„… der alles so herrlich regieret“ Göttliche Allmacht und wissenschaftlicher Welterklärungsanspruch

Die Naturwissenschaften haben Gott vom Allherrscher zum Lückenbüßer degradiert. Trotzdem kommen Menschen bei der Suche nach einem sinnerfüllten Leben immer wieder auf ihn zurück. Ein Streifzug durch das Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität, angeregt durch ein aktuelles Buch zum Thema.

Von der Antike bis zur Aufklärung kam keine Lehre vom Sein (Ontologie) der Welt und ihrer Phänomene, einschließlich des Menschen, ohne „Gott“ aus, allgemeiner gesagt: ohne ein transzendentes – also jenseits der mit den Sinnen zugänglichen Welt verortetes – alles begründendes Letztprinzip. Dieses wurde als ein Immaterielles, Geistiges gedacht. Mit den Fortschritten in der Naturerkenntnis, in der Kosmologie mit der Erforschung unseres Planetensystems und der Bewegung der Himmelskörper, änderten sich die Namen bzw. Funktionen, die man Gott gab oder als wesentlich zuschrieb. Aber ohne ihn als Weltenschöpfer und Weltenlenker und eo ipso allmächtiges Wesen ging es auch in den Theorien der Kosmologen nicht. (Einmal abgesehen vom antiken Philosophen Demokrit, der sein Welterklärungsmodell auf den Atomen aufbaute, also auf einem materialistischen Weltbild, ohne damit aber philosophisch bestimmend werden zu können.)

1. Gott, der geniale Mathematiker

Der italienische Physiker Galileo Galilei führte an der Wende zum 17. Jahrhundert eine neue Methode in die Naturforschung ein, das Experiment. Damit gelang es ihm, seine Beobachtungsgegenstände gewissermaßen zu vermessen und aus seinen Messungen Gesetze abzuleiten. So setzte er die Mathematik in die Funktion der Sprache unseres Naturverständnisses ein, nannte das Universum ein Buch, geschrieben in der Sprache der Mathematik, und erhob Gott in den Rang eines genialen Mathematikers. Allgemeiner ausgedrückt hielt er an dem Glauben fest, die mannigfachen Erscheinungen in der Natur würden durch eine klare und selbst unbedingte, einfache Ordnungsmacht verbürgt, die als verlässliche Gesetze an sich existierten.

Einen solchen metaphysischen Ordnungsrahmen setzten auch Johannes Keppler und Issac Newton, die Gründerväter der modernen Astronomie, für ihre naturwissenschaftliche Denkweise voraus. Der deutsch-schweizer Wissenschaftsautor und Unternehmer Lars Jaeger, der in seinem Buch Wissenschaft und Spiritualität (Berlin, Heidelberg 2016) auch für philosophische Laien gut verständlich in die Geschichte von Naturwissenschaft und Gottesglauben einführt, schreibt dazu: „Für alle drei war die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit eng verbunden mit der Erkenntnis der Herrlichkeit, Vollkommenheit und Allmacht Gottes und seiner Schöpfung“. Und fährt fort: „Nur er konnte Gesetze schaffen, nach denen die Welt derartig perfekt ablaufen kann“ (S. 64).

Das Geschehen in der Natur funktioniert aus sich heraus

Eine Wende im philosophischen und naturwissenschaftlichen Denken ist mit den Namen René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz verbunden. Sie postulieren nämlich, dass alle physikalischen Erkenntnisse aus sich heraus wahr sein müssen – und zwar aufgrund der den Dingen selbst innewohnenden Eigenschaften. Womit sie ohne Gott aus sich heraus bestehen und sozusagen von selbst funktionieren.

Alle diese Denker lösten sich zwar von den Dogmen und kirchlichen Denkverboten des Mittelalters, doch damit waren für sie nicht der Gottesglaube und die Religion des Christentums obsolet. „Die Rolle eines transzendenten Gottes“, schreibt Jaeger, „diente gut als Begründungsprinzip offen gebliebener Fragen“ (S. 78). Voller Staunen und Bewunderung für die Harmonie des Ganzen fühlten sie sich frei, die empirische Welt zu erforschen und die Natur allmählich mechanistisch zu beschreiben – als kosmisches „Uhrwerk“ (Newton), das mehr oder weniger störungsfrei abläuft, nachdem es von Gott einmal geschaffen und aufgezogen war.

