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Nächstenliebe in den Religionen

Jesus machte die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten zu Grundpfeilern seiner Vorstellung vom Reich Gottes. Doch das Motiv der Nächstenliebe kommt auch in anderen Religionen wie dem Islam und dem Buddhismus vor. Kann es als Bindeglied zwischen den Religionen dienen?

Nächstenliebe in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu

Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht seine Botschaft vom „Reich Gottes“ bzw. (besser übersetzt) der „Königsherrschaft Gottes“. Jesus verkündet, welcher Art diese Herrschaft ist und wie sie auch auf Erden wirklich wird. Gott herrscht nicht so wie die Mächtigen dieser Welt, die „ihre Völker niederhalten und ihnen Gewalt antun“ (Mk 10,42; Mt 20,25). Gottes Herrschaft ist geprägt von einer niemand ausschließenden Barmherzigkeit und väterlichen Güte. Gott gibt seinen Geschöpfen – den Gerechten wie den Ungerechten – unterschiedslos das Wasser des Regens und das Licht der Sonne, also das, was sie zum Leben brauchen (Mt 5,45). Gottes Wille besteht darin, dass wir diese Barmherzigkeit nachahmen: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Das Reich bzw. die Herrschaft Gottes „kommt“ in dem Maß, in dem Menschen den Willen Gottes tun, also Gott tatsächlich herrschen lassen. „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe“: Diese Bitten gehören zusammen. Das oberste Gebot – quasi der Grundsatzartikel der Gottesherrschaft – besteht in der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe: Die Liebe Gottes wird dankbar erwidert, indem wir sie an den Nächsten, einschließlich des Feindes, weitergeben. Denn, so Paulus, auch Gottes Liebe umfasst uns ja gerade dann, wenn wir Feinde Gottes sind (Röm 5,8-10). Jesus illustriert die Barmherzigkeit, um die es ihm geht, anhand eines Menschen, der einem Notleidenden hilft, der gerade nicht sein „Nächster“ im Sinne des Volks- und Religionsgenossen war (Lk 10,25-37). „Gott ist Liebe“ – fasst es der Erste Johannesbrief zusammen. Jede(r), der/die liebt, kennt daher Gott; wer nicht liebt, kennt Gott nicht (1Joh 4,7f).

Gehört die Nächstenliebe exklusiv zum Christentum?

Es wird kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass es echte Nächstenliebe unter allen Menschen gibt, gleich ob Christen oder nicht. Allerdings hat der lutherische Theologe George Lindbeck (1923–2018) eine solche Bestreitung tatsächlich versucht. In seinem einflussreichen Buch The Nature of Doctrine argumentiert er, dass zur christlichen Nächstenliebe konstitutiv der explizite Bezug auf den Namen Jesu Christi gehört. Christliche Liebe, buddhistisches Mitleid oder humanistische Brüderlichkeit (fraternité) könnten daher schon vom Ansatz her nicht wirklich vergleichbar oder gar dasselbe sein, unabhängig davon, was die Menschen jeweils empfinden oder konkret tun. Damit liegt Lindbeck auf der Linie von Karl Barths berühmt-berüchtigtem Diktum, wonach das Einzige, das die christliche Religion „als die Religion der Wahrheit gegenüber den Religionen der Lüge“ unterscheide, in dem Namen Jesus Christus bestehe, und zwar „in der ganzen formalen Simplizität dieses Namens“, unter Absehung von allen damit verbundenen inhaltlichen Lehren und Lebensformen (KD I/2, §17, 376f). Ein Problem solcher Argumentationen besteht darin, dass sie dem Zeugnis der Evangelien widersprechen. Denn wie konnte Jesus dann das Verhalten des Samaritaners, des Angehörigen einer als häretisch betrachteten Gruppe, zum paradigmatischen Beispiel dafür erheben, was es heißt, die Gottesherrschaft umzusetzen?

„Alle hohen Religionen der Erde kennen die Forderung der Feindesliebe“. (F. Heiler)

Wenn wir somit nicht von vornherein bestreiten wollen, dass Christen wie Nichtchristen das tun (und tun können), was die Autoren des Neuen Testaments und wohl auch Jesus selbst als echte Nächstenliebe, als Nachahmung und dankbare Erwiderung der göttlichen Barmherzigkeit, verstanden haben, dann stellt sich die durchaus berechtigte Frage, ob eine solche Nächstenliebe auch von nichtchristlichen Traditionen inspiriert und motiviert wird. Die Antwort hierauf besteht in einem unzweideutigen „Ja“. Und dies ist seit langem bekannt. Bereits 1959 (deutsch: 1963) zählte der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler in seinem Aufsatz Die Religionsgeschichte als Wegbereiterin für die Zusammenarbeit der Religionen „sieben große Gemeinsamkeiten“ der bedeutenderen Religionen auf. Hierunter finde sich die Offenbarung, dass die „Wirklichkeit des Göttlichen (…) letztlich Liebe (ist)“ und die Botschaft, dass der Weg zu Gott immer mit dem Weg zum Nächsten verknüpft ist. Ja mehr noch: „Alle hohen Religionen der Erde (…) kennen die Forderung der Feindesliebe“, wie Heiler unter Rückgriff auf die von 1927(!) stammenden Untersuchungen von Hans Haas ausführt. Heiler selbst zitiert für sein Urteil zahlreiche Belege aus den unterschiedlichsten religiösen Traditionen, wie etwa das Wort des muslimischen Mystikers Ibn Imād: „Der Vollendete soll seinen Feinden Gutes erweisen; denn sie wissen nicht, was sie tun. So wird er mit den Eigenschaften Gottes bekleidet; denn Gott tut immer Gutes gegen seine Feinde, obgleich sie ihn nicht kennen.“

