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„Wir nehmen das jetzt selbst in die Hand“

Solidarisch organisierte Projekte, mit denen Bürger*innen die Kontrolle über wirtschaftliche Prozesse zurückgewinnen, werden immer wichtiger. Wir stellen zwei innovative Beispiele aus Tourismus und Landwirtschaft vor.

Urlaub im selbstverwalteten Wohnprojekt

Rainer Tietel, Initiator von BuenVivir

Rainer Tietel steht vor dem Eingang der weißgetünchten Bungalowanlage, umringt von einem guten Dutzend Urlauberinnen und Urlaubern. Er ist der Sprecher des gemeinschaftlichen Urlaubs-Wohnprojekts BuenVivir, das seit 2015 eine kleine Ferienanlage auf der Insel unterhält (www.buenvivir.casa). Zwanzig La-Palma-Fans taten sich damals zusammen, um gemeinsam einen Gebäudekomplex mit fünf Apartments in bester Urlaubslage zu erwerben – nicht als Aussteigerinnen oder Auswanderer, sondern um sich einen selbstverwalteten Platz für regelmäßige Urlaube oder längere Aufenthalte zu schaffen. Um dies zu organisieren, gründeten sie den Verein BuenVivir, der rechtlich Eigentümer der Anlage ist und in dem alle Beteiligten Mitglied sind. Jedes Mitglied hat entsprechend seiner finanziellen Beteiligung Anrecht auf eine bestimmte Anzahl von Aufenthaltswochen in der Anlage (bis max. 6 Monate/Jahr). In einem darüber hinausgehenden Freundeskreis können Personen Mitglied werden, die sich ohne Kaufanteil gelegentlich und nach Verfügbarkeit in der Anlage einmieten möchten. Rainer Tietel betont: „Wir sind ein Projekt für weltoffene Menschen mit Lust auf Gemeinschaft. Wir wollen uns Orte unter Freunden schaffen, Plätze zum Wohlfühlen und zum Sein-dürfen, wie man ist. Natürlich kann man auch einfach zum Urlaubmachen hierherkommen. Ziel ist aber, dass die Mitglieder das Projekt nicht nur finanziell tragen, sondern auch aktiv mitgestalten – jede und jeder nach eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen.“

Solidargemeinschaft ohne Hausherr und fremde Eigentümer

Rainer Tietel hat mit Selbstverwaltungsprojekten Erfahrung. Wenn er nicht auf La Palma ist, wohnt er im größten selbstverwalteten Wohnprojekt Österreichs, der „Sargfabrik“ in Wien (www.sargfabrik.at). Inzwischen hat der Initiator von BuenVivir über achtzig Freundeskreismitglieder um sich geschart, beruflich bunt gemischt von der Biologin und der Bewusstseinstrainerin über Medienschaffende und einen Landschaftsgärtner bis hin zu Juristen, Bankern und Ingenieuren. Sie alle schätzen das selbstverwaltete Miteinander ohne „Hausherren“ oder fremde Eigentümer und bringen sich in Arbeitskreisen des Projekts z.B. zu Außengestaltung, Verwaltung, Buchungsorganisation oder Renovierungsmaßnahmen ein. Um die CO2-Belastung durch die Flüge nach La Palma zu kompensieren, unterstützen sie zudem ein Baumpflanzprojekt auf der Insel.

BuenVivir selbst ist kein Wirtschaftsunternehmen. Aber die Mitglieder des Vereins haben einen Bereich ihres Lebens selbst in die Hand genommen, der üblicherweise fest in der Hand der Tourismuswirtschaft ist. Mit dem Kauf der Anlagen sorgen sie für wirtschaftliche Unabhängigkeit; da rechtlich aber der Verein Inhaber ist, handelt es sich auch nicht einfach um privates Unternehmertum. Die Konstruktion ermöglicht vielmehr ein nicht auf Profit ausgerichtetes, solidarisches Miteinander, das an das Modell von Genossenschaften erinnert. Genauer entspricht es dem Modell einer „Fördergenossenschaft“, in der die Mitglieder sowohl Nutzer der „kooperationsbetrieblichen Leistungen“ als auch Kapitalgeber und Miteigentümer sind (im Unterschied zu einer „Produktionsgenossenschaft“ bei der die Mitarbeiterschaft zugleich Eigentümer eines Kooperationsbetriebes ist).