Vom Pantokrator zum Lückenbüßer

Erst mit dem radikalen Rationalismus der Aufklärung im 18. Jahrhundert verlor Gott seine allesbestimmende Position in der Natur. Aus dem allmächtigen und vollkommenen Allherrscher (Pantokrator), der – auf die eine oder andere Weise – alles so herrlich regiert, wurde Gott als Lückenbüßer für fehlendes Wissen, immer weiter zurückgedrängt, je mehr man mit den Methoden wissenschaftlicher Vernunft den natürlichen Abläufen ohne übernatürliche Erklärungen auf die Spur kam. Der französische Physiker und Mathematiker Pierre-Simon Laplace sagte schließlich über Gott: „Ich habe dieser Hypothese nicht bedurft.“

2. Gott im Gefühl

„Lobet den Herren, der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet, der dich erhält, wie es dir selber gefällt, hast du nicht dieses verspüret.“ (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 316)

Joachim Neander dichtete die fünf Strophen dieses in den Kirchen auch heute noch viel gesungenen Liedes 1679. Nach Pastor Neander, einem dem Pietismus nahestehenden und naturverbundenen Mann, wurde das Neandertal bei Düsseldorf genannt. Das „Verspüren“ in der Seele war sozusagen die Erkenntnistheorie Neanders, wenn es um die Erfahrung Gottes ging. Tief innerlich offenbare sich demnach dem Menschen die überwältigende Weisheit und den ganzen Menschen umfassende Fürsorglichkeit Gottes. Nicht dem Buch der Natur und der objektivierenden Berechnung ihrer Gesetze gilt der Blick, sondern das Auge richtet sich auf die Bibel, in deren Lektüre die Seele Ruhe findet und in eine unmittelbare Beziehung zu Gott kommt und sich infolgedessen sittlich reinigt und ein „erwecktes“ Leben zu führen vermag. Darin bestehen sozusagen das „Experiment“ und die subjektiv erlebte Wahrheit des Glaubens. Nicht die Mathematik, sondern das Gefühl, möchte man sagen, ist das Vehikel des Verstehens und der Verständigung mit Gott.

Vom Experiment zur Introspektion

Eine Parallele zu dieser Hinwendung zur Subjektivität findet sich dann auch als geistige Gegenbewegung Ende des 18. Jahrhunderts zum Aufklärungs-Rationalismus. Nun pochten viele Intellektuelle und Dichter wieder auf ihre Gefühle und ihr Empfinden, das ihnen eine Natur voller Geheimnisse offenbarte. „So entwickelte sich in der Romantik“, analysiert Jaeger, „schon wieder eine Gegenbewegung, welche der deterministischen Weltsicht des Newton’schen Uhrwerks Dinge wie unmittelbare Erfahrung, Kreativität und die Individualität des Einzelnen entgegenstellte“ (S. 82).

Das romantische Denken und die (zeitlich folgende) Philosophie des „deutschen Idealismus“ entwickelten schließlich eine ganzheitliche (holistische) Naturbetrachtung. Unter ihr versteht man die Überzeugung, die Welt nicht mit einer Untersuchung ihrer Teile und deren „Hochrechnung“, sondern nur durch ihre Betrachtung als Ganzes verstehen zu können. Vorstellungskraft, Gefühle und Sinneseindrücke sind die Möglichkeiten eines erweiterten Bewusstseins, sich das Leben zugänglich zu machen, in ihm heimisch zu werden, sich im Großen und Ganzen geborgen zu fühlen und im individuellen Dasein einen Sinn zu erkennen.

Diese Erkenntnis und dieses Lebensgefühl atmen auch die folgenden Verse Neanders:
(3) Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet, in wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel bereitet.
(4) Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet. Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet.

3. Was Gott „regieret“ und was nicht

Lars Jaeger behandelt in dem genannten Buch die großen Menschheitsfragen (nach der Entstehung der Welt und des Lebens, der Herkunft des Geistes und dem Sinn unserer Existenz) und die Versuche ihrer Beantwortung in der Spannung zwischen wissenschaftlichem und spirituellem Denken. Dass dabei immer wieder die Ideen Albert Einsteins zur Sprache kommen, ist nicht verwunderlich. Spirituell, meint Jaeger, sei Einstein ein Anhänger einer „kosmischen Religiosität“ gewesen. Einstein habe sich Gott vorgestellt als den, „der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart“, aber der sich nicht „mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt“ (S. 105).

Einstein und seinesgleichen scheinen für Neanders „Verspüren“ eines Gottes, „der dir mit Liebe begegnet“, unempfindlich. Nach Darwin und den Gesetzen der Genetik hat sich auch die Schöpfung („…der künstlich und fein dich bereitet“) in die Evolution hinein verflüchtigt. Und nach Ansicht der modernen Naturforschung kennt die Evolution selbst weder ein bestimmtes Ziel noch einen Sinn, sondern resultiert aus dem Zusammenspiel von Zufall und Notwenigkeit. In den zugespitzten Worten des Biologen Jacques Monod: „…dann muss der Mensch seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“

4. Was „weiß“ der Mensch und wie kann er glauben?

Um hinter das zu kommen, was ist, führt für vernünftig denkende Menschen an der wissenschaftlichen Erkenntnisweise kein Weg vorbei. Für das Handeln der Menschen, für das, was sein soll, können hingegen religiöse und spirituelle Bezüge die entscheidenden Anhaltspunkte liefern. Mag das Universum „gleichgültig“ sein, was im Universum des Menschen vom Menschen „angerichtet“ wird, kann für den zu Empathie und planvollen Entwürfen fähigen Menschen nicht egal sein.

