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Ganz normale Beziehungen

Foto: Pixabay, CC0

In frühen Gesellschaften war die Ehe untrennbar an die Möglichkeit der Fortpflanzung gebunden. Heute ist der soziale Zweck vor allem zwischenmenschliche Intimität. Und die gibt es nicht nur zwischen Mann und Frau.

Ehe für alle! Ist das denn nicht total gegen die Natur? Fragt man einen Soziologen, so wird die Antwort lauten: Ja, nein, und wie man’s nimmt. Ja, in gewisser Weise ist das gegen die Natur, nämlich gegen den zweigeschlechtlichen Fortpflanzungsmodus, der dem Menschen als Naturwesen mitgegeben ist. Aber andererseits ist es das Normalste der Welt, dass die Gesellschaft sich von Naturfaktoren immer unabhängiger macht und die Ordnung des sozialen Lebens sich immer mehr nach ihren eigenen Gesetzen entfalten kann. Die Normalisierung homosexueller Beziehungen liegt insofern im Trend – sie entspricht einem allgemeinen Entwicklungsmuster der Gesellschaft.

Natürliche Gegebenheiten verlieren ihre Prägekraft

Machen wir uns diese Fähigkeit der Gesellschaft, höhere Freiheitsgrade gegenüber der Natur zu entwickeln, erst einmal an unproblematischen Dingen klar. Frühe, wenig entwickelte Gesellschaften – sagen wir: Steinzeitgesellschaften vor zehntausend Jahren – waren aufs Engste eingebettet in natürliches Geschehen und natürliche Rhythmen. Alles Tun folgte dem Rhythmus der Jahreszeiten, von Pflanz- und Erntephasen oder dem Wechsel der Jagdsaisonen und dem Weiterziehen von Tierherden. Arbeit und Muße, Feste und Rituale, Kriegs- und Kreditwesen ließen sich davon den Takt vorgeben. So führte man etwa keinen Krieg zur Erntezeit, weil die Krieger identisch waren mit den Ackerbauern und weil, wenn niemand die Ernte einbrachte, man im nächsten Jahr hungern musste.

Das Leben in der heutigen Gesellschaft ist von solchen natürlichen Zeitrhythmen weitgehend unabhängig geworden. Diese sind durch andere, selbstgesetzte Zeitrhythmen ersetzt worden: Parlamente arbeiten im Rhythmus von Legislaturperioden, Unternehmen im Rhythmus von Quartalsberichten, Universitäten im Rhythmus von Semestern, Sportverbände im Rhythmus der Ligen und Meisterschaften. Der Rhythmus der Jahreszeiten spielt kaum mehr irgendwo eine Rolle, außer in Kindergärten, wo im Herbst Blätter gesammelt und im Frühling Ostereier bemalt werden. Die natürlichen Unterschiede zwischen Sommer und Winter sind zwar nicht verschwunden, aber sie haben ihre Prägekraft für gesellschaftliche Strukturen verloren.

Zusammenhang von Ehe und Fortpflanzung

Ebenso verhält es sich nun auch mit dem Naturfaktor des Geschlechts und der sozialen Form der Ehe oder Paarbeziehung. Die Naturfaktoren verschwinden nicht, etwa die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, aber die sozialen Strukturen sind nicht mehr auf Gedeih und Verderb daran gebunden; sie entwickeln stärker einen eigenen Sinn, eigene Bedürfnisse und eigene Probleme.

In frühen Gesellschaften war die Institution der Ehe untrennbar an den biologischen Tatbestand der Fortpflanzung gebunden, an Fragen von Abstammungslinien und Clanzugehörigkeiten. Eine Ehe ohne Fortpflanzung  war nicht vorstellbar oder nicht sinnvoll; dergleichen mochte im Einzelfall vorkommen (etwa bei Unfruchtbarkeit), aber es ließ sich ihm kein sozialer Sinn abgewinnen. Deshalb mussten Ehen zwischen Mann und Frau geschlossen werden, weil nur dies Fortpflanzung ermöglichte. Und noch im christlichen Mittelalter war es ja ein legitimer Grund für Eheauflösung, wenn eine Ehe keine Kinder hervorbrachte.

Der neue soziale Zweck der Ehe

Die moderne Gesellschaft löst ihr Verständnis der Ehe – oder der Paarbeziehung überhaupt – teilweise vom Naturfaktum der Reproduktion ab. Sie schätzt die Ehe zunächst einmal als einen Zweck in sich selbst, nämlich als den intimen zwischenmenschlichen Austausch zweier Menschen: Es geht darum, dass zwei Menschen einander körperlich und seelisch nahe sind, dass sie bereit sind, alles mit dem oder der Anderen zu teilen und sich auf alle Tiefen und Untiefen seiner oder ihrer Seele einzulassen.

Die moderne Gesellschaft schätzt die Ehe als einen Zweck an sich.

