Leben als Auftrag Die Seele in der Zerreißprobe ausweglosen Leidens

Die Annahme, man verfüge als Mensch über sich selbst, ist ungeeignet, ein aus eigenem Willen inszeniertes Aus-dem-Leben-Scheiden zu rechtfertigen. Eine den assistierten Suizid anstrebende Person sollte auch danach fragen, ob denn dem eigenen Begehren auch eine wohlmeinende Entlassung aus dem Leben durch die Umwelt zur Seite geht. Ohne sie gefährdet man auch die eigene Seele.

Ethische und seelische Probleme des Freitods

Einer Selbsttötung steht, außer kreatürlicher Scheu vor ihr, ein uraltes Urteil entgegen. Es besagt, kein Individuum sei aus eigenem Willensentschluss ins Leben eingezogen, weshalb auch seine ›Ausfahrt‹ kein von ihm selbst geplanter und durchgeführter Vorgang sein soll. Wer aber wollte etwa beanstanden, dass der Schriftsteller Jochen Klepper und dessen in Berlin-Nikolassee lebende Familie im Jahr 1942 der drohenden Ermordung der jüdischen Ehefrau und deren Tochter durch nationalsozialistische Schergen zuvorgekommen sind durch eine gemeinsame Selbsttötung? Überhaupt gibt es von niemandem zu zensierende persönliche Verzweiflungen. Und es gibt hochherzige persönliche Bereitschaft, das Leben anderer zu retten (die man sonst vielleicht unter der Folter verraten würde), die zum Suizid hinführen kann. Dass den Seelen von so dahingeschiedenen Menschen ›jenseitige Strafen‹ bevorstünden, dies zu denken ist absurd.

Aus verschiedenen Gründen geschieht es, dass ein Mensch sich selbst als nicht (mehr) lebenswert beurteilt. Vielleicht hat er begonnen, sich selbst zu hassen und anzugreifen. Dahinter kann stehen, dass ein entsprechendes Beurteilt-Werden von außen verinnerlicht worden ist. Noch einmal anders scheint es mit der Auskunft zu stehen, man habe sich aus dem Leben verabschiedet, um bei zunehmender Gebrechlichkeit niemandem zur Last zu fallen. Das klingt zwar nach liebender Rücksichtnahme. Vielleicht steckt dahinter aber mehr noch ein verletzter persönlicher Stolz wegen zu erwartender demütigender Hinfälligkeit. Möglicherweise wäre es der Umgebung der so dahingeschiedenen Person in diesem Fall sehr viel lieber gewesen, ihr wäre dieser in den Freitod gegangene Mensch als Gabe und Aufgabe erhalten geblieben.

Der Freitod als seelische Last für die Hinterbliebenen

Was nun die Seele anbetrifft, so mag ja Gott der Seele einer durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Person gnädig sein. Den Seelen der Hinterbliebenen aber ist in Fällen wie dem zuletzt erwähnten vor Gott und vor ihrem Gewissen eine Last auferlegt. Sie empfinden einen solchen Suizid wie einen gegen sie und ihre Beziehungsbereitschaft gerichteten Vorwurf. Wer aus dem Leben zu scheiden gedenkt, sollte auch an diese Folge denken!

Was immer ›Seele‹ sein mag, sie ist auf jeden Fall etwas, das ein individuelles Lebewesen ›von langer Hand‹ mit einem Kollektiv anderer Lebewesen verbindet. ›Von langer Hand‹ soll heißen, dass jedes Lebewesen Ahnen, sodann Mitlebende und schließlich Nachlebende hat, die seine Individualität mit bestimmen und auf deren individuelle Ausformung es auch selbst Einfluss nimmt. Wegen dieser seelischen Verbundenheit individueller Lebewesen mit ihrer Umgebung betrifft jeder einzelne Sterbefall auch die letztere mit und zehrt an ihr –, obwohl andererseits alles individuelle Leben auch vom Leben anderer lebt, mithin jeder Tod auch dem Aufbau anderen Lebens dient. Dieses Paradox ist der Seele gewissermaßen eingebrannt und spiegelt sich wider in der Sprache der Seele, die oft um verletzte oder um unerwartet geschenkte Liebe kreist.

Alles hat seine Grenzen – auch das Selbstbestimmungsrecht?

