Überwachung und Freiheitsrechte Wie der Kampf gegen den Terrorismus zum Angriff auf Grundrechte wird

Der politische Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Freiheit spitzt sich seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 und mit der seither wachsenden staatlichen Überwachung immer mehr zu. Bundesjustizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigt die Gefahren dieser Entwicklung auf.

Spätestens seit den schrecklichen terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 wird die politische und gesellschaftliche Debatte in Deutschland stark von dem Bestreben nach möglichst umfassender Sicherheit und Schutz vor einem schwer individualisierbaren Feind beherrscht. Wächst die Furcht vor Bedrohung, wird es immer schwieriger, für die Bedeutung der Freiheitsrechte und für die Verteidigung der Privatsphäre des Einzelnen Akzeptanz und Unterstützung in weiten Teilen der Gesellschaft zu bekommen. Angst ist ein schlechter Ratgeber.

Die Kölner Ereignisse in der Silvesternacht, die Anschläge islamistischer Terroristen 2015 und 2016 in Paris und Brüssel sollen gerade dieses permanente Gefühl der Angst verbreiten, um damit die offene Gesellschaft und ihre Werte zu erschüttern. Dominiert die Sicherheit, verändert sich das ungezwungene Zusammenleben und das Leben der Freiheit.

Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit

„In dubio pro libertate“ („Im Zweifel für die Freiheit“) ist die von Werner Maihofer formulierte Formel, die ausdrückt, dass der freiheitliche Rechtsstaat nicht irgendeine Freiheit, sondern die größtmögliche Freiheit des Einzelnen zum Ziel hat und zugleich die erforderliche Sicherheit der anderen vor der Verletzung ihrer Rechte durch Missbrauch der Freiheit (Werner Maihofer, „Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft“, Vortrag vor der Kath. Akademie Hamburg am 20.6.1976, zit. nach P. Juling (Hrsg.): Was heißt heute liberal? Bleicher Verlag 1978, S. 154ff.).

Derjenige hat danach die Beweislast, der eine Freiheitsbeschränkung zugunsten der Sicherheit begründen und rechtfertigen will. Nur bei zwingender Notwendigkeit kann die Beschränkung von Freiheitsrechten politisch gerechtfertigt werden.

Das ist der Spannungsbogen einer jahrzehntelangen innenpolitischen Debatte, in der – und auch das zeigt die aktuelle Diskussion – das Modell des liberalen Rechtsstaates zunehmend in die Defensive gerät und der Ruf nach einem ausgeprägten Präventions- und Schutzstaat immer lauter wurde. In den 90er Jahren war die sogenannte organisierte Kriminalität (Geldwäsche, Drogen- und Menschenhandel) von den Sicherheitsbehörden als die Gefahr für den Rechtsstaat ausgemacht worden.

Paradigmenwechsel durch den „Großen Lauschangriff“

Ein entscheidender rechtspolitischer Paradigmenwechsel wurde mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ vom 26. März 1998 vorgenommen. Darin wird die akustische Wohnraumüberwachung – der „große Lauschangriff“ – strafprozessual geregelt, was durch eine gleichzeitig vorgenommene Änderung von Artikel 13 des Grundgesetzes (GG) ermöglicht wurde: Der privateste Zufluchtsraum, die private Wohnung, schützt nicht mehr vor staatlichen Abhörmaßnahmen, sondern es darf das private Gespräch bei Verdacht auf eine schwere Straftat abgehört werden. Das bedeutete angesichts des damaligen technischen Entwicklungsstandes das heimliche Eindringen in die Wohnung, um so genannte Wanzen anzubringen. Dieses Gesetz wurde mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 als in wichtigen Teilen mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.

Erstmals in der Rechtsprechungsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts wurde in dieser so genannten „Lauschangriff-Entscheidung“ vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 109, 279ff Lauschangriff) der Versuch unternommen, die in Artikel 1 Absatz 1 GG geschützte Menschenwürde, in deren Kern der Staat wegen der Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 GG unter keinen Umständen, auch nicht zum Schutze hochrangiger Rechtsgüter eingreifen darf, zu konkretisieren. Die Menschenwürde ist danach dann verletzt, wenn eine staatliche Überwachungsmaßnahme den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ berührt.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001

Nach den terroristischen Anschlägen in Washington und New York am 11. September 2001 hat der Staat – auch über den Umweg der Europäischen Union – weiter aufgerüstet. Der traditionell zwischen Innen- und Rechtspolitik angelegte Konflikt, der seinem Inhalt nach ein Konflikt zwischen den politischen Zielgrößen Sicherheit und Freiheit ist, hatte im Gefolge der Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus eine qualitativ neue und gefährliche Dimension erreicht.