Renaissance der Genossenschaftsidee

Seit den frühen 2000er Jahren erleben Genossenschaften auch in Deutschland eine Renaissance, zuvor waren die Zahlen seit den 50er Jahren rückläufig. Das Leibniz-Institut für Länderkunde führt dies darauf zurück, „dass im Zuge der Finanzkrise 2008 Mitbestimmung und soziale Verantwortung bei der Gestaltung wirtschaftlicher Prozesse zunehmende Bedeutung erfahren haben und damit das Genossenschaftsmodell an Attraktivität gewonnen hat“ (ifl aktuell 11, 02.2017). Gleichzeitig sei genossenschaftliches Engagement vor allem dort zu beobachten, „wo Staat und Markt keine geeigneten Angebote mehr bereitstellen“.

Die UNESCO hat die Genossenschaftsidee 2016 zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt.

Klassischerweise sind Genossenschaften vor allem im Kreditwesen, in der Landwirtschaft sowie im Wohn- und Konsumsektor verbreitet. Dort haben sie mit den beiden deutschen „Urvätern“ Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) und Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) auch ihre Wurzeln. Deren Genossenschaftsidee wurde 2016 von der UNESCO als erste allein deutsche Nominierung sogar zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt. In den letzten zehn Jahren haben sich Genossenschaften aber auch im Bereich erneuerbare Energien und im Gesundheitswesen verbreitet. Und auch viele neu gegründete Hofläden sowie eine wachsende Zahl von Weltläden sind genossenschaftlich organisiert. Nach einer Statistik des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbands e.V. ist heute jede/r vierte Bundesbürger/in Mitglied in einer ländlichen, gewerblichen, Kredit-, Energie,- Konsum- oder Wohnungsgenossenschaft (www.dgrv.de).

Grundsätze einer alternativen Wirtschaftsform

Wie das Beispiel BuenVivir zeigt, ist die genossenschaftliche Idee allerdings noch weit stärker. Denn genossenschaftliche Grundsätze wie wirtschaftliche Selbsthilfe, Selbstorganisation und Selbstverantwortung, Autonomie, Unabhängigkeit und demokratische Mitbestimmung sowie Gleichheit und Solidarität der Mitglieder lassen sich auch in anderen Rechtsformen wie z.B. einem Verein umsetzen. Wie das für die regionale Versorgung mit verantwortlich produzierten Lebensmitteln funktionieren kann, beweist seit einigen Jahren die Bewegung „Solidarische Landwirtschaft“, kurz Solawi.

Stefanie Wild, Netzwerk Solidarische Landwirtschaft

Stefanie Wild, die Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising für das „Netzwerk Solidarische Landwirtschaft“ leitet, erklärt: „Kennzeichen Solidarischer Landwirtschaft ist, dass die Lebensmittel nicht mehr über den Markt vertrieben werden, sondern in einem eigenen, durchschaubaren Wirtschaftskreislauf, der von den Verbraucher*innen mit organisiert und finanziert wird.“ Als wichtigste Ziele der Bewegung nennt sie die Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft mit einer entsprechenden Wertschätzung für deren Leistung, aber auch das Ende der anonymen Beziehung zwischen Erzeuger*innen und Verbraucher*innen (www.solidarische-landwirtschaft.org).

Win-win-Lösung für Erzeuger und Verbraucher

Konkret schließen sich bei Solawi private Haushalte vor Ort mit einem landwirtschaftlichen Betrieb oder einer Gemüsegärtnerei (oder auch mehreren) zu einer Solidargemeinschaft zusammen: Die Verbraucherseite verpflichten sich dabei, die voraussichtlichen Kosten der Lebensmittelerzeugung über eine fixe monatliche Zahlung pro Abnehmerhaushalt zu decken. Dadurch kann sich die Erzeugerseite unabhängig von Marktzwängen einer nachhaltigen Anbaupraxis widmen. Gleichzeitig erhalten die Verbraucher*innen hochwertige Nahrungsmittel, wissen woher sie stammen und wie sie produziert wurden. Das wirtschaftliche Risiko wird also geteilt, ebenso wie die Verantwortung für die Anbaubedingungen.

