Jorge Maria Bergoglio – Helfer, nicht Heiliger Zur Rolle des heutigen Papstes in der Zeit des argentinischen Terrorregimes

Es steht außer Zweifel, dass Jorge Mario Bergoglio, der heutige Papst Franziskus, in den Jahren der argentinischen Militärdiktatur nach 1976 viel unternommen hat, um die Leidtragenden der Militärjunta vor Gewalt zu schützen. Trotzdem wurden nach dem Ende der Diktatur Vorwürfe laut, Bergoglio habe in einzelnen Fällen mit dem Regime zum Schaden von Verfolgten kollaboriert. Der bekannte britische Journalist Paul Vallely geht diesen Vorwürfen nach und rekonstruiert die Vorgänge.

Sechs Jahre lang ließ allein der Begriff „ESMA“ die Menschen von Buenos Aires vor Angst erschauern. Dabei standen diese Buchstaben lediglich für eine Einrichtung, an der Mechaniker der Marine ausgebildet wurden, die Escuela de Mecánica de la Armada. Doch nach dem erfolgreichen Militärputsch von 1976, der zum Sturz der demokratischen Regierung führte, wurde daraus eine unheilvolle Institution. Das ESMA-Ausbildungszentrum war eines von 340 geheimen Konzentrationslagern, in denen Zehntausende Menschen für immer „verschwanden“.

Dorthin wurden an einem Sonntagmorgen auch die beiden Jesuitenpriester Pater Franz Jalics und Pater Orlando Yorio gebracht; sie hatten Kapuzen über dem Kopf, waren gefesselt und voller Angst, nachdem man sie in dem Slum festgenommen hatte, in dem sie zuvor sechs Jahre lang ihrer Arbeit nachgegangen waren. Man schaffte sie in den Keller des Zentrums, wo sie sich bis auf die Kapuzen nackt ausziehen mussten und fünf Tage lang gefoltert wurden – in dem vergeblichen Versuch, ihnen das Geständnis zu entreißen, sie seien mit den links gerichteten Guerillas im Bunde, gegen die die Militärjunta nach ihrem Putsch einen Auslöschungsfeldzug führte. Was ihre Situation noch verschlimmerte, war die feste Überzeugung der beiden Geistlichen, sie seien von ihrem Oberen verraten worden, dem Provinzial des Jesuitenordens, Jorge Mario Bergoglio. (…)

Bergoglio im Auftrag des Vatikan gegen die Befreiungstheologie

Drei Jahre bevor Jorge Mario Bergoglio Provinzial der Jesuiten in Argentinien wurde, hatte sein Vorgänger, Pater Ricardo O’Farrell, der Gründung einer neuen Jesuitengemeinde im Stadtteil Bajo Flores in Buenos Aires seinen Segen erteilt. Die vier Priester – Pater Franz Jalics, Pater Orlando Yorio, Pater Luis Dourrón und Pater Enrique Rastellini – sollten in einem neu errichteten Viertel mit Sozialwohnungen leben, das als Rivadavia bekannt war und längs an ein Elendsquartier grenzte. Letzteres wiederum war nur durch die Nummer bekannt, die ihm irgendein Bürokrat des Stadtrates gegeben hatte: Slum 1.11.14. Während der Woche gingen die Priester weiter ihrer Lehrtätigkeit und ihren Schreibaufgaben nach, an den Wochenenden aber kümmerten sie sich um die Vernachlässigten in der Nachbarschaft. Zu den Leuten, mit denen sie in dem Slum zusammenarbeiteten, gehörten auch Aktivisten der Bewegung Peronismo de Base, einer dem Marxismus zuneigenden Gruppierung, die gleichfalls unter den Benachteiligten wirkte.

Dies war nun aber genau die Art von Tätigkeit, von der Bergoglio die Jesuiten unbedingt abbringen wollte, als er 1973 Provinzial wurde. Der neue Mann an der Spitze war aus doppeltem Grund dagegen: Einmal war eine solche Arbeit gefährlich und ließ die Jesuiten ins Fadenkreuz von Gewalttätern geraten. Dazu fußte sie auf der Art von Befreiungstheologie, zu deren Ausrottung der Orden ihn eingesetzt hatte. Wenn die Bibel zur Politisierung und Ermächtigung der Armen eingesetzt würde, so meinte er, würde das für Empörung bei den konservativen Katholiken sorgen, für die diese „vorrangige Option für die Armen“ nichts anderes bedeutete als Subversion und eine Herabwürdigung der ignatianischen Spiritualität. Also teilte er den vier Priestern mit, dass sie ihre Arbeit in dem Slum aufgeben sollten.

