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Muss Religion nützlich sein?

Wie ein Gespenst geht die Angst vor dem gesellschaftlichen Relevanzverlust um – nicht nur bei Gewerkschaften und politischen Parteien, sondern auch bei den Kirchen. Aber wie definiert sich gesellschaftliche Relevanz? Und passt diese Kategorie überhaupt, wenn es um Religion geht?

Wer nach der „Nützlichkeit“ der Religion fragt, muss den Bezugspunkt benennen: Wem nützlich? Ob Religion dem Einzelnen nützlich ist, ihm Orientierung bietet oder ihm lebensdienlich ist, muss jeder für sich beantworten. Die etwaige Nützlichkeit (oder Relevanz) einer Religion für die Allgemeinheit, ja für das Allgemeinwohl, ist ein anderes Thema. Die jüdische Gemeinschaft könnte in diesem Zusammenhang auf das „Suchet der Stadt Bestes“ aus der hebräischen Bibel verweisen oder auf Fürsorgepflichten zugunsten des „Nächsten“ und des „Fremdlings“ (und das Christentum auf dieselben Texte als Aussagen des Alten Testaments Bezug nehmen). Das Christentum mag insbesondere den Aufruf der griechischen Bibel anführen, dass es „Salz der Welt“ sein, ihr also – im doppelten Wortsinne – grundlegend lebensdienlich sein solle.

Was auch immer unter „Welt“ zu verstehen ist, wie auch immer „Stadt“ gemeint ist – eine Allgemein(wohl)orientierung der drei monotheistischen Religionen gilt als Axiom. Die Verantwortung für die Schöpfung, der samaritanische Dienst oder die Pflicht, den Gast zu ehren, wer er auch sei, bilden vertraute Topoi des Sozialethos der abrahamitischen Weltreligionen, wobei das Label „abrahamitisch“ bei den drei Gemeinten – jüdische, christliche, islamische Religion – nicht unumstritten ist.

Wer stellt die Relevanzfrage?

Wenn die sogenannte Relevanzfrage in den Medien gestellt wird, rückt sie meistens die Mitgliederzahlen von Organisationen und ihr messbares Engagement in Bereichen wie Bildung, Ausbildung, Erziehung, Kranken- und Altenpflege in den Blick. Sie begreift Relevanz also vor allem institutionell und als empirisch fassbare Größe. So wird die Relevanzfrage aufgrund von Tabellen und Diagrammen beantwortet. Ist das eine angemessene Herangehensweise?

Die „R-Frage“ lässt nach Subjekt und Objekt blicken: Wer fragt wen? Im modernen, von der Kirche getrennten Staat, der religiös zwar nicht blind, aber doch unparteiisch, in geläufiger Zuschreibung also „religiös neutral“ sein soll – das heißt, sich von Rechts wegen mit keiner Religion identifizieren darf – dürfen der Staat und die Gesellschaft eine Religionsgemeinschaft nicht danach beurteilen, ob sie ihm (in der Erfüllung seiner Aufgaben?) oder ihr (auf der Suche nach Orientierung?) hilft. Die Verfassungsgarantie der Selbstordnung und Selbstverwaltung (Artikel 140 Grundgesetz/Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung) würde auch einer Religionsgemeinschaft gelten, die ihr Wirken allein selbstreferentiell verstünde. Alle Religionsgemeinschaften „sind von staatlicher Bevormundung frei“, wie es die Verfassung für Rheinland-Pfalz in Artikel 41 formuliert. Der Staat hat die Religionsfreiheit also voraussetzungslos zu garantieren. Das ist kein Austauschgeschäft, kein do ut des, kein Vorgang, der auf eine Gegenleistung ausgerichtet ist. Freiheit fragt nicht nach der Relevanz des Freiheitsträgers, sie ist ein Wert an sich.

Wie sich eine Religionsgemeinschaft darüber hinaus, ihre eigene Religion zu pflegen und die „Flamme“ des Bekenntnisses weiterzugeben, in der Öffentlichkeit einbringt, sei es für „die Stadt“ oder „die Welt“, was sie also außerhalb der Gemeinschaft ihrer eigenen Religionsgenossen leisten und bewirken will, kann nur sie, die Religionsgemeinschaft, definieren – entsprechend ihrem Selbstverständnis und ihrem religiösen Auftrag.

Kooperation als Relevanznachweis?

Gleichwohl ist die Diskussion damit nicht am Ende. Natürlich kann der Staat begründete Erwartungen hegen, etwa bei der Kooperation mit Religionsgemeinschaften, dass sie das Recht wahren, Ansprechpartner benennen, staatliche Fördermittel, etwa im Bereich der Erwachsenenbildung, zweckentsprechend verwenden etc. Dies gehört zu den Selbstverständlichkeiten im Rechtsverkehr.

Darf der Staat aber ideelle Erwartungen an die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften adressieren? Und kann er konkrete Erwartungen daran knüpfen, etwa staatstragende („Verzicht“ auf einen kirchlichen Feiertag) oder solche auf geistlichen Beistand („ökumenischer Staatsakt“ bei Katastrophenfällen und regelmäßig zum Tag der Deutschen Einheit, „Corona-Opfer-Gedenktag“)?

Relevanz der Religionsgemeinschaften als Wertevermittler

Zunächst geht das Verfassungsrecht schlichtweg davon aus, dass die Kirchen Sinnstifter sind. Es erkennt die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Vermittlung grundlegender Werte der Gesellschaft an, und zwar explizit im Landesverfassungs- und im Kirchenvertragsrecht. Diese Wertschätzung kommt nicht von ungefähr, sie beruht auf jahrhundertelanger Erfahrung, mag sie auch manche Trübung erlitten haben. Das Verfassungsrecht attestiert den Religionsgemeinschaften also eine Bedeutung (Relevanz) a priori, allein aufgrund der Tatsache ihrer Existenz. Dass hierbei die weite Verbreitung und tiefe Verwurzelung zumindest der größeren Religionsgemeinschaften in Deutschland eine Rolle spielt, wird niemand bestreiten.

