würde man beispielsweise meine Amygdala im tiefen Schläfenlappen elektrisch reizen (wie dies manchmal im Rahmen der invasiven prächirurgischen Epilepsiediagnostik unumgänglich ist), so würde ich panische Angst bekommen. Ich könnte mich nicht distanzieren, weder von diesem Gefühl noch von diesem Hirnzustand. – „Ach, diese Hirnforscher immer mit ihrem Strom!“ – Nein, ich erlebe stets den jeweiligen Hirnzustand als die Welt und als mich, ohne jede Distanz, ohne irgendein Verhältnis zwischen zwei Verschiedenen. Würde ich mit einer anderen Person die Gehirne tauschen, dann würde ich mit samt meinem Gehirn in den Kopf des Anderen implantiert; d.h. am Ende hätten wir die Körper, aber nicht die Gehirne getauscht! Anders als alle anderen Organe können Gehirne prinzipiell nicht transplantiert werden.

Kein Reduktionismus!

Der monistische Materialismus sollte nicht als einfacher, simplifizierender Reduktionismus abgetan werden. Wenn wir psychische Phänomene und Fähigkeiten auf Materie und Hirnprozesse beziehen, dann bedeutet das, dass wir sie auf etwas beziehen, das wir bisher ebenfalls kaum verstehen – wer kann denn heute noch sagen, was Materie überhaupt ist?! Auch eine physikalische Theorie der Hirnfunktion liegt bis heute nicht vor! Ich sehe darin aber kein Schlupfloch für Dualismus oder Antiszientismus.

Wir sollten vielmehr konsequent Hirnforschung und Psychologie so betreiben, wie wir auch Chemie und Biologie betreiben, nämlich epistemisch, das heißt, ohne dass wir dafür die Existenz außerphysischer Faktoren (z.B. das Phlogiston in der Chemie oder der élan vital in der Biologie) annehmen müssten. Wenn wir beispielsweise auf einer psychologischen Ebene von Kräften sprechen (z.B. Vorstellungskraft, Willenskraft), muss klar sein, dass es sich hierbei um komplex zusammengesetzte und letztlich rein physische Phänomene handelt, die sich im Rahmen der heute bekannten vier Wechselwirkungen beschreiben lassen.

Die Frage nach Freiheit, Verantwortung und Schuld

Bleibt die Frage nach der Freiheit und die damit assoziierten Fragen nach Urheberschaft, Verantwortung und Schuld. Wer nur die Freiheit einer übernatürlichen, d.h. über die natürliche Kausalkette hinausgehobenen Seele als echte Freiheit anzuerkennen bereit ist, sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder den Glauben an eine solche Seele aufrechtzuerhalten – gegen die oben genannten konzeptuellen und empirischen Gründe – oder aber die Idee der Freiheit mit samt dem Seelenkonzept aufzugeben. Innerhalb des hier vorgeschlagenen monistischen Materialismus lässt sich Freiheit jedoch ausgehend vom alltäglichen Normalfall der Konvergenz von Handlungsintentionen und tatsächlichen Handlungen alternativ als Abwesenheit von Zwang und Behinderung begreifen (vgl. dazu den Beitrag von Michael Roth).

Lebensweltlich meint der (emphatische) Rekurs auf den eigenen Willen die Beanspruchung einer letzten, nicht mehr weiter aufzuklärenden Ursprünglichkeit eigener handlungsleitender Absichten in der Person selbst, d.h. sie erwachsen aus der gesamten Biographie einer Person. Auch der (aussagekräftigere!) Begriff „Selbstbestimmung“ impliziert, dass eine Handlung mindestens und vor allem durch mich selbst bestimmt sein muss, damit sie meine eigene Handlung ist. „Bestimmt sein durch mich selbst“ kann hier aber nur so verstanden werden, dass die Gesamtheit meiner früheren Erfahrungen, Präferenzen und Gründe für die gewählte Handlung ausschlaggebend ist. Diese Handlungen nennen wir „frei“, auch wenn sie ganz und gar in das kausale physische Geschehen eingebettet sind. Sinnvolle, geplante Handlungen setzen sogar Determinismus in der Welt voraus! Und die Tatsache, dass mein Gehirn an all diesen Entscheidungen beteiligt ist, darf nicht mit einer unbemerkten Manipulation von außen verwechselt werden: Denn das Gehirn ist kein Anderes meiner selbst (siehe oben) und ohne Hirnprozesse hätte ich keinesfalls meine ureigensten Handlungsabsichten, sondern ich hätte gar keine Intentionen mehr!

Sind Straftäter für ihre Taten dann noch verantwortlich?