Dieser Zweck ist unabhängig vom biologischen Tatbestand der Reproduktion, und deshalb können dafür dann auch zwei Menschen zugelassen werden, die das gleiche Geschlecht haben und zur Fortpflanzung miteinander ungeeignet sind. Die Ehe – auch die heterosexuelle Ehe – wird nicht mehr am biologischen Zweck der Hervorbringung von Kindern gemessen, sondern am sozialen Zweck zwischenmenschlicher Intimität. Das intime Zusammenleben mit einem anderen Menschen ist in sich schwierig und anspruchsvoll genug; und wenn zwei gleichgeschlechtliche Menschen dazu in der Lage und willens sind, ist das ebenso schätzenswert und schützenswert, wie wenn das bei gegengeschlechtlichen Menschen der Fall ist.

Ehe als soziales Kunststück

Liebe und Intimität werden in der modernen Gesellschaft immer wichtiger, weil der Rest der Gesellschaft immer anonymer und kälter wird, immer mehr im Modus der „rationalen Maschine“ funktioniert, in der der Einzelne nur ein Rädchen ist. Gleichzeitig wird es in der modernen Gesellschaft immer schwieriger, es mit einem Anderen im intimem Miteinander auszuhalten, weil die Menschen immer individualisierter werden, sprich: immer anspruchsvoller und reicher an Macken und Komplexen, und weil wir immer höhere Erwartungen an Glück, Sinn und Erfüllung in Liebesbeziehungen stellen.

Früher war man mit einer Ehe zufrieden, wenn man den Anderen ohne größere Hassgefühle täglich am Frühstückstisch sitzen sehen konnte. Heute macht man es nicht unterhalb der mehr oder weniger idealen Charakterkonstellation, die beiden Partnern nachhaltig Anregung und Anziehung, Entspannung und Erregung, Vertrauen und Reibungsfläche bietet. Wenn dieses Kunststück zwei Menschen gelingt, umso besser. Ob diese Menschen dann auch noch den Zweitzweck der Reproduktion bedienen können – oder auch: wollen –, ist angesichts dessen nachrangig.

Normalisierung im Zeitraffertempo

Die Normalisierung homosexueller Beziehungen ordnet sich also ein in einen zehntausendjahrelangen Trend gesellschaftlicher Entwicklung – der Entwicklung zu gesellschaftlicher Selbstbestimmung, zum Sich-Freischwimmen aus Naturbedingungen, die für frühe Gesellschaften unausweichlich waren, für uns aber nicht. Diese Normalisierungsbewegung läuft seit einigen Jahrzehnten gewissermaßen im Zeitraffertempo vor unseren Augen ab. Normalisierung meint dabei zum einen rechtliche Gleichstellung. Zum anderen meint es aber auch den Umstand, dass homosexuelle Beziehungen sich in praktisch allen Merkmalen bis zur Ununterscheidbarkeit an heterosexuelle Beziehungen angleichen, sobald sie aus dem Druck des Sich-verstecken-Müssens und der Szeneexistenz entlassen sind.

Homosexuelle Beziehungen gleichen sich an heterosexuelle Beziehungen an.

Homosexuelle Paare durchleben ganz dieselben Phasen und haben ganz dieselben Probleme wie heterosexuelle Paare: Sie entstehen im selben Überschwang romantischer Verliebtheit und müssen dann den Übergang zum weniger rosaroten Beziehungsalltag schaffen, oder gehen in eine Phase von Krise und Trennung über. Sie kämpfen mit denselben Problemen von Treue und Untreue, Sich-Auseinanderleben und Wieder-Zusammenfinden. Sie werden auch in puncto Kinderwunsch und Familiengründung heterosexuellen Beziehungen immer ähnlicher – abgesehen eben von der biologischen Komponente –, und sie bieten ganz wie heterosexuelle Beziehungen Kindern manchmal ein harmonisches, manchmal ein weniger harmonisches Umfeld des Aufwachsens. Es sind einfach ganz normale Beziehungen.

Sinnvoller gesellschaftlicher Ausgleich für  natürliche Ungleichheit

Dass naturgegebene Körpermerkmale des Menschen an Bedeutung für seine Lebensgestaltung verlieren, ist auch in anderen Hinsichten der Fall, und es ist in allen Fällen zu begrüßen. So können in der heutigen Gesellschaft auch Kurzsichtige und Diabetiker ein langes Leben und viele Nachkommen haben. Wir sagen nicht: „Die Natur will, dass du nur ein kurzes Leben hast, sorry und tschüss“. Auch schwächliche Personen, die niemals eine Prügelei gewinnen würden, können politische Spitzenfiguren sein, auch Rollstuhlfahrer können wissenschaftliche Karrieren machen, und auch Frauen können Soldatin, Rennreiterin oder Lokführerin werden.

Die Gesellschaft ersinnt Ausgleichseinrichtungen, um die Ungleichheit der Naturausstattung in ihrer Bedeutung zu relativieren und den Menschen mehr Freiheit zur Wahl, vielleicht auch mehr Freiheit zu einem menschenwürdigen Leben zu geben. Insofern kann man die Frage vom Anfang, ob die Ehe für alle denn nicht gegen die Natur sei, dann doch entschieden bejahen und begrüßen: Ja, sie ist gegen die Natur. Und das ist auch gut so.

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