Es folgte ein langer Streit. Bergoglio war der Vorgesetzte. Allerdings waren zwei dieser Priester, Jalics und Yorio, nicht nur älter als er – Bergoglio war gerade einmal 36 Jahre alt, als er die Führungsposition einnahm –, sie waren auch seine Lehrer gewesen, als er sich noch in der Ausbildung zum Jesuiten befand. Jalics hatte ihn in Philosophie unterrichtet, Yorio in Theologie. Doch nach einem langwierigen internen Verfahren, das sich über mehr als ein Jahr hinzog, verlangte Bergoglio von ihnen die Auflösung der Rivadavia-Gemeinde. Jalics und Yorio weigerten sich.

Aus Angst vor marxistischen Verbindungen betrieb Bergoglio die Auflösung der Jesuitengemeinde im Slum von Buenos Aires.

Im Februar 1976 spitzten sich die Dinge zu. Bergoglio traf sich mit den beiden Priestern und ließ sie wissen, dass „Rom und gewisse Kreise der argentinischen Kirche enormen Druck“ auf ihn machten, die Gemeinde aufzulösen. In Italien bedrängte der Vatikan, der gerade in die aggressivste Phase seiner Ablehnung der Befreiungstheologie eingetreten war, den Generaloberen der Jesuiten, eine harte Gangart gegenüber Theologen einzuschlagen, die mit marxistischen Gruppierungen wie Peronismo de Base in Verbindung standen. Bergoglio teilte den Männern mit, der Ordensgeneral in Rom, Pater Pedro Arrupe, würde sie dringlich auffordern, sich zwischen der Rivadavia-Gemeinde und der Gesellschaft Jesu zu entscheiden. Yorio hatte seine Zweifel, ob die Order tatsächlich aus Rom kam. Einen Monat später, am 19. März, kam es zu einem neuerlichen Treffen. Was dann geschah, wird widersprüchlich bezeugt. Jalics und Yorio behaupteten hartnäckig, der Provinzial hätte sie davon in Kenntnis gesetzt, dass sie ausgeschlossen würden; Bergoglio hingegen beharrte seither darauf, dass die beiden Männer ausgetreten seien, wenn auch auf seinen Vorschlag hin. Und im Fall von Pater Dourrón sei es genauso gewesen. Bergoglios Äußerungen zufolge wurden die Austritte von Yorio und Dourrón angenommen, in Jalics Fall war dies aber nicht möglich, weil er seine letzten feierlichen Gelübde abgelegt hatte. Nur der Papst konnte ihn von diesen entbinden. In Wirklichkeit hatte wohl Bergoglio die Männer wissen lassen, dass sie im Falle ihrer Weigerung, Rivadavia zu verlassen, als ausgetreten betrachtet werden würden. (…) Er beendete das Treffen mit einer Warnung. „Angesichts der Gerüchte über den bevorstehenden Putsch sagte ich ihnen, sie sollten sehr vorsichtig sein.“