Für den christlichen Glauben ist dies aber auch Gott selbst nicht egal. Weil Gott sich womöglich selbst „entwickelt“ und im erkennenden Nachvollzug der Evolution sich nicht allein auf seinen unvergleichlichen Verstand, seine „mathematische“ Genialität verlassen kann, sondern seiner Empathie bedarf. Wer die Welt verstehen will, muss einen Blick dafür gewinnen, worunter all die anderen, all das andere leidet. Da hilft nur ein emotionales Verstehen, das aus dem Mit-Leiden erwächst. Ein „allmächtiger“ Gott kann letztlich kein voll erkennender Gott mehr sein. Damit sind wir bei der zweiten Person (Jesus Christus) der christlichen Theologie angelangt – und die spricht ein altes Weihnachtslied (EG, Nr. 27) so an: „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding…“.

So erscheinen Wissenschaft und Spiritualität als komplementäre Erkenntniswege. Lars Jaeger resümiert, dass das Sollen des Menschen erst vor dem Hintergrund der tatsächlichen conditio humana sinnvoll erörtert werden kann, der „natürlich evolutionär geprägte(n) kognitive(n) und emotionale(n) Konstitution“ (S. 381). Die biologische Struktur unseres menschlichen Gehirns ist einerseits evolutionär, andererseits durch Erziehung und Kultur geformt. In ihm wurzeln beide, Wissenschaft und Spiritualität.

 „Mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt“ (Shakespeare)

Frei von dogmatischen Verhaftungen gläubige, spirituelle Menschen müssen sich einer naturalistischen, von transzendenten Elementen unabhängigen, Erklärung der Natur- und Lebensprozesse nicht verschließen. Zwar sind die Kosmologen bis auf 10−30 Sekunden zum Anfang des Universums vorangekommen. Untersuchen die Teilchenphysiker die Materie auf einer Raumskala von 10−30 Meter. Sind die Biologen von den Ursprüngen des Lebens nur noch einige Millionen Jahre entfernt. Dringen die Neurowissenschaftler immer tiefer in die „Natur des Geistes“ ein. Wie unvorstellbar klein oder kurz soll die „Lücke“ eigentlich noch werden, in die sich (der „allmächtige“) Gott noch hinein-zwängen ließe? Gleichwohl, gibt uns Lars Jaeger zu verstehen, können die bisherigen Antworten zu den Grundfragen nach dem Universum, dem Leben und dem Geist zum Teil nur auf höchster mathematischer Abstraktionsebene demonstriert und nicht experimentell dargestellt werden. Wo es zum Beispiel um den Kern jeglicher Spiritualität geht, den Geist (lateinisch: spiritus), das (Selbst-)Bewusstsein, so ist zu sagen, dass eine neuronale Entsprechung im Gehirn bislang nicht lokalisiert werden konnte. Wissenslücken, in die man früher den („erklärenden“) Begriff „Gott“ platzierte, werden heutzutage von (noch unbeweisbaren) Vorstellungen wie „Selbstorganisation“ des Geistes oder „Emergenz“ (Herausbildung neuer, „höherer“ Eigenschaften aus der Wechselwirkung „niedriger“ Elemente) eingenommen.

Ein fruchtbares Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität

„Ein Blick auf ›die großen, essentiellen Fragen‹ zeigte uns“, formuliert Lars Jaeger in seinem Schlusskapitel zum Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität: „Eine Haltung wissenschaftlicher Erklärungs- und Deutungsallmacht“ (S. 367) wäre ideologischer Natur. Die über viele Jahrhunderte gemeinsame Geschichte von Wissenschaft und Spiritualität könnte ein fruchtbares Verhältnis bleiben, sofern beide „die Welt vom Schleier unserer Vorurteile befreit wahrnehmen“ (S. 370). Mit dem Philosophen Thomas Metzinger wirbt Jaeger für ein Verständnis von Spiritualität als geistiger Integrität. Sie sei sowohl eine auf unser Wissen („epistemisch“) und unser Handeln („ethisch“) bezogene Lebenseinstellung „unbedingte(r) und kompromisslose(r) Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst“.

Dabei versuche sie, unsere „Ich-Anhaftungen“ zu überwinden und könne eine solche spirituelle Praxis sowohl auf buddhistischem als auch christlich-mystischem Weg einüben. Religion (vom Lateinischen relegere) zu haben, bedeute ein „immer wieder neues Überdenken und Überlesen“ (Metzinger). Man könnte biblisch-jesuanisch in diesem Zusammenhang auch von einer permanenten Bereitschaft zur „Umkehr“ sprechen. In ihrer Verpflichtung zur Wahrheit und Redlichkeit stehen sich Wissenschaft und Spiritualität innerlich nahe. Schließlich hat der Philosoph Karl Popper mit seinem Hinweis zur prinzipiell unabgeschlossenen Wahrheitsfindung Zustimmung gefunden, dass eine wissenschaftliche Theorie niemals verifiziert (ein für alle Mal beglaubigt), sondern immer nur falsifiziert (widerlegt) werden kann.

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Lars Jaeger: Wissenschaft und Spiritualität. Universum, Leben, Geist – Zwei Wege zu den großen Geheimnissen. Springer-Verlag, Heidelberg, 2016. 496 S.

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