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Kinderverschickung in Deutschland

„Verschickungskinder“ sind Kinder, die von 1948 bis in die 80er Jahre für meist vier bis sechs Wochen weit weg von zuhause zur „Erholung“ untergebracht wurden. Im Interview sprechen Trudel Haas und Andrea Weyrauch über die Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse.

Zur „Durchführung von Maßnahmen der Gesundheitshilfe“ wurden die Kinder in der Nachkriegszeit in Kinderkurheime (ohne Diagnose einer Krankheit) und Kinderheilstätten (mit Diagnose einer Krankheit) geschickt, darunter Kinder ab dem zweiten Lebensjahr. Dass es dabei oft mehr um Profite als um Kindergesundheit ging und die Maßnahmen meist alles andere als kindgerecht waren, tritt mehr und mehr zutage. Zu den üblichen Praktiken solcher Heime gehörten das Kontaktverbot zu den Eltern, das Aufessen müssen bei Tisch, ggf. auch des Erbrochenen, Verbot des Toilettengangs bei Nacht und Verweigerung von frischer Wäsche sowie ein Strafenkatalog, der der „schwarzen Pädagogik“ zuzurechnen ist. Darüber hinaus werden Sedierungen von Kindern (z.B. wegen Heimweh) und Medikamentenversuche, vereinzelt sogar Todesfälle bekannt.

Die Aufarbeitung hat 2019 durch eine bundesweite Initiative von Anja Röhl sowie durch die in Folge gegründeten Landesverbände Fahrt aufgenommen. Der Landesverband Baden-Württemberg ist der erste, der für seine Arbeit eine Förderung vom Land erhält. Außerdem wurden von Sozialminister Manfred Lucha zwei Archivarinnen im Landesarchiv für die Aufarbeitung eingesetzt. Zwei der Gründungsmitglieder des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg e.V.“ haben sich zum Gespräch bereit erklärt, Trudel Haas und Andrea Weyrauch.

Trudel Haas war im Hochschulbereich in Management und Leitung tätig. Im Ruhestand arbeitet sie noch als Dozentin im Bereich Berufspädagogik und Lehrerausbildung.

Andrea Weyrauch ist Diplom Pädagogin und im Bereich Managementtraining und Coaching tätig. Sie ist Vorstandsvorsitzende des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg e.V.

8-10 Mio. Kinder wurden weit weg von ihren Eltern zur „Kur“ geschickt. Sie sollten zunehmen, abnehmen, oder sich von Atemwegs-Erkrankungen erholen. Seit wann ist Ihnen beiden klar, dass Ihr Schicksal kein Einzelschicksal ist, dass Millionen von Kindern betroffen sind und viele davon schlechte Erfahrungen gemacht habe?

Trudel Haas

TH: Vor etwas über zwei Jahren habe ich einen Artikel in der Stuttgarter Zeitung über Kinderverschickung gelesen. Erst da wurde mir klar, dass ich auch betroffen bin. In meiner Erinnerung war ich in einer „Erholung“, weil ich Husten hatte. Und dann kam dieser Artikel und es war wie ein Vulkan: Ich bin, ich war ein Verschickungskind! Die Selbsthilfegruppe, von Frau Weyrauch initiiert, war dann wirklich eine Befreiung – da durfte etwas sein, was ich vorher immer flachgehalten habe.

AW: Ich bin beim Sortieren der Unterlagen nach dem Tod meiner Mutter auf eine Postkarte aus meiner „Kindererholung“ gestoßen, das war im Sommer 2019. Bei meiner anschließenden Recherche bin ich auf die Homepage von Anja Röhl gestoßen, damals noch eine kleine, private Homepage und lese, dass sie auch verschickt wurde, und las die Kommentare auf ihrer Homepage. Da waren ein paar Hundert, die betroffen waren. Da merkte ich, dass das kein Einzelthema war. Ein Bekannter, der bei der Stuttgarter Zeitung Fotograf ist, stellte den Kontakt zu einer Titelautorin der Zeitung her. Daraus wurde genau jener Artikel, den Trudel Haas dann gelesen hat.

