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Würdevolle Einsamkeit

Ein Leben ohne Einsamkeitserfahrungen gibt es nicht. Aber ist Einsamkeit immer ein negatives, sozial problematisches Phänomen? Ein Blick auf die Geschichte kann helfen zu lernen, wie Einsamkeit in Würde geht.

In der Einsamkeitsforschung ist es üblich, zwischen negativer und positiver Einsamkeit zu unterscheiden. Die negative Einsamkeit gilt als stigmatisiertes soziales Problem, die positive Einsamkeit als Tugend selbstwirksamer, autonomer Menschen. Für die positive Einsamkeit interessiert sich die Forschung deswegen wenig. Eine gewisse „Defizitorientierung“ ist in den Sozialwissenschaften nicht untypisch. Die meisten Forscher*innen würden zudem sagen, dass es sich um eine irreführende Bezeichnung handelt: Positive Einsamkeit ist nichts anderes als eine Form des selbstgewählten Alleinseins. Sie ist Ausdruck der Souveränität und Kultivierung der Person, ihrer Fähigkeit über ihre Zeit zu verfügen und mit sich selbst etwas anfangen zu können. Es handelt sich bei den beiden Formen von Einsamkeit schlicht um zwei ganz unterschiedliche Phänomene, die zufällig den gleichen Namen tragen. Aber so einfach ist es nicht, wenn wir uns die Geschichte der positiven Einsamkeit in der christlichen Welt etwas genauer anschauen. Darüber hinaus können wir aus den Schattenseiten der positiven Einsamkeit sogar etwas lernen, das uns ein wenig verloren gegangen ist: Wie Einsamkeit in Würde geht.

Der Ernst der positiven Einsamkeit

Einsamkeit war in der deutschen Sprache lange ein stark religiös besetzter Begriff. In den ersten populären Texten, in denen er in der deutschen Sprache auftaucht, beschrieb das Wort vor allem eine religiöse Praxis, in der sich der Einzelne durch Meditationen und Gebete auf Gott und die eigene Endlichkeit bezog. Es ging darum, sich im Stillen den letzten Dingen zu nähern. Einsamkeit meint hier weniger ein subjektives Gefühl der Absonderung – eine Deutung die erst in der Aufklärung, u.a. durch Johann Georg Zimmermann (1728 –1795) populär wird – sondern vor allem eine spirituelle Praxis des Innehaltens und des Rückzugs aus dem Alltagsleben mit seinen Versuchungen.

Schon die Gegenstände der Meditationen machen dabei deutlich, dass es sich bei der Einsamkeit um eine ernste Angelegenheit handelte, die nicht im herkömmlichen Sinn „positiv“ war. Das klingt auch noch in der weltlicheren Deutung der Einsamkeit des alten Montaigne (1533–1592) durch: „Hier mache man ernsthafte Überlegungen, und hier lache man, als ob man weder Frau noch Kinder, noch Verwandte, noch Hausgesinde hätte, damit, wenn der Fall eintreten sollte, daß man sie verlöre, es einem nicht schwer sei, sich ohne sie zu behelfen.“

Imitatio Christi als stilles Leitmotiv

Woher kommt der Ernst der positiven Einsamkeit? Für Montaigne ist die Einsamkeit zunächst einmal Belohnung für die Mühen des Lebens: „Wenn man genug für andre gelebt hat, so kann man das letzte Endchen des Lebens wenigstens auch für sich selbst leben, auf uns und unsre Ruhe laß uns unsere Gedanken und Vorsätze hinlenken.“ Ein Großteil des Lebens steht im Dienst der anderen. Nur dieser kleine Rest bleibt einem für einen selbst. Mit der Einsamkeit geht es für Montaigne daher um nichts weniger, als darum, das höchste Gut des menschlichen Lebens nicht zu verfehlen: „Und da ich einsehe, an wie dünnen Faden die Nebengüter hängen, so ist mitten in meinem vollen Genuß meine vornehmste Bitte, die ich zu Gott schicke, er möge mich bei der Zufriedenheit mit mir selbst und mit den Gütern, die in mir selbst liegen, erhalten“ (Zitate aus: Michel de Montaigne: Über die Einsamkeit. In: ders. Essays. Leipzig 1967, S. 147–164).

Auf der Rückseite hat der Humanist dabei ein großes Motiv geschickt verborgen: In der religiösen Tradition, die Montaigne kennt, aber absichtlich nicht zitiert, so sehr er seine Bitten auch an Gott richtet, ist Einsamkeit ein Prozess mit drei Stufen: Reinigung, Erleuchtung und Gnade Gottes. Der Heilige Antonius wird von Dämonen versucht, zieht aus in die Wüste, bezwingt die Dämonen, wirkt Wunder und erfährt durch die Vorsehung den Zeitpunkt seines Todes. Das stille Motiv hinter der „Dreistufen-Theorie“ der positiven Einsamkeit ist die Nachahmung des Lebens Christi. Daraus zieht die positive Einsamkeit bis heute ihren Ernst, auch wenn das in säkularen Deutungen wie jenen von Montaigne natürlich eher in Dur anklingt: Rückzug ins Gelehrtenzimmer, Gespräch mit den Toten, glückselige Ruhe im Selbst.

Negative und positive Einsamkeit  – zwei Deutungen derselben Erfahrung?

Die Beobachtung, dass die positive Einsamkeit nicht einfach ein großartiges Gefühl ist, sondern als ein praktischer Prozess verstanden werden muss, der auch unangenehme Seiten hat, leitet über zu der Beobachtung, dass es erhebliche Überschneidungen zwischen dem negativen Einsamkeitsbegriff der modernen Psychologie und dem Prozess des guten Einsamseins gibt.