Das Strafrecht wird in der lebensweltlich plausiblen Hoffnung formuliert, dass glaubwürdige Sanktionsandrohungen das innere Durchspielen von Handlungsoptionen und möglichen Handlungsergebnissen im Vorfeld einer Handlung zugunsten gesetzeskonformer, also sozial verträglicher Handlungen beeinflussen. Begeht eine Person dennoch wissentlich eine Straftat, muss die Strafe schon um der weiteren Glaubwürdigkeit der Sanktionsandrohung willen wie angekündigt vollstreckt werden. Das Strafrecht nimmt dabei nur in Extremfällen (z.B. Affekttaten) Rücksicht auf Faktoren, die die Fähigkeit zu diesem inneren Möglichkeiten-Diskurs bzw. das Verständnis der Strafbarkeit einer Handlung, und damit die Strafmündigkeit bzw. Zurechenbarkeit zum Tatzeitpunkt oder grundsätzlich nachhaltig vermindern.

Wir empfinden eine Straftat im Allgemeinen als abscheulicher und strafwürdiger, wenn sie in einem inneren Zusammenhang zum Täter und seinen Motiven steht, wenn die Tat also mit Absicht und damit als Ausdruck der Selbstbestimmung des Täters verstanden werden kann und muss. Es ist jedoch die Tragik im Leben vieler Straftäter, dass sie Dinge wollen, die strafbar sind oder für die sie strafbare Handlungen in Kauf nehmen – Drogenkriminalität bietet hier nur ein besonders prägnantes Beispiel. Ich persönlich empfinde es als eigenartig, dass wir Psychopathen und Soziopathen, denen ganz offensichtlich elementarste menschliche Fähigkeiten fehlen (z.B. Mitgefühl), für voll strafmündig halten, nur weil sie die Straftat im vollen Bewusstsein ihrer Strafbarkeit begangen haben. Wir können uns letztlich nicht selbst aussuchen, was wir wollen und wer wir sein wollen.

Freiheit ist eingewoben in natürliche Zusammenhänge

Fassen wir den Gedankengang in Richtung christlicher Theologie zusammen: Der Mensch ist Person als leibseelische Einheit, er ist kein Kompositum zweier nur vorübergehend verbundener, eigentlich aber inkompatibler Substanzen. Philosophisch wird dies überzeugend bei Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles gedacht: Die Seele ist die Form (d.h. die Organisation) des Körpers – und daher schlechthin untrennbar von ihm; im Grunde ist die Seele das Leben selbst.

Höchst erstaunlich ist der Moment, in dem Tier und Mensch erwachen und die Welt und sich selbst darin erfahren, der Moment also, in dem sich innerhalb der Sphäre des Lebens die Wirklichkeit des Psychischen auftut. Bewusstsein ist gleichsam die (empirisch nicht beobachtbare) Erstursache alles Psychischen (d.h. Gedanken, Gefühle, Empfindungen), aber die einzelnen psychischen Phänomene partizipieren dann „nur“ indirekt an der (empirisch beobachtbaren) Zweitursächlichkeit der hirnphysiologischen Prozesse, welche ihnen zugrunde liegen.

Freiheit ist geschöpfliche und daher begrenzte Selbstbestimmung, sie ist eingewoben in die natürlichen, vor allem soziobiographischen Zusammenhänge einer konkreten menschlichen Existenz. Eine Person und ihre Handlungen abschließend moralisch zu beurteilen, sollten wir – jenseits strafrechtlicher Pragmatik – letztendlich jemandem überlassen, der größer ist als wir.

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  1. In der Nr. 2 /2018 dieser Zeitung behauptet C. Hoppe, dass es keine psychischen Vorgange ohne physische Dimension gibt. Dies ist unlogisch, weil niemand alle psychischen Vorgange kennt. Wenn sich die „physische Dimension aller realen Phanomene“, „ohne unerklarlichen Rest“ mit den Mitteln der modernen Physik beschreiben lasst, muss bedacht werden, dass die moderne Physik sich von der durchgangigen Gultigkeit des Kausalitatsprinzips verabschiedet hat. Sie weiß außerdem, dass die Welt nicht-lokal ist und dass durch die sog. „Verschrankung“ eine Verbindung gehirnphysiologischer Vorgange mit dem gesamten Kosmos möglich ist. Neurophysiologische Prozesse lassen sich restlos naturgesetzlich beschreiben – aber die Naturgesetze beinhalten Unschärfen, Komplementaritat, statistische Komponenten, chaotische Prozesse und nicht-lokale Wechselwirkungen. Weiter muss man auf Grund einer uberwaltigenden Fulle empirischer Befunde davon ausgehen, dass es psychische Phanomene gibt, die unabhangig vom Funktionieren des Gehirns sind. Das von der Physik beschriebene Eins-Sein des Kosmos legt es schließlich nahe, dass die menschliche Psyche und der gesamte Kosmos eine untrennbare Einheit bilden.

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