Andrea Weyrauch

Der exakte Zeitpunkt, als mir klar wurde, dass so viele Millionen Kinder in Deutschland betroffen sind, war eben dieses Interview mit Hilke Lorenz von der Stuttgarter Zeitung. Sie ist nicht nur Journalistin, sondern auch Historikerin. Sie kam zu mir nach Hause und nach etwa fünf Minuten sagte sie: „Das ist ein Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, das noch nicht erforscht ist. Frau Weyrauch, Sie sind nicht die einzige, da muss es sich um mehrere Millionen Kinder handeln.“ Da ging es mir durch und durch. Ich fand mich plötzlich in etwas Großem wieder, das mein Einzelschicksal übersteigt. Und siehe da, nach dem ersten bundesweiten Treffen, nach dem ersten Selbsthilfetreffen in Stuttgart, wurden wir schnell immer mehr und heute ist es eine große Initiative. Und das ist erst der Anfang.

Wie ist das möglich, dass Millionen Kinder die teils traumatische Erfahrung – die Trennung von den Eltern in frühen Jahren und die Erlebnisse in den Kurheimen – so lange in sich vergraben haben? Dass die Eltern nicht aufgeschrien haben, deren Kinder oft verstört und abgemagert heimgekommen sind?

TH: Unsere Eltern waren gezeichnet, auch durch den Nationalsozialismus. Und die Stimme eines Arztes hatte natürlich Gewicht, das war sicher auch eine Autoritätsgläubigkeit. Das Thema war zudem ein stückweit tabuisiert. Es wurde gesagt, ich war „in Erholung“. Ich habe lange gebraucht, bis ich wieder in meiner Familie angekommen bin – ich war erst 3 ½ Jahre alt und habe bei meiner Rückkehr meine Eltern nicht wiedererkannt. Die ersten 4 Jahre in der Schule war ich ein Schulversager, es ging darum, ob ich in die Sonderschule gehe. Man muss aber sagen: Meine Mutter ist danach mit ihren Kindern nie mehr wieder zu dem Kinderarzt gegangen, der mir die Kinderkur verschrieben hatte.

AW: Meine Eltern sind 1944 geboren, sie wurden von Eltern großgezogen, die keine Ressourcen dafür hatten, sich in die Gefühlslage ihrer eigenen Kinder hineinzuversetzen. Es ging ums Überleben. Somit haben meine Eltern selbst nie Empathie erfahren. Es waren liebe Eltern, aber sich in ein kleines Kind hineinversetzen, das war einfach nicht im Programm. Bei mir war es auch die Kinderärztin, die man nicht hinterfragt hat und die, wie ich inzwischen weiß, eine eigene Spruchkammerakte hat, also eine NS Vergangenheit. Sie hat meine Eltern massiv unter Druck gesetzt: Wenn sie der Kinderkur nicht zustimmen, könnte nach meiner Mandel-OP etwas aufs Herz gehen! So konnte es passieren, dass sich Eltern auch wider besseres Wissen oder gegen das eigene Gefühl überhaupt darauf eingelassen haben, so kleine Kinder für sechs Wochen zu verschicken.

Die Heime hatten die Regel: kein Eltern-Kontakt innerhalb dieser sechs Wochen.

Ein zweites Problem waren aus meiner Sicht die institutionellen Rahmenbedingungen zu der Zeit, denn es handelte sich um geschlossene Systeme. Die meisten Kinderkurheime und auch -erholungsheime hatten die Regel: Keinen Kontakt innerhalb dieser sechs Wochen zu den Eltern. Deswegen auch die Querverschickung von Kindern aus dem Süden nach Norden und andersherum. Dann die Zensur: In vielen Fällen wurden Postkarten vorgeschrieben, das heißt, den Eltern wurde vorgegaukelt, dem Kind gehe es gut. In den Akten sieht man, dass es schon im Vorfeld einen Regelkatalog an die Eltern mit „angedrohten Strafen“ gab. Es gab Kinderkurheime, die das Besuchsverbot hinterlegt haben, mit Geldstrafen und vorzeitigem Abbruch der Kur wurde gedroht und damit, einen Anteil der Kosten zahlen zu müssen, was unmöglich war für viele Eltern.