Der Militärputsch und die Folgen

Fünf Tage darauf stürzte die Militärjunta die demokratisch gewählte Regierung. „Jedem war klar, dass es zum Putsch kommen würde“, erinnerte sich die Menschenrechtsanwältin Alicia Oliveira, die schon vor Bergoglios Zeit als Provinzial mit ihm befreundet gewesen war und die zu den Leuten in Buenos Aires gehört, mit denen er als Papst weiter Kontakt hält. „In der Presse wurden schon im Monat zuvor Namen von zukünftigen Ministern der Militärregierung gehandelt. Die Zivilregierung war wirklich schlecht. Die meisten Leute waren froh, als es zum Putsch kam. Aber Bergoglio und ich – wir waren ganz und gar nicht froh. Wir ahnten beide, dass es wirklich schlimm werden könnte.“ Bergoglio und Oliveira hatten beide sehr früh verstanden, was die Anwältin den Hang des Militärs zu einer Freund-Feind-Logik nannte – und dessen gefährliche Unfähigkeit, zwischen politischem, sozialem oder religiösem Engagement und terroristischer Auflehnung zu unterscheiden. „Als wir uns in den Wochen vor dem Putsch miteinander unterhielten, konnte ich feststellen, dass seine Ängste größer wurden, vor allem wegen des Schicksals der beiden Jesuitenpater Yorio und Jalics.“ Zwei Jahre zuvor war ein anderer Jesuit, Pater Juan Luis Moyano, von den Sicherheitskräften festgehalten und dann deportiert worden. Er hatte im Rahmen von Alphabetisierungsprogrammen mit den Armen gearbeitet. Ein rechtes Todeskommando von Triple A hatte zudem den Slumpriester Pater Carlos Mugica ermordet. Anderen Jesuiten zufolge kannte Bergoglio sich in der Lokalpolitik gut aus und bekam manchmal Tipps über bevorstehende Razzien durch das Militär, vor denen er dann Kollegen warnte. (…)

Ob sie nun ausgetreten sind oder ausgeschlossen wurden – für Bergoglio gehörten Yorio und Jalics nicht länger zur Gemeinschaft der Jesuiten. Er setzte den Erzbischof von Buenos Aires, Juan Carlos Aramburu, von diesem Umstand in Kenntnis, sodass der ihnen die Erlaubnis zum Lesen der Messe entzog. Das, so meinte Yorio später in Anlehnung an das, was man ihm in der ESMA gesagt hatte, war „grünes Licht“ für das Militär, gegen ihn und Jalics vorzugehen. Drei Tage, nachdem sie ihre Erlaubnis verloren hatten, wurden die beiden Männer von einer Todesschwadron der Marine aufgegriffen.

Das Vorgehen Bergoglios, so der Vorwurf seiner Kritiker, war „grünes Licht“ für das Militär, gegen die Priester vorzugehen.

Die Entführung geschah am Sonntag, dem 23. Mai 1976, um elf Uhr vormittags. Tags zuvor hatte Yorio Bergoglio angerufen und gefragt, was die beiden Priester wegen der anstehenden Sonntagsmesse tun sollten. Bergoglio ließ sie wissen, dass sie die Messe privat bei sich zu Hause lesen könnten, und schickte einen anderen Priester, Pater Gabriel Bossini, der die Messe in der Kirche las. Als die Messfeier beendet war, rückten 200 Mann der Marinesturmtruppen in das Gebiet von Bajo Flores ein. Sie ergriffen die beiden Priester bei sich zu Hause, dazu vier Katechetinnen und zwei von ihren Ehemännern. Pater Bossini ließen sie unbehelligt. Pater Dourrón, der zu dieser Zeit mit dem Fahrrad in der Gegend unterwegs war, gelang es zu entkommen. Die sechs Menschen, die zusammen mit den Priestern ergriffen wurden, hat niemand je wieder gesehen.

Bergoglios Reaktion auf das Verschwinden der Priester

Bergoglio hörte durch einen Bewohner von Bajo Flores, der ihn später an dem Tag anrief, von der Verschleppung. „Noch in derselben Nacht, als ich von der Entführung erfahren habe, wurde ich aktiv“, erklärte er. Der Provinzial informierte den Ordensgeneral der Jesuiten in Rom „von einer Telefonzelle auf der Corrientes Straße aus, um nicht das Telefon in der Kurie zu benutzen“. Er rief die Kirchenoberen an, und er nahm Verbindung mit den Familien von Yorio und Jalics auf, um sie darüber zu unterrichten, welche Schritte er unternehmen würde. An Yorios Bruder Rodolfo schrieb er später: „Ich habe mich viele Male bei der Regierung für die Freilassung Ihres Bruders eingesetzt. Bis jetzt haben wir keinen Erfolg gehabt. Ich habe die Hoffnung jedoch nicht verloren, dass Ihr Bruder bald freikommt. […] Ich habe diese Angelegenheit zu meiner Sache gemacht. Die Differenzen, die Ihr Bruder und ich über Fragen des religiösen Lebens hatten, haben damit nichts zu tun.“ Am 15. September 1976 – die beiden Priester waren da schon länger als vier Monate verschollen – schrieb Bergoglio in ganz ähnlichem Wortlaut an Jalics’ Familie. (…)