Nächstenliebe im Islam

Im Jahr 2007 hat eine große Zahl muslimischer Gelehrter aus recht unterschiedlichen islamischen Traditionen in dem an die verantwortlichen Leiter christlicher Kirchen gerichteten Dokument A Common Word („Ein gemeinsames Wort“) erklärt, dass die Liebe zu Gott und zum Nächsten „die absolut grundlegenden Prinzipien beider Glaubensrichtungen“ bilden und „sich immer wieder und wieder in den geheiligten Schriften des Islams und Christentums“ finden. In einem der sogenannten „heiligen Hadithe“ (diese enthalten durch den Propheten Muhammad außerhalb des Korans übermitteltes Gotteswort), heißt es: „Allāh der Mächtige und Erhabene spricht am Tag der Auferstehung: ›O Sohn Adams, Ich war krank und du hast Mich nicht besucht.‹  Er sagte: ›O Herr, wie kann ich Dich besuchen, wo Du doch der Herr der Welten bist?‹ Er sprach: ›Hast du nicht gewusst, dass einer meiner Knechte krank war, und du hast ihn nicht besucht? Hast du nicht gewusst, dass wenn du ihn besucht hättest, du Mich bei ihm gefunden hättest?‹“.

Der Hadith führt nun Ähnliches für das Speisen der Hungrigen und das Tränken der Durstigen aus: Ich war hungrig, ich war durstig, spricht Gott. Damit erinnert der Hadith an die sogenannte „große Gerichtsrede“ Jesu (Mt 25, 31-46) und ist eventuell von dieser inspiriert. Ein bemerkenswerter Unterschied in der islamischen Version besteht jedoch darin, dass es hier Gott selbst und nicht Jesus ist, der sich mit den Notleidenden identifiziert. Natürlich versteht auch Jesus sein Handeln als Nachahmung Gottes, so dass er schon früh als die Verkörperung von Gottes Wort (Joh 1,14) und als das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15) verehrt wurde. Auch im Christentum wird somit seine Identifikation mit dem Leidenden zum Bild für die dahinterstehende Identifikation Gottes. Der zitierte Hadith kürzt diesen Weg quasi ab, so dass Gottes Identifikation mit dem Leidenden unmittelbar verkündet wird.

Nächstenliebe im Buddhismus

Eine erstaunliche Variante dieses Motivs findet sich im Buddhismus. Einst, so heißt es im Pāli-Kanon, besuchte Buddha Gautama eine Gruppe seiner Anhänger. Einer litt an einer schweren Durchfallerkrankung. Hilflos lag er in seinen Ausscheidungen. Niemand von den anderen Mönchen kümmerte sich um ihn: Er sei ihnen nicht mehr von Nutzen. Da nimmt sich Gautama, unterstützt von seinem Begleiter Ananda, eigenhändig des kranken Mönchs an, wäscht und bettet ihn. Die anderen ermahnt er mit dem Wort: „Wer mich pflegen würde, der pflege die Kranken.“

Auch der Buddha praktiziert Nächstenliebe und identifiziert sich mit dem hilflosen Leidenden.

Der Buddha praktiziert nicht nur die Nächstenliebe, er identifiziert sich mit dem hilflosen Leidenden. In einer späteren Schrift aus dem Mahāyāna Buddhismus (dem Bodhicaryāvatāra) wird diese Vorstellung ausgeweitet: Jeder Buddha identifiziert sich mit allen empfindenden Wesen der Welt. Alles Leid, das wir anderen Wesen zufügen, fügen wir daher auch den Buddhas zu. Wir müssen und können sie hierfür um Vergebung bitten. Zugleich gilt aber auch, dass jeder Liebesdienst, den wir den Wesen erweisen, letztlich den Buddhas getan wird. Dies allein(!), so der Text, sei die wahre Verehrung aller Buddhas (6,126f). Bedenkt man, dass ein Buddha als Verkörperung der letzten Wirklichkeit (des Nirvanas und des Dharmas) gilt, dann wird die Nähe zu den Beispielen aus der christlichen und der islamischen Tradition besonders deutlich.

Nächstenliebe als Zeichen der Gotteserkenntnis

Wir wissen nur zu gut, dass in allen religiösen Traditionen Ideal und Wirklichkeit häufig auseinanderklaffen und dass auch die Ideale selbst nicht selten in einer Weise eingeschränkt und umgedeutet werden, dass sie kaum noch wiederzuerkennen sind. Auch darin hat das Christentum viel mit anderen Religionen gemein. Aber meines Erachtens kann es keinen gut begründeten Zweifel geben, dass Glaubensvorstellungen, wie die genannten Beispiele, Menschen zu liebevollem Verhalten motiviert und darin unterstützt und bekräftigt haben. Wenn jede(r), der/die liebt, Gott kennt, dann haben die Religionen – einschließlich des Christentums – das Potenzial, dieser Gotteserkenntnis als Zeichen und Werkzeuge zu dienen. Für die diversen Theologien in den Religionen ist es an der Zeit, diesem Umstand deutlicher und besser Rechnung zu tragen.

Zum Weiterlesen

Perry Schmidt-Leukel: Das himmlische Geflecht. Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich. Gütersloher Verlagshaus 2022.

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