Es kann sein, was nicht sein darf Fünf Aspekte zu einem sensiblen Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt in der Seelsorge

Die ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt in Kirche und Diakonie hat den Protestantismus in seinen Grundfesten erschüttert. Doch was können Kirche und Diakonie aus der Studie lernen? Wie kann ein seelsorglicher Umgang mit dem Thema der sexualisierten Gewalt aussehen?

Mindestens 2.225 Kinder und Jugendliche haben seit 1946 in der evangelischen Kirche und in diakonischen Einrichtungen sexualisierte Gewalt erlebt. Bislang weiß man von 1.259 Tätern. Das ist nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“, heißt es in der Studie, und zitiert wird eine Dunkelfeldstudie aus Frankreich, die ergab, dass nur 4-5,5% der Fälle angezeigt werden.

I. Die Allgegenwart von sexualisierter Gewalt

Die erschreckenden Ergebnisse der Studie haben niemanden überrascht, der sich bereits mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Kirche und Gesellschaft beschäftigt hat. Denn sexualisierte Gewalt ist in unserer Gesellschaft in vielen Bereichen allgegenwärtig. Sie kommt in Familien vor, im Sport, am Arbeitsplatz und in den Kirchen. In all diesen Bereichen werden Machtverhältnisse viel zu oft ausgenutzt und das Vertrauen von Schutzbefohlenen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, missbraucht. Im Jahr 2022 gab es in Deutschland im Hellfeld 15.520 durch die Polizei ermittelte und an die Staatsanwaltschaft übergebene Fälle sexualisierter Gewalt. Dunkelfeldforschungen gehen jedoch davon aus, dass etwa ein bis zwei Schüler*innen in jeder Schulklasse von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Was bedeutet dieses erschreckend hohe Vorkommen für den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche? War es nicht naiv zu erwarten, die Kirche sei mit all ihren Begegnungsstätten und Beziehungsangeboten ein missbrauchsfreier Raum?

Pfarrer*innen sind keine besseren Menschen.

25% aller Fälle von sexualisierter Gewalt finden im engsten Familienkreis statt. Deshalb war es leider zu erwarten, dass Kinder in Pfarrfamilien ebenfalls betroffen sind. In Pfarrfamilien gibt es Probleme, Abgründe und Unzulänglichkeiten wie in anderen Familien auch. Pfarrer*innen sind, auch wenn dies in der Öffentlichkeit erwartet und von ihnen selbst gehofft wird, keine besseren Menschen. Wenn 50% aller Übergriffe im sozialen Nahraum stattfinden, dann ist klar, dass nicht nur Nachbarschaft, Freundeskreis, Sportvereine, Schulen, sondern auch kirchliche Räume zu Tatorten werden können. Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, Nähe ermöglicht und Vertrauensräume geschaffen werden, besteht die Gefahr, dass Beziehungen von Täter*innen missbraucht werden.

Dies zu verstehen und daraus zu lernen, ist eine, vielleicht sogar die wichtigste Erkenntnis aus der ForuM-Studie. Es war naiv und unverantwortlich, dass sich die evangelische Kirche über Jahrzehnte auf sicherem Terrain fühlte, die Risiken kaum im Blick hatte und einfach wegschaute. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, gab es kaum Schutz für Kinder und Jugendliche. Die Blindheit dafür, dass Täter*innen unter uns sind, hatte fatale Folgen. Und zu Recht werden wir als Institution dafür an den Pranger gestellt. Nicht nur ist die moralische Fallhöhe in der Kirche einfach höher als im Sportverein oder der Musikschule, es gab in der evangelischen Kirche über Jahrzehnte eine weltanschauliche Blindheit, vielleicht sogar moralische Arroganz, die sexuelle Übergriffe begünstigte.

II. Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Seelsorge

Kirchenpolitisch wird nun hart daran gearbeitet, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht weiter auseinanderklaffen. Schutzkonzepte, Prävention und Aufarbeitung stehen allerorts auf der Tagesordnung. Neben den strukturellen Veränderungen braucht es auch eine Seelsorge, die sensibilisiert ist für die vielfältigen Erscheinungsformen und Bewältigungsstrategien von sexualisierter Gewalt und die Traumata, die sie hinterlässt. Dabei erscheinen mir fünf Aspekte für die Seelsorge mit Betroffenen besonders wichtig.

1. Sprachfähig sein

Das Unvorstellbare aus- und anzusprechen, fällt vielen Menschen schwer. Mit dem Tabuthema Missbrauch konfrontiert, geraten manchmal auch Seelsorgende in Schockstarre, werden sprachlos, fühlen sich ohnmächtig, wollen nichts Falsches sagen oder tun. Diese verständliche Reaktion ist für viele Betroffene schwierig. Denn es verstärkt das Gefühl des Alleingelassenseins und der Einsamkeit. Eine Betroffene sagt dazu: „Die Menschen halten meine Geschichte kaum aus. Wenn ich vom Missbrauch erzähle, sind alle nur tief betroffen. Dann entsteht bei mir das Gefühl, die anderen trösten zu müssen. Ich bin eine Zumutung.“ Hier müssen wir – gerade in der Seelsorge – sprachfähig sein. Bei anderen schwierigen Tabuthemen wie Krankheit, Sterben und Tod gelingt dies bereits. Im seelsorglichen Gespräch mit Betroffenen ist es wichtig, dass wir – ähnlich wie in der Sterbe- oder Trauerbegleitung – empathisch mitschwingen, ohne konfluent zu werden, weder bagatellisieren noch dramatisieren und eine Sprache zur Verfügung haben, die das Unsagbare in Worte fasst.