Gefährlich deshalb, weil es in diesem Konflikt nicht mehr nur um eine Ausbalancierung des Spannungsverhältnisses zwischen Freiheit und Sicherheit ging, sondern dieses Spannungsverhältnis zunehmend einseitig zu Lasten der Freiheit aufgelöst werden sollte. Die dem Selbstverständnis eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates angemessene Formel „im Zweifel für die Freiheit“ soll durch die Losung „im Zweifel für die Sicherheit“ ersetzt werden.

Die heimliche Online-Durchsuchung und -Überwachung privater Computer durch die Nachrichtendienste, die Ausdehnung polizeilicher Zuständigkeiten in das Vorfeld zur Ermittlung von Strukturen, Begleit- und Kontaktpersonen, die heimliche Überwachung von Bankkonten- und Finanzdienstleistungen kamen hinzu. Die Übermittlung zahlreicher Flugpassagierdaten, die Überwachung von Postdienstleistungen aller Art, die Ausdehnung von Sicherheitsüberprüfungen und umfangreiche Rasterfahndungen sowie das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz sollten die Sicherheit gegen Gefährdungen deutlich verbessern.

Das neue „Supergrundrecht“: Sicherheit

Die theoretische Grundlage für diese Neugewichtung lieferte unter anderem der Staatsrechtler Josef Isensee, indem er die Behauptung aufstellte, im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sei – wenn auch nicht ausdrücklich, so doch implizit – ein Grundrecht auf Sicherheit verankert (vgl. J. Isensee: Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaats, 1987). Diese in der Rechtswissenschaft einigermaßen folgenlose Diskussion wurde von vielen Innenpolitikern dankbar aufgegriffen und zur theoretischen Basis eines sich andeutenden Paradigmenwechsels in der Innenpolitik. Statt angesichts der neuen Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus zu fragen, wie Sicherheit und Freiheit in einer vernünftigen Balance gehalten werden können, postulierte der damalige Bundesinnenminister schlicht den unbedingten Vorrang der Sicherheit als vermeintliches „Supergrundrecht“.

Persönlichkeitsrecht als Grenze

Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Grundsatzentscheidung zur Volkszählung 1983 unmissverständlich erklärt, dass zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht das Recht des einzelnen gehört, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte von ihm preisgegeben werden. Es hat die Gefahren gesehen, die dem Persönlichkeitsrecht unter den Vorzeichen der automatisierten Datenverarbeitung drohen, und reklamiert, dass der einzelne davor besonders geschützt werden muss.

„Eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung, in der der Bürger nicht mehr wissen könne, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß, ist mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vereinbar. Wer unsicher sei, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, werde versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Hieraus folge, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraussetze. Dieser Schutz sei daher von dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasst (BVerfG 65, 1 – 71).“

Neue Gefahr: Vorratsdatenspeicherung

Das Recht der informationellen Selbstbestimmung und auf Schutz der Privatsphäre gilt natürlich auch heute für die digitale Kommunikation. An diesen Rechten ist die Speicherung, Analyse, Verarbeitung und Verwendung von Daten zu messen, die zum Vorgehen gegen internationalen Terrorismus verwandt werden sollen, also auch die Speicherung der Telekommunikationsverbindungsdaten aller Bürgerinnen und Bürger, genannt Vorratsdatenspeicherung. Es ist eine unendliche Geschichte, das umstrittenste Vorhaben der EU-Kommission der letzten Jahre und eine andauernde juristische Auseinandersetzung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union.

Die am 15. März 2006 in Kraft getretene Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung sah für alle Kommunikationsdaten Speicherfristen von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren vor. Das zur Umsetzung der Richtlinie am 1. Januar 2008 in Kraft getretene deutsche Gesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht am 2. März 2010 als verfassungswidrig verworfen. Die Daten mussten unverzüglich gelöscht werden. Nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung verletzte das Gesetz zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in dieser Ausgestaltung das Grundrecht auf Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses und auf Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation.

Terroranschläge werden durch Vorratsdatenspeicherung nicht verhindert.

Angesichts der jahrelangen intensiven und streitigen Debatte über die anlasslose Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsverbindungsdaten sollte man annehmen, dass die Behauptungen der Unverzichtbarkeit der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung durch eindeutige rechtstatsächliche Untersuchungen belegt seien. Ein Gutachten des Max-Planck-Institutes zeigt aber auf, dass Terroranschläge durch die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht verhindert werden und die Aufklärung von Straftaten nur marginal (0,1 %) ansteigt. Zudem sind diese Datenberge für den Zugriff von Geheimdiensten, wie der NSA-Skandal gezeigt hat, äußerst interessant, die Missbrauchsgefahr groß.

Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung durch den EuGH

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Mai 2014 die EU-Richtlinie von 2006 wegen der Verletzung der EU-Grundrechte-Charta als rechtswidrig aufgehoben. Er stellt unmissverständlich fest, dass die massenweise anlasslose Speicherung von Daten sowohl das Recht auf Schutz der Privatheit gemäß Art. 7 als auch den Schutz der persönlichen Daten gemäß Art. 8 der Charta der Grundrechte berührt und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Art. 52 Abs. 1 der Charta verletzt.

Die in der Richtlinie aufgestellte Verpflichtung zur Speicherung und die Erlaubnis zur Verarbeitung stellen als solche einen besonders schwerwiegenden Eingriff in diese beiden Grundrechte von großem Ausmaß dar. Die immer wieder gern verwandte Argumentation, dass nicht die Speicherung der Daten, sondern erst der Zugang zu ihnen und die weitere Verwendung und Verarbeitung grundrechtsrelevant seien, ist damit vom EuGH klar zurückgewiesen worden. Wie schon das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung herausgearbeitet hat, entsteht durch die unterschiedslose massenweise Speicherung der Daten auf Vorrat bei den Bürgerinnen und Bürgern in der Europäischen Union, also ca. 500 Millionen Menschen, ein diffuses bedrohliches Gefühl der permanenten Überwachung und damit des Vertrauensverlustes in die Vertraulichkeit der Kommunikation informationstechnischer Systeme. Diese Entgrenzung der staatlichen Überwachungstätigkeit unter Benutzung privater Dienste-Anbieter macht die Intensität des Eingriffs aus.

Die Vorratsdatenspeicherung schafft ein diffuses bedrohliches Gefühl permanenter Überwachung.

Der EuGH lehnt letztendlich die anlasslose Speicherung ab, da sie nicht auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt ist und keinen unmittelbaren oder noch nicht einmal einen mittelbaren Bezug zu einer Handlung hat, die zur Strafverfolgung Anlass gibt und ein Zusammenhang zwischen den verpflichtend zu speichernden Daten und der tatsächlichen Bedrohung der öffentlichen Sicherheit fehlt. Mit seiner Kritik an der fehlenden geografischen und personellen Beschränkung der zu speichernden Daten erteilt er der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung eigentlich eine endgültige Absage. Denn nur wenn es konkrete Kriterien für einen Anhaltspunkt oder konkreten Tatverdacht gibt, kann der Personenkreis eingegrenzt und auch räumlich ein engerer Rahmen gezogen werden.

Die Praxis der Vorratsdatenspeicherung seit 2015

Dennoch hat die Bundesregierung unter der täuschenden Bezeichnung so genannter „Höchstspeicherfristen“ einen Gesetzentwurf zur anlasslosen Speicherung der meisten Telekommunikationsverbindungsdaten vorgelegt und behauptet, dies sei zum Vorgehen gegen den Terrorismus erforderlich. Seit 18. Dezember 2015 ist das Gesetz in Kraft. Auch wenn gewisse Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes berücksichtigt werden, handelt es sich wieder um eine ohne jeden Anlass verpflichtende Speicherung von Daten der Telekommunikation für 4 bzw. 10 Wochen.

Hauptkritikpunkte sind die Speicherung der Daten auch von Berufsgeheimnisträgern – also von Anwälten, Ärzten, Journalisten –, die mit der Speicherung der Funkzellen ermöglichten Bewegungsprofile unbescholtener Bürger sowie die Speicherung der SMS, wohl auch der Inhalte. Gegen das Gesetz sind Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden.

Digitale Souveränität

Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis darf keine museale Erinnerung an graue Vorzeiten werden, in denen man noch unbefangen Kontakte mit anderen Menschen haben konnte. Es muss seine Kraft gerade auch unter den technischen Bedingungen unserer heutigen Gesellschaft entfalten können.

Jeder Nutzer muss sich der Bedeutung der von ihm hinterlassenen Daten bewusst sein. Er selbst muss bestimmen können, ob, wie lange und für welche Zwecke seine Daten von IT-Unternehmen für ihre Geschäftszwecke verwandt werden dürfen. Er muss sich durch Verschlüsselung schützen dürfen und sollte ein Recht auf Verschlüsselung gegenüber den IT-Anbietern haben.

Seine digitale Souveränität wird durch die am 14. April vom Europäischen Parlament verabschiedete Datenschutzgrundverordnung gestärkt, die 2018 in Kraft treten wird. Endlich muss er verständlich informiert und um Einwilligung gebeten werden. Endlich hat er das Recht, seine Daten bei Wechsel eines Anbieters mitzunehmen und endlich gelten diese europäischen Standards auch für internationale Konzerne mit Hauptsitz außerhalb Europas.

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