Nach dem bekannten Böckenförde-Diktum „lebt der Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren“, also nicht generieren kann. Der Staat bedarf derer, die ethische Werte verfechten und vorleben, sei es als Einzelne, sei es als zu einer Gemeinschaft Verbundene. In diesem Sinne bedarf der Staat ganz elementar der Religionsgemeinschaften. Das Verfassungsrecht und das auf ihm basierende Kirchenvertragsrecht bringen dies klar zum Ausdruck. Aber diese Erwartung lässt sich nicht einklagen. Ihre Erfüllung hängt nicht zuletzt von der Leistungsfähigkeit der Kirchen und der anderen Religionsgemeinschaften ab.

Kirchliche Leistung in Selbstverantwortung

Sinkenden Mitgliederzahlen zum Trotz sind die Kirchen keineswegs „unvermögend“, der Allgemeinheit Orientierung zu geben. Bildungs- und Akademiearbeit, christliche Publizistik, Kirchentage mögen als Stichworte genügen. Der gemeinsame Nenner dieser Arbeit liegt sowohl im Verkündigungsauftrag als auch im Gestaltungsauftrag in der Welt.

Im Übrigen geht das Verfassungsrecht durchaus davon aus, dass auch Gottesdienst, Firm- und Konfirmandenunterricht, aber auch die innerkirchlichen Debatten um die Ausrichtung der Kirche, die Verhandlungen der Synoden und anderer Gremien der ethischen Grundlegung der Gesellschaft als Ganzer dienen, solange die Kirchen ein wesentlicher Bestandteil derselben sind. Dies muss die Kirchen aber nicht daran hindern, klar zu zeigen, was des Staates und was der Kirchen ist. Einen Gottesdienst verantworten allein die Kirchen. Inwiefern Repräsentanten aus Staat und Gesellschaft daran mitwirken, entscheidet letztlich die kirchliche Seite, was Vorabkontakte und Absprachen ja gar nicht ausschließt. Ein Gottesdienst ist aber kein Staatsakt, auch kein liturgisches Beiwerk zu einer civil religion.

Wäre eine Selbstverweigerung auf religionsgemeinschaftlicher Seite denkbar, etwa ein Totalrückzug in die Innerlichkeit? Solche Töne sind immer wieder zu vernehmen. Kritisch wäre eine solche Haltung schon für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Er lebt nicht nur davon, er kann überhaupt nur stattfinden, wenn es Religionsgemeinschaften gibt, die sich auf eine Kooperation mit den Schulbehörden einlassen. Denn der RU wird nach den „Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt. Der religiös nicht mandatierte Staat darf solche Grundsätze nicht definieren. Ohne Kooperation ginge der bekenntnisgebundene RU notwendigerweise auf Sendepause.

Grenzen der Kooperation

Kooperationsverweigerung wäre ein extremer Fall der Distanzierung. Und wie steht es um „minder schwere Fälle“, um Kritik an der Politik von Parlament und Regierung, um das „Wächteramt“ der Kirchen? Unbequem, aber „nützlich“, weil sonst niemand der Regierung „die Leviten liest“? Widerspruch aus Loyalität, nämlich zu den Werten des Grundgesetzes? Schon an diesen Fragestellungen zeigt sich, dass Religion unter Umständen sperrig sein, ja ganz anders als gewohnt in Erscheinung treten kann, gerade nicht als fünfte Kolonne des Staates, die seine Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- oder Integrationspolitik unterstützt und ihr zur Wirkung verhilft.

Kirche ist nicht die „fünfte Kolonne“ des Staates.

Um nicht missverstanden zu werden: Dies soll keine Politikschelte sein. Um ihres Menschenbildes willen sind die Kirchen wie auch andere Religionsgemeinschaften mit vergleichbarem Ethos zu vielerlei Unterstützung der Politik im demokratischen Rechtsstaat aufgerufen. Aber Religion ist nicht einem bestimmten Politikverständnis geschuldet, sondern zunächst und vor allem demjenigen, das zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt ist. Deshalb entzieht sich Religion einer vordergründigen „Nützlichkeit“, vergleichbar einem Impfstoff oder einer Kampagne gegen Tabakwerbung. Die Relevanzdebatte unserer Tage geht am Kern von Religion vorbei. Wie das göttliche Wesen unsichtbar und unverfügbar ist, so ist Religion als Antwort auf dieses Wesen keine bloße Charity-Veranstaltung. Religion ist immer mehr und zugleich auch anders als die beste Politik.

Staatliche Verantwortung vor Gott und den Menschen

Stellt sich aber die Politik „der Verantwortung vor Gott und den Menschen“, woran die Präambel des Grundgesetzes erinnert, dann weiß die Politik darum, dass die Religionsgemeinschaften in einer sehr multidimensionalen Perspektive „nützlich“ sind. Sie zeigen, dass sich der Staat nicht aus sich selbst erklärt oder sich selbst genügt. Der Beziehungsrahmen von Mensch, Staat und Gesellschaft ist größer als der Normumfang des Grundgesetzes. Daran zu erinnern, dies zu konkretisieren und vorzuleben, sind die Religionsgemeinschaften aufgefordert. Dann werden sie, ohne es zu müssen, der Erwartung gerecht, dann sind sie „relevant“.

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