Stefanie Wild hat die Ursprünge dieser Idee zurückverfolgt: „Die Idee der solidarischen Landwirtschaft stammt aus den USA, wo das Konzept ursprünglich unter dem Begriff „Community Supported Agriculture“ (CSA) entwickelt wurde. Einflüsse gibt es aber auch aus der Teikei-Bewegung in Japan sowie aus der Anthroposophie.“ In Deutschland nahm die Bewegung erst 2011 mit anfänglich zwölf Bauernhöfen anlässlich einer ATTAC-Sommerakademie Fahrt auf. Inzwischen verzeichnet die Website des Netzwerkes Solidarische Landwirtschaft an die 300 Solawis, die meisten davon als Verein oder Genossenschaften organisiert (www.solawi-genossenschaften.net).

Solidarisch bieten statt billig kaufen

Eine davon ist die 2019 gegründete Solawi in Ammerbuch bei Tübingen. Im Unterschied zu vielen anderen Solawis ging die Initiative hier nicht von einem landwirtschaftlichen Betrieb aus, der sich Partnerhaushalte für die Abnahme seiner Produkte suchte, sondern von der Verbraucherseite. Da sich im Umfeld kein passender Produktionsbetrieb fand, beschlossen die Initiator*innen, selbst eine Ackerfläche zu pachten und zwei Gärtner*innen für den Gemüseanbau anzustellen. Als rechtlichen Träger gründeten sie mit 38 Gründungsmitgliedern dafür den Verein Solawi Ammerbuch e.V.

Cora Strobel auf dem Acker von Solawi Ammerbuch

Die Gruppe rund um Initatorin Cora Strobel hat allerdings nicht nur die reine „Produktion“ von hochwertigen Lebensmitteln im Blick: „Der Umgang und das Verständnis dafür, welche Risiken und Unwägbarkeiten (sei es das Wetter, Schädlinge,…) die Arbeit in der Landwirtschaft tagtäglich begleiten, kann helfen von unserem perfektionistischen Bild des genormten Supermarktgemüses wegzukommen und wieder mehr Vielfalt auf den Tellern zuzulassen“, betont Cora Strobel. Mit verschiedenen Aktivitäten auf und rund um den Acker will der Verein zu diesem Bewusstseinswandel beitragen.

Bei der Frage, wie die prognostizierten Anbaukosten auf die Abnehmer der Erträge umzulegen sind, spielt in Ammerbuch wie auch in vielen anderen Solawis der Solidaritätsaspekt auch intern eine wichtige Rolle. Statt die Kosten einfach zu gleichen Teilen auf alle Mitglieder umzulegen, gibt im Rahmen eines „Bieterrundenverfahrens“ jedes Mitglied ein verdecktes „Gebot“ ab, wie viel es für seinen Ertragsanteil bezahlen kann bzw. will.Dieser Betrag kann über, aber auch unter dem rechnerischen Anteil pro Mitglied liegen. Finanziell bessergestellte Mitglieder können so durch ein höheres Gebot Mitgliedern mit schlechterer Finanzsituation die Teilnahme auch mit einem geringeren Gebot ermöglichen. Reicht bei der ersten Bieterrunde die gebotene Gesamtsumme nicht aus, um die prognostizierten Kosten zu decken, folgt eine weitere Bieterrunde, in der jedes Mitglied sein Gebot anpassen kann. Erfahrungsgemäß führt spätestens dieser zweite Durchgang zum gewünschten Erfolg.

Der monatliche Kostenbeitrag kann dabei – je nach produzierten Lebensmitteln in einer Solawi – zwischen 50 und 150 EUR je Mitglied liegen. Das ist nicht unbedingt günstiger, als sich mit den entsprechenden Lebensmitteln aus dem Bioladen zu versorgen; der zusätzliche Beitrag zur Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen ist es den Mitgliedern allerdings wert.

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