Der Grund dafür, dass so ein hoher Prozentsatz von privaten Heimen gegründet wurde, die sich komplett der Aufsicht von Behörden entziehen konnten, war, dass es ein Modell war, um Geld zu verdienen. Das perfide ist ja, dass die Erholung, die Gesundheit der Kinder, ein hehres Gut ist!

TH: Die Behörden waren, auch wenn sie kontrollieren hätten können, personell mit Menschen besetzt aus einer NS-Tradition. Menschen, die u.U. einfach rehabilitiert wurden, die angepasst und obrigkeitsgläubig waren. Deshalb hätte auch eine Behörde nichts gemacht, weil das System so war.

AW: In den Archiven sehen wir hin und wieder, dass sich Eltern beschwert haben. Im Verlauf des Schriftverkehrs wird das aber meist schnell abgewürgt oder gedreht: Das Kind lügt, man kann dem Kind nicht glauben. Das war die Zeit damals, geprägt durch Johanna Haarer. Und so konnte das System über viele Jahrzehnte bestehen.

Wie kann das wieder heilen, auch auf gesellschaftlicher Ebene?

TH: Eine Anerkennung und ein Öffentlich-Machen auf möglichst vielen Ebenen und damit eine Sensibilisierung.

AW: Ich glaube, dass auch unsere schnell anwachsende Initiative zur Heilung beiträgt. Mittlerweile haben wir drei Landesvereine und eine Bundesinitiative. Ein wichtiger Schritt ist die Aufarbeitung. Die Institutionen steigen in ihrem Tempo, auf ihre Art ein.

AW: Für die persönliche Heilung ist der Selbsthilfe-Strang wichtig: Wir kennen, wir vertrauen uns und wir brauchen nicht viel, um uns zu verstehen, weil uns die Erfahrung der Verschickung eint.

TH: Das Trauma bleibt. Es geht darum eine Haltung dazu zu entwickeln. Dieses kleine Kind in mir wird mich mein Leben lang begleiten in seiner Not.

AW: Wir waren jetzt wieder im Sozialministerium. Das ist ein sinnvoller Weg, diesen Schmerz, den ich und wir erlebten, in etwas Konstruktives zu stecken, um hier gesellschaftliche Aufarbeitung voranzubringen.

Das Interview führte Heike Schmidt-Langer per Zoom-Video-Konferenz.


An einem runden Tisch „Aufarbeitung Kinderverschickung mit Baden-Württemberg-Bezug“ sitzen Betroffene, Träger und das Sozialministerium zusammen und machen sich teils engagierter, teils zögerlicher an die Aufarbeitung. Forscher*innen werden von manchen Trägern mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte beauftragt. Einzelne Biografien werden bekannt, wie die von Dr. Kleinschmidt, der in Bad Dürrheim an den Kindern Medikamentenversuche unternahm und irgendwann spurlos verschwand. Der Bundesverein arbeitet mit dem Nexus-Institut zusammen und hat mit einem standardisierten Fragebogen bereits über 5000 Betroffene nach ihren Erfahrungen befragt. Auch der Verein in BW arbeitet mit einem Zeitzeugen-Archiv an der Erhebung von Daten. Wir möchten mit diesem Artikel nicht in Abrede stellen, dass es auch Verschickungskinder mit guten Erinnerungen an ihren Kuraufenthalt gibt.

Kontakt: www.verschickungsheime-bw.de/ (Baden-Württemberg) oder verschickungsheime.de/ (bundesweit).

 

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