Die Menschen, die Bergoglio nahestehen, sind sich sicher, dass ihm die Entführung großen Kummer machte. „Jorge litt in den Monaten nach der Verschleppung von Yorio und Jalics unter großer Angst um sie“, so seine gute Freundin Alicia Oliveira. „Er unternahm eine Menge, um ihre Freilassung zu erreichen. Er suchte den Chef der Junta auf, General Videla, der ihm mitteilte, dass die Aktion von der Marine ausgeführt worden war. Also ging er zum Chef der Marine, Massera. Er sprach mit den Jesuiten in Rom. Er sprach mit dem Vatikan. Er hat sich seitdem ständig Vorwürfe gemacht, nicht genug unternommen zu haben, dabei setzte er sich wie verrückt dafür ein, dass sie freikamen.“ (…)

Bergoglio hat sich ständig Vorwürfe gemacht, nicht genug unternommen zu haben; dabei setzte er sich wie verrückt dafür ein, dass die Priester freikamen.

Fünf Monate dauerte es, bis die beiden Jesuiten wieder frei waren. Am 23. Oktober 1976 klingelte das Telefon im Büro des Provinzials im Colegio Máximo. Es war Yorio. Später äußerte Bergoglio gegenüber dem Gericht im ESMA-Prozess: „Ich bat ihn: ,Sag mir nicht, wo du bist, und bleib, wo du bist. Schicke jemanden zu mir, der mir mitteilt, wo wir uns treffen können.‘ Zu dieser Zeit war man gezwungen, alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.“ Bergoglio setzte sich mit dem Apostolischen Nuntius, Erzbischof Pio Laghi, in Verbindung, um ihn zu bitten, Yorio und Jalics in die Polizeizentrale zu begleiten. Laghi spielte Tennis mit Marinechef Massera. In Begleitung des wichtigsten Vertreters des Papstes in Argentinien „konnte ihnen dort nichts Schlimmes passieren“, so Bergoglio im ESMA-Prozess. Man kam zu dem Schluss, dass es das Beste sei, wenn die beiden Jesuiten das Land verließen. Yorio wurde ermöglicht, nach Rom zu gehen, um dort Kirchenrecht zu studieren. Jalics begab sich in die USA, wo seine Mutter lebte. 1978 ging er nach Deutschland und wirkte dort als geistlicher Begleiter. Später gründete er ein Exerzitienhaus und entwickelte eine spezielle Praxis der begleitenden Exerzitien mit dem Jesusgebet – Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder – im Zentrum. Jalics selbst berichtete, dass er die Gefangenschaft seelisch überlebte, indem er das Gebet wieder und wieder rezitierte.

Es gab verschiedene Ansichten über die Gründe, aus denen die beiden Priester freigelassen und nicht ermordet wurden wie die allermeisten der „Verschwundenen“. Für Bergoglios Freunde war sein Eingreifen ausschlaggebend. Die Witwe des Menschenrechtsaktivisten Emilio Mignone behauptete dagegen beharrlich, dass es ihr Mann gewesen war, der die Freilassung der Jesuiten bewirkt hatte, indem seine Verbindungsleute in Rom auf das argentinische Regime Druck ausübten. Yorios Bruder Rodolfo dagegen führte die Wendung auf einen Handel zurück, der ein Treffen zwischen dem Wirtschaftsminister der Junta und dem Vatikan sichern sollte, das wenige Tage nach der Freilassung der Männer tatsächlich stattfand. (…)