2. Die ambivalenten Gefühle aushalten

Die Formen und die Intensität der erlebten sexualisierten Gewalt sind vielfältig. Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ suggeriert, dass der Missbrauch gewalttätig im Sinne von brutal erfolgt. Diese Fälle gibt es und die Berichte dazu sind bedrückend und erschütternd. Doch sehr oft beginnt sexualisierte Gewalt schleichend, vermeintlich zugewandt, wird zärtlich und manchmal sogar lustvoll erlebt. Ein junger Mann erzählt davon, wie er als 15-Jähriger von einer 40-Jährigen „verführt“ wird. Jahre hat er gebraucht, bis er diese vermeintliche Liebesbeziehung als sexualisierte Gewalt enttarnen konnte. Denn zur perfiden Täterinnenstrategie gehörte, dass es zu einer Verantwortungsdiffusion und Schuldvermischung kam. In der seelsorglichen Begegnung braucht es Raum und Zeit, um ambivalente Gefühle zu differenzieren und auszudrücken. Wenn sexualisierte Gewalt als Liebesbeziehung verschleiert wird und scheinbar freiwillig ohne äußeren Zwang geschieht, ist dies für Betroffene oft sehr schambesetzt. Die Gefühle der Betroffenen schwanken dann oft zwischen Dankbarkeit und Schmerz, guten Erinnerungen und tiefster Enttäuschung.

3. Die Rede von Täter*innen und Betroffenen

Menschen sehnen sich nach Eindeutigkeit. Daher wird oft dichotomisch über die Täter*innen und die Betroffenen gesprochen. Natürlich ist klar, dass dies Stereotype sind und dass es weder die Betroffenen noch die Täter*innen gibt. Aber es gibt auch Täter*innen, die zuvor Betroffene waren, und Betroffene, die zu Täter*innen werden. Seelsorgende müssen um die Möglichkeit von destruktiven Verarbeitungsmechanismen wissen. Ein Betroffener berichtet: „Für mich war es furchtbar, dass mein Vater sich an mir vergangen hat. Ich habe mich viele Jahre gefragt, was an mir falsch war. Dann wurde ich selbst Vater. Und beinahe hätte ich meiner Tochter dasselbe angetan. Das war für mich ein Schock. In der Therapie habe ich dann begriffen, dass ich mich so mit meinem Vater versöhnen wollte. Es war furchtbar, mich dieser dunklen Seite zu stellen.“

4. Die Angst vor Retraumatisierung

Die weit verbreitete Sorge, dass das Sprechen über ein Trauma zwangsläufig zu einer Retraumatisierung führt, entspricht nicht mehr den wissenschaftlichen Standards. Bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung ist die traumafokussierte Psychotherapie mittlerweile die Behandlung erster Wahl. Die Traumaforschung hat gezeigt, dass die Kontaktherstellung mit dem Trauma eine hochwirksame Therapie ist. Nun sind Seelsorgende keine Therapeut*innen. Aber diese Erkenntnisse der Therapieforschung können Mut machen, nicht übervorsichtig mit Betroffenen umzugehen. Die übergroße Angst vor Retraumatisierung erleben die Betroffenen von sexualisierter Gewalt oft sogar als Wiederholung des Totschweigens. Eine Betroffene sagt: „Für mich ist das schlimm, wenn alle im Betroffenheitsstatus verharren. Niemand nachfragt. Niemand sich für meine Geschichte und meine Gefühle zu interessieren scheint. Ich habe Schutzmechanismen. Sonst könnte ich weder Nachrichten hören noch den Tatort schauen.“ In der Seelsorge kann und darf über das Trauma gesprochen werden. Die Betroffenen bestimmen aber immer, wann sie was in welchem Umfang erzählen möchten.

5. Glaube als Ressource

Die ForuM-Studie zeigt auf, dass das Erleben von sexualisierter Gewalt in kirchlichen Kontexten neben körperlichen, psychischen und sozialen Folgen auch spirituelle Krisen hervorruft. Viele Betroffene haben spirituelle Fragen: Wo ist Gott während des Missbrauchs? Steht er auf der Seite des Opfers? Ist Gott auch ein Gott der Täter*innen? Ist er da? Ist er abwesend? Die Antworten der Betroffenen sind disparat. Manche haben ihren Glauben unwiederbringlich verloren. Andere sagen: „Das Einzige, was mir Kraft gegeben hat, war, dass Gott das alles sieht. Und ich bin mir sicher, dass Gott meinen Vergewaltiger im Ewigen Gericht bestraft.“ Vielen Betroffenen ist es wichtig, über ihren (verlorenen) Glauben, ihr Gottesbild, ihre Einstellung zum Gericht, über Schuld und Vergebung zu sprechen.

III. Aus der Studie lernen

Sexualisierte Gewalt ist in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kirche allgegenwärtig. Deshalb müssen wir in der Seelsorge damit rechnen, vielen Betroffenen, Täter*innen und Mitwisser*innen zu begegnen. Hier müssen wir lernen, genau hinzuschauen und zuzuhören, denn es kann sein, was nicht sein darf. Unsere Aufgabe ist, aufmerksam zu sein für das, was uns unser Gegenüber erzählt. Je weniger Angst wir haben, je intensiver wir uns mit unseren eigenen Vorstellungen, Gefühlen, Befürchtungen, Vermeidungsstrategien zum Thema sexualisierte Gewalt auseinandersetzen, desto angemessener und personenzentrierter können wir begleiten, frühzeitig eingreifen und Übergriffe verhindern. Dies ist ein immerwährender Lernprozess – denn sexualisierte Gewalt ist in der Gesellschaft und auch in unserer Kirche leider allgegenwärtig.

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