Auch die positive Einsamkeit hat unangenehme Seiten.

In der Psychologie wird Einsamkeit heute vor allem als negative Empfindung verstanden, die das Individuum darauf hinweisen soll, dass seine sozialen Nahbeziehungen beschädigt sind. Manche Forscher sprechen auch von der Einsamkeit als sozialem Schmerz und dem sozialen Körper einer Person, weil die Verarbeitung der Einsamkeitsempfindungen in ähnlichen Gehirnarealen abläuft und sich somatisch ähnlich auswirkt wie körperlicher Schmerz. Sinn der Empfindung ist es demnach zunächst, die Einzelnen zu warnen, dass etwas nicht stimmt, und das soziale Gefüge, in dem sie leben, geschwächt ist. Zu starker Einsamkeit gehört eine erdrückende Sehnsucht nach engen Beziehungen und eine quälende leibliche Empfindung. Es ist nicht klar, ob die Anfechtungen des Teufels mittels „Unzuchtsgedanken“ und die Dämonen, die den Heiligen Antonius quälten, das gleiche Gefühl beschreiben. Aber es ist zumindest nicht ganz abwegig zu sagen, die Einsamkeit quält wie ein Dämon.

Eine Ähnlichkeit besteht auch zu einem zweiten charakteristischen Aspekt der akuten Einsamkeitsreaktion, der in der Psychologie beobachtet wird: dem sozialen Rückzugswunsch. Mit akuten Einsamkeitsempfindungen geht eine gesteigerte Wahrnehmung sozialer Bedrohungen einher und der Impuls, sich aus sozialen Beziehungen zurückzuziehen. Der heilige Antonius erlebt die Anfechtungen der Dämonen und zieht hinaus in die Wüste. Auch hier liegt natürlich einiges zwischen der alltäglichen Rückzugsreaktion einer Person, die im sozialen Verkehr eine Kränkung ihrer sozialen Bedürfnisse erfährt, und dem Auszug in die Einöde – aber es besteht zumindest eine narrative Formähnlichkeit. Auf den sozialen Rückzugimpuls folgt in der Psychologie als drittes, das sogenannte „Reaffiliationsmotiv“, dass den primären evolutiven Sinn der Einsamkeit ausmacht: Die Einsamkeitsempfindung motiviert die Person, neue Beziehungen zu knüpfen und alte zu kitten. Die Rückkehr des Heiligen aus der Einöde und die Wunder, die er in der Gesellschaft wirkt – auch sie sind eine Rückkehr ins soziale Leben mit vollen Händen.

Einsamkeit in Würde und das Motiv der Lebensprüfung

Wir hoffen überzeugend angedeutet zu haben, dass es nicht ganz abwegig ist, zu unterstellen, dass es sich bei der negativen und positiven Einsamkeit im Kern – zumindest in den ersten beiden Phasen – um das gleiche Phänomen handelt, das nur auf sehr unterschiedliche Weise gedeutet wird. Die Beobachtung, dass die Frage, ob eine Empfindung „positiv“ oder „negativ“ ist, sich nicht direkt aus dem Lustgehalt der Empfindung ableiten lässt, mag vielleicht zunächst überraschen. Sie betrifft aber bei genauer Betrachtung so ziemlich jede Art Mangel, da sich solche immer zu Mitteln machen lassen. Was haben Apnoetaucher und Eremiten gemeinsam? Sie gewinnen Wertschätzung aus der Kultivierung des Mangels an einer lebenswichtigen Ressource. Das Genre der Robinsonade fasziniert uns bis heute. Menschen, die über lange Zeiträume alleine, am besten noch in der Wildnis überleben – die Athleten der Einsamkeit –, sie ringen uns Respekt ab. Man fragt sich, ob man das selbst auch könnte, ob man die Stärke hätte. Wie lange würde man durchhalten?

Das stille Motiv der Imitatio Christi ist im Kern nicht elitär.

Gegen die Scham, die viele „normale“ Einsame empfinden, die zumeist unfreiwillig auf Geborgenheit spendende Beziehungen verzichten müssen, hilft die Achtung, die wir den außergewöhnlichen Einsamen entgegenbringen, nicht viel. Aber das stille Motiv der Imitatio Christi, das unter der positiven Einsamkeit liegt, ist im Kern nicht elitär. Es ist kein Ideal für die Wenigen, sondern durchaus breitentauglich, wenn man es auf den typischen Lebensweg von Menschen bezieht.

Durch das Leben zu kommen, ohne intensivere Phasen der Einsamkeit durchleiden zu müssen, ist eher unwahrscheinlich. In der Psychologie etwa gilt die Einsamkeit in der Jugend nicht nur als normal, sondern als produktiv. Sie ist notwendiger Teil des Entwicklungsprozesses hin zu einem mündigen Menschen. Und im hohen Alter steht es nicht anders: Auch hier sind Phasen der Einsamkeit kaum zu vermeiden. Zwar ist ein guter Teil der menschlichen Einsamkeit gesellschaftlich gemacht und ließe sich verhindern. Die Vereinsamung beispielsweise von Menschen, die sich aus dem sozialen Leben zurückziehen, weil sie sich ihrer Armut schämen, ist keine Notwendigkeit des Lebens. Aber ein Leben ganz ohne Einsamkeit wird es wohl nicht geben, solange wir erwachsen werden müssen und solange wir sterben. Einsamkeit ist aus dem Blickwinkel der Imitatio Christi daher eine Lebensprüfung auf dem Weg des Wanderers und: Wer geprüft wird und besteht, ist würdig.

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