Bergoglios Einsatz für Verfolgte der Militärjunta

Es steht außer Zweifel, dass Jorge Mario Bergoglio in den Jahren des Schmutzigen Krieges viel versucht und unternommen hat, um die Leidtragenden der Militärjunta vor Gewalt zu schützen. Tatsächlich hatte er sogar schon vor dem Putsch begonnen, den Verfolgten beizustehen. In der Provinzzentrale in der Bogotá-Straße im Zentrum von Buenos Aires hatte er Personen Schutz gewährt, die vor der Diktatur im benachbarten Uruguay auf der Flucht waren. Einige Wochen vor der Machtübernahme des Militärs wollte er das Haus schließen, weil er gehört hatte, dass es von den Sicherheitskräften „markiert“ worden war. Bergoglio ließ die Flüchtlinge, die sich dort verborgen hielten, in das mehr als zehn Kilometer entfernte, am Stadtrand gelegene Colegio Máximo bringen und instruierte die Mitglieder der Gemeinschaft dort, sie sollten, wenn sie gefragt würden, erklären, dass die Neuankömmlinge sich dreißigtägigen Schweigeexerzitien unterzogen. Bergoglio spekulierte darauf, dass das Militär sich nicht so leicht in die Belange einer höheren Bildungseinrichtung der Jesuiten einmischen würde. (…)

Laut Oliveira tat Bergoglio, was er konnte, um mit öffentlichen Unterstützungsgesten Hilfe zu leisten. Sie hatte vor dem Putsch als Richterin gearbeitet, war jedoch gleich nach Machtantritt des Militärs entlassen worden. Und das war noch nicht alles. „Irgendwelche Leute sprachen meinen vierjährigen Sohn an und sagten zu ihm: ,Wir werden deine Mutter umbringen.‘ Zwei Tage später schickte mir jemand einen Blumenstrauß mit einem Brief, in dem stand, wie gut ich als Richterin gewesen sei. Er war nicht unterschrieben, aber ich habe Bergoglios Handschrift erkannt.“ Er bot ihr einen sicheren Hafen am Colegio Máximo, sie lehnte ab. Oliveira war alleinerziehende Mutter, und bald darauf setzte Bergoglio ein Zeichen, indem er ihren jüngsten Sohn taufte. Es war kein öffentliches prophetisches Zeugnis, aber es war eine große Unterstützung für sie persönlich, erinnerte sich Oliveira. In den meisten Fällen aber leistete Bergoglio im Verborgenen Widerstand. (…)

In den meisten Fällen leistete Bergoglio im Verborgenen Widerstand. Er kannte deutlich die Grenzen seiner Möglichkeiten, öffentlich etwas zu tun.

„Es war eine Zeit sehr großer Spannungen“, erinnerte sich Pater Juan Carlos Scannone, seinerzeit Theologe und heute am Colegio Máximo tätig, „in der man bei allem, was man tat, auf der Hut sein musste.“ Scannone bezeichnet sich selbst als Befreiungstheologe, wobei er sich dem nicht marxistischen Flügel zurechnet. Während des Schmutzigen Krieges zeigte er Bergoglio häufig seine Artikel zur Befreiungstheologie, bevor sie publiziert wurden, „um mich vor unguten Interpretationen zu schützen“. Bergoglio bat ihn, sie von einer anderen Adresse aus abzuschicken, weil er das Militär verdächtigte, die Post der Jesuiten zu durchleuchten. Aber er hat keinen Versuch gemacht, Scannones Schreiben zu zensieren. Und er riet dem Theologen ebenso wie anderen Geistlichen, die in den Armenvierteln arbeiteten, davon ab, nach Einbruch der Dunkelheit allein zurückzureisen, weil sie sonst den Verschleppungstrupps der Regierung in die Hände fallen könnten.

Dennoch kannte er deutlich die Grenzen seiner Möglichkeiten, öffentlich etwas zu tun. So schilderte er es Oliveira, die später Ombudsfrau der Stadt Buenos Aires für Menschenrechte war. Sie drängte ihn zu Zeiten der Diktatur, seine Stimme zu erheben. „Er war gequält“, erinnerte sie sich. „Aber er sagte, er könnte es nicht tun, es wäre gar nicht leicht.“ Aus Scannones Sicht ist es wichtig, den Grenzen Rechnung zu tragen, an die Bergoglio seinerzeit stieß: „Er war noch nicht einmal Bischof und konnte nur in seiner Funktion als Oberhaupt der Jesuiten des Landes handeln. Seine Aufgabe war es, sich schützend vor die Jesuiten zu stellen, und da alle Jesuiten diese Zeit heil überstanden haben, hat er seine Aufgabe doch erfüllt.“

Der Beitrag ist ein gekürzter Vorabdruck aus der im August 2014 auf Deutsch erscheinenden Papst-Biographie von Paul Vallely, die in ihrer englischen Originalfassung weltweit Anerkennung gefunden hat.

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