Unsere Gesellschaft soll sich ja Gedanken darüber machen, wie ein ›ungnädig‹ langes und materiell übertriebenes medizinisches Am-Leben-Erhalten vermieden werden kann! Wir werden ermutigt, durch testamentarische Verfügungen und durch Vorsorgevollmachten dieses Vermeiden „möglichst zu ermöglichen“. Ein Unterlassen nicht mehr zielführender therapeutischer Maßnahmen, „passive Sterbehilfe“ genannt, gilt heute als ethisch gut vertretbar. Eine „aktive Sterbehilfe“ jedoch, herbeigeführt gar durch ärztliches Handeln, wird überwiegend abgelehnt und in den meisten Staaten auch verboten. Doch hat jene Minderzahl von Gesellschaften und Staaten, die auch eine „aktive Sterbehilfe“ erlauben, hierfür ethische Begründungen. Diese knüpfen an das individuelle Selbstbestimmungsrecht im Blick auf medizinische Maßnahmen am eigenen ›Leib‹ an. Im äußersten Fall haben Patienten deshalb immer schon über ihr Leben oder ihren Tod selbst zu bestimmen. Da dies also schon so ist, sehen viele es auch als günstig an, gerade einen Arzt oder eine Ärztin nicht nur um Hilfe beim Sterben, sondern eventuell auch zum Sterben zu bitten.

Das menschliche Selbstbestimmungsrecht bestätigt, dass jeder hierfür hinreichend gesunde Mensch für sich selbst verantwortlich ist. Doch ist damit nicht zugleich ausgesagt, dass ein Mensch auch sich selbst gehören würde. Wer ist Eigentümer eines Menschen? Niemand! An diesem Punkt ist das alte Römische Recht, das den Familienvater als den Eigentümer seiner Familie betrachtete, längst verlassen worden. Auch die endlich erfolgte rechtliche Abschaffung des Besitzes eines Menschen in der Form der Sklaverei unterstreicht, dass der Gesichtspunkt der Menschenwürde mit einem ›Menschenbesitz‹ unvereinbar ist. Die Kategorie des Eigentums ist auf Menschen nicht anwendbar.

Niemand gehört sich selbst

An dieser Stelle ist es ethisch wichtig, jedem einzelnen Menschen klar zu machen, dass er auch nicht sich selbst gehört. Die Versuchung, das Gegenteil zu denken, ist groß. Daraus entsteht dann aber die problematische Folgerung: Da ich mir selbst gehöre und kein anderer Verantwortung für mich trägt, kann ich mit mir tun, was ich will. Zwar darf kein anderer mir das Leben nehmen. Aber ich selbst darf es.

Dies jedoch ist ein unheilvoller Schluss, weil es bei Lichte besehen bedeutet, sich selbst zum Objekt zu machen, über das man verfügt. Dann aber ist die eigene Psyche auf einem sehr abschüssigen Weg, der meistens zum Formenkreis der Depressivität gehört. Von ihr betroffene Menschen sehen sich tatsächlich oft als ihr eigenes Objekt, das für die Gegenwart nicht (mehr) gut genug ist. Sie können sich nicht als ›gegeben‹ annehmen, sondern sehen sich als ihr eigener Eigentümer in der Pflicht, sich als eine bessere Gestalt zu erschaffen – oder sich zu verwerfen. Dabei können sie ausbrennen und ins Nichts fallen.

Die Annahme, man verfüge als Mensch über sich selbst, ist somit in Wahrheit ungeeignet, ein aus eigenem Willen inszeniertes Aus-dem-Leben-Scheiden zu rechtfertigen. Auch dann ist sie ungeeignet, sollte es sich weniger um einen von Depressivität verursachten als vielmehr um einen sog. Bilanz-Suizid handeln (der Folge einer überschlägigen Rechnung, es reichten die Lebensbedingungen nicht mehr für ein akzeptables Dasein aus). Wir können als Menschen nicht umhin, auch ein Anrecht anderer auf unser Dasein in Rechnung zu stellen. Eine z.B. den assistierten Suizid anstrebende Person sollte auch danach fragen, ob denn dem eigenen Begehren auch eine wohlmeinende Entlassung aus dem Leben durch die Umwelt zur Seite geht. Ohne sie gefährdete man auch die eigene Seele.

Wir können als Menschen nicht umhin, auch ein Anrecht anderer auf unser Dasein in Rechnung zu stellen.

Die Seele hat den Zug zum Guten

Unbeschadet des soeben Ausgeführten sind alle Menschen aufgerufen, sich nicht gehen zu lassen. Auch dieser Ruf kommt aus der Seele. Wir müssen auf uns ›selbsterzieherisch‹ einwirken, weil wir einerseits uns selbst und andererseits der Lebensgemeinschaft verpflichtet sind, aus der heraus und für die wir wurden, was wir sind. Gemäß Sokrates und Platon will die Seele uns Menschen in unseren Beziehungen zugleich auf das Gute ausrichten. Der Weg dorthin lässt nach dem Gerechten und dem Wahren streben; er lässt echte Erkenntnis gewinnen. Was die Bibel anlangt, so sieht sie das ›Kerngeschäft‹ der Seele ähnlich. Sie drückt sich dahingehend aus, dass der Mensch gleichermaßen sich selbst wie auch den andern gut sein soll. Diese Kunst sieht sie durch ein Drittes fundiert: durch die Gottesliebe. Wo diese wegfällt, könnte auch jenes Gleichgewicht von sich selbst gut sein und dem Nächsten gut sein zerbrechen. Es könnte sich dann sogar das Grundgefühl, eine Seele zu haben, zurückziehen.

Freitod – und wenn man nun gar keine Seele ›hat‹?

Wir wissen, dass auch manche Christenmenschen, die sich selbst durchaus als ›von Gott geschenkt‹ betrachten, gelegentlich dennoch eine selbst hergestellte Erlösung von ihren Leiden in Erwägung ziehen und sie schließlich auch realisieren. Es erstreben also nicht nur solche Leidende ein selbstbewirktes Lebensende, die ohnehin davon ausgehen, ab dem Todeseintritt gebe es für eine Person definitiv nichts mehr zu erleben (denn es gebe dann keine noch weiterlebende, vom Körper abgetrennte Seele mehr).

Wer allerdings so eingestellt ist, für denjenigen oder für diejenige steht einer eventuellen Selbsttötung überhaupt kein rationaler Einwand im Weg. Wird doch davon ausgegangen, dass ein Mensch nach seinem Tod mit allen seinen Freuden und Nöten, Wünschen und Hoffnungen vollständig Vergangenheit sein wird. Diese Annahme schließt auch noch mit ein, dass man, erstens, von keinem ›Jüngsten Gericht‹ mehr erreicht werden kann, und dass, zweitens, nach dem eigenen Ableben auch die Mitwelt keinen stichhaltigen Grund mehr haben wird, ihrerseits einem Verstorbenen gegenüber noch irgendeine Schuld zu verspüren. Unter solchen Prämissen scheint ein Vermeiden eigenen Weiterleben-Müssens in armseliger Hinfälligkeit durch den medizinisch assistierten Suizid als eine humanistische Form des Euthanasiegedankens.

Der medizinisch assistierte Suizid als humanistische Form des Euthanasiegedankens

Immanuel Kant und die Idee der Unsterblichkeit

Andererseits: Immanuel Kant behauptete mit monumentaler Entschiedenheit, es müsse sich jeder Mensch nach seinem Tod dem göttlichen Universalgericht am ›Jüngsten Tag‹ stellen. Vor allem um dieser Perspektive willen hielt Kant am Gottesgedanken und an der – seelischen – Unsterblichkeit des Menschen fest. Aus moralischen Gründen müsse ein ›Jüngstes Gericht‹ für die dann durchaus noch aufnahmefähigen menschlichen Seelen durchgeführt werden. Wie sonst wäre einsichtig zu machen, warum denn der Mensch überhaupt ein moralisches (und hierbei die Bedürfnisse der Umwelt mit berücksichtigendes) Leben führen sollte? Dem wäre die Grundlage entzogen, wenn der Mensch, ohne eine Rechenschaft ›drüben‹ befürchten zu müssen, bis zu seinem Tod über andere triumphieren und auf ihre Kosten gut leben könnte.

Dieses Argument Kants ist nicht so leicht zu entkräften. Aber auf keinen Fall gibt es etwas dafür her, den Suizid als eine Handlung auszuzeichnen, die dann ihrerseits im ›Jüngsten Gericht‹ negativ zu Buche schlagen müsste. Denn wie es zu einem Suizid kam, dies wird Gott ja auf seine Weise beurteilen, die auch zu Gunsten des so gestorbenen Menschen ausfallen könnte.

Seele und Lebensregeln

›Nachkantische‹ Ethiken erwägen freilich andere Motivationen zur Erzielung und Befestigung moralischer Lebensführungen, die nicht mehr an ›jenseitig zu Erwartendes‹ gebunden sind. Oft geht ihnen aber, ohne dass dies hier näher ausgeführt werden kann, ein tieferes Verständnis der menschlichen Seele ab. Meistens berücksichtigen sie nicht, dass Menschen stets zwei auseinanderstrebende elementare Lebensregeln miteinander ausgleichen müssen. Die eine besagt: Lebe in dem Bewusstsein, dass du nur dieses eine Leben hast. Mehr gibt es nicht. Schöpfe es für dich aus! Die andere besagt: Erstrebe das Gute und verzichte in diesem Leben auf Dinge, die dem im Weg stehen! An beidem kommen wir bei keiner wichtigen Entscheidung unseres Lebens vorbei. Nur die Liebe ist das Band, um diese beiden Richtungen des Lebens miteinander zu vereinbaren. Aber sie ist nicht automatisch im erforderlichen Maß in den Seelen schon vorhanden. Aus christlicher Sicht sind die menschlichen Seelen einer gnädigen Erhebung unseres fragmentarischen, fehlbaren Lebens von außen her bedürftig.

Die Seele in der Zerreißprobe ausweglosen Leidens

Wird in einer solchen Extrem-Situation der Tod ersehnt – oder einfach Hilfe? Für nicht wenige ausweglos Leidende, die eine aktive Beendigung ihres Lebens in Betracht ziehen, trifft es zu, dass sie nicht unbedingt ihren sofortigen Tod wünschen, sondern einfach ein Ende ihrer unerträglichen Situation. Um dieser Tatsache willen sollte allerdings immer noch mehr getan werden für ein allen offen stehendes palliativmedizinisches Angebot unter möglichem Einschluss einer Hospizbetreuung. Denn nicht wirklich der Tod, sondern Hilfe – und Liebe – werden ersehnt!

›Funktion‹ und ›Wirklichkeit‹ der Seele sind nicht zu bezweifeln

Zu den ›modernen Zweifeln‹ an der Existenz der Seele ist kurz und bündig dies zu sagen: Die meisten modernen Menschen wissen noch immer, dass sie eine Seele haben. Mit Recht sehen sie darin aber keine Frage, die in den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften fällt. Manche Forscher(innen) meinen zwar, gerade die Wissenschaft generiere aus ihr selbst heraus das, was wir ›Werte des Lebens‹ nennen, weil sie Illusionen zerstöre und ›aufkläre‹. Doch mit solchem Abräumen und Klären wird den Menschen noch längst nicht der von ihnen zu gehende Weg gewiesen. Sie lernen auf diesem Hintergrund noch nicht zu lieben oder mit Not und Tod umzugehen.

Aber eben das lehrt sie ihre Seele. Sie lässt sie nicht nur bald danken und bald klagen, sondern sie lässt sie auch dessen innewerden, dass ihr Leben als ein Auftrag zu werten ist. Unter ihrem Impuls sehen Menschen sich unter einer guten Macht, die ›über uns hinausliegt‹ und ›alles umgreift‹. Sie scheint uns nicht nur zu lieben und zu rufen, sondern auch zu brauchen an dem Platz, auf den wir gestellt sind, in der Frist, die uns zugemessen ist. Ihr gegenüber wollen wir unser Leben verantworten, aber hierbei bedürfen wir auch immer wieder einer inneren Aufrichtung aus der Scham angesichts von Versäumnissen und Fehlern sich selbst und anderen gegenüber. Kirchen sollen im Zweifelsfall nicht drohen, sondern trösten.

Im Blickwinkel der Seelsorge darf jede dogmatische oder weltanschauliche Bewertung von Selbsttötungen noch einmal überholt werden.

Der Blickwinkel der Seelsorge

Seelsorge soll Menschen generell daran erinnern, dass sie im Auftrag des Höchsten leben. Noch mit sehr schwacher Kraft kann der Mensch dem Höchsten dienen, ihm leben und sterben. Ist der Ausblick eines Seelsorge-Klienten auf Gottes Liebe wieder freier geworden, und muss sich ein(e) schwer leidende(r) Patient(in) nicht mehr seelisch krümmen unter der Qual der Frage ›womit habe ich das verdient?‹, dann mag geschehen, was immer als gnädige Entlassung aus dem Lebensauftrag gewertet werden wird.

Theologisch ist es eindeutig, dass Gottes Gnade für diejenigen ausreicht, die in großem Elend ein Weiterleben nicht mehr ertragen und gleichzeitig hoffen, dass Gott ihnen als Suizidanten gnädig sein werde. Im Blickwinkel der Seelsorge darf jeder Typus einer dogmatischen oder weltanschaulichen Bewertung von Selbsttötungen noch einmal überholt werden – aus innersten christlichen Gründen heraus.

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Christof Gestrich: Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung. edition chrismon 2009, 248 S., 34,00 EUR, ISBN 978-3-86921-004-9.

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