Wenn Geist und Sprache sich begegnen Über die bleibende Aktualität Johann Gottfried Herders

Der Philosoph und Theologe Johann Gottfried Herder ist bis heute v.a. für seine Sprachphilosophie bekannt. Der Zeitgenosse und Freund Goethes vertrat aber auch die Einheit der Menschheit in der Vielfalt der Völker und war ein wichtiger Wegbereiter des Panentheismus.

Straßburg im Elsass. Im Herbst des Jahres 1770 lernen sich auf der Treppe zum Traditionsgasthaus „Zum Geist“ am Ufer der Ill zwei junge Männer kennen: der junge Jurastudent Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), 21 Jahre, und der fünf Jahre ältere, damals aber schon berühmte Gelehrte Johann Gottfried Herder (1744–1803). Die zu Frankreich gehörende, rund 50.000 Einwohner umfassende Stadt ist bekannt für ihre Toleranz: Hier herrscht Religionsfreiheit, die Alltagssprache ist deutsch, vom übrigen Frankreich ist man durch eine Zollgrenze abgetrennt. Und in der lutherisch geprägten Universität floriert der Geist der Aufklärung.

„Nur die Großen sollen gelten“

Herder und Goethe freunden sich an und regen einander an, altersbedingt der dichterisch begabte Theologe und Philosoph den vielseitigen Dichter, Politiker und Naturforscher zunächst mehr als umgekehrt. Was die beiden seit den Straßburger Tagen miteinander verbindet, ist ihr außergewöhnliches Talent für den Umgang mit Sprache und ihr Sinn für Qualität im Denken und Dichten. „Nur die Großen sollen gelten“, so ihr gemeinsamer Wahlspruch. Die beiden sind Verbündete auf Zeit, aber auch Konkurrenten. Es ist ein fruchtbares, aber auch kompliziertes Verhältnis, das die beiden bis zu Herders Tod am 18.12.1803 miteinander verbinden wird.

Knapp skizziert, kann man das Verhältnis der beiden Ausnahmebegabungen vielleicht wie folgt kennzeichnen: Herder hat beim frühen Kant studiert, und auch wenn er Kritik an der Aufklärung übt, wird er ihr lebenslang verbunden bleiben – obwohl Sturm und Drang ebenso wie Romantik und die frühe Klassik ihn in ihren Reihen sehen werden. Goethe pflegt mehr Distanz zur Aufklärung. Er wird durch Sturm und Drang hindurchgehen, die Romantik allenfalls streifen und schließlich die Klassik begründen und prägen. 1770 erliegen beide der Faszination der poetischen Sprache des „Alten Testaments“ und bewundern Homers und Shakespeares Werke. Allerdings gehen sie auch dem Bluff der vermeintlichen Dichtungen „Ossians“ auf den Leim – bei diesen handelte es sich um kongeniale Fälschungen des zeitgenössischen schottischen Dichters Macpherson. Herder wird später eine größere Nähe, Goethe aber eine deutlichere Distanz zur Französischen Revolution des Jahres 1789 entwickeln, die sich in der Straßburger Zeit noch nicht am Horizont abzeichnete. Goethe wird sein dichterisches Sprachvermögen zur geistvollen Meisterschaft fortentwickeln. Er wird weniger die Theorie als die Praxis der Sprache zu seinem Metier machen, dieses aber lebenslang mit einzigartiger Virtuosität beherrschen. Herder wird seinen sprachbewussten Geist immer weiter kultivieren und für viele Nachfolgende zum Anreger werden. Seine 1770 bereits vorliegende, von Goethe fasziniert studierte und kurze Zeit später preisgekrönte Arbeit Über den Ursprung der Sprache stellt die Weichen in Richtung einer sprachphilosophischen Weiterentwicklung der Aufklärung.

Herder als Sprachphilosoph

Einige Gedanken in dieser Abhandlung funkelten wie Perlen in Richtung Zukunft, etwa: Verben seien in der Sprache ursprünglicher als Nomina, Poesie sei ursprünglicher als Prosa. Herders Kernthese aber griff den Theismus seiner Zeit an, der ein „Supranaturalismus“ war. Ihm zufolge entstand die Sprache des Menschen als Resultat eines wundersamen, übernatürlichen göttlichen Eingriffes in die Geschichte. Demgegenüber sagt Herder schon im ersten Satz seiner Abhandlung: „Bereits als Tier hat der Mensch Sprache.“ Damit wird zwar nicht die Darwin’sche Evolutionstheorie vorweggenommen, aber betont: Die Sprache gehört zur biologischen Grundausstattung des animal rationale, das der Mensch nun einmal ist. Sprache macht den Menschen in seinem Wesen aus, so Herder. Die Vernunft ist der „Logos“ im Inneren des Menschen, die Sprache der nach außen dringende „Logos“. Beide sind jeweils Logos in der ursprünglichen Doppelbedeutung des Wortes. Zwar ist der Mensch als Individuum „Erfinder“ der Sprache, zugleich aber als Mitglied der Gesellschaft ein „Geschöpf“ derselben.

Herder griff den Theismus seiner Zeit an.

So einleuchtend das heute klingen mag – vor 250 Jahren waren es fast schon ketzerische Gedanken. Denn wer wie Herder den Theismus angriff, der schien entweder ein Pantheist, ein Deist oder gar ein Atheist zu sein. Also entweder die Identität von Gott und Welt oder ihre vollständige Trennung zu behaupten oder aber die Existenz Gottes zu leugnen. Alle drei Lösungen lehnte Herder ab – aber eben auch den Theismus, der übernatürliche Eingriffe des Schöpfergottes in die Natur jederzeit für möglich hält.

Herders denkerische Lösung des Problems war dagegen der Panentheismus (pan en theos = alles ist in Gott enthalten). Ihm zufolge existieren die Welt und alle ihre Geschöpfe einschließlich der Menschen „in“ Gott, der ihnen gleichsam in seinem Herzen einen ebenso begrenzten wie wertvollen Lebens- und Freiheitsspielraum zuweist. Daran knüpften später Denker wie Schelling und Paul Tillich an, und in der gegenwärtigen Theologie erlebt der Panentheismus gerade eine neue Blüte.

Missbräuchliche Inanspruchnahme durch rechtsextreme Ideologien

Herders sprachphilosophische Überlegungen sind übrigens in einer wesentlichen Hinsicht sehr aktuell: So sehr er sich für die Sammlung alter deutschsprachiger Volkslieder einsetzte und in der Poesie der einzelnen Völker deren lebendigen „Volksgeist“ erblickte, so hoch schätzte er den Reichtum der Pluralität ein, der mit der Vielzahl der Völker, Sprachen und Kulturen gegeben war. Auch meinte er, dass sich hinter der Vielfalt der Nationalsprachen die eine Sprache aller Menschen verberge, die sich in einer allen Sprachen zugrundeliegenden, universalen Grammatik aufzeigen lasse. Damit eröffnete er eine gedankliche Linie, die über Darwin und Noam Chomsky bis hin zu Steven Pinkers These vom „Sprachinstinkt“ führt.

Der Begriff der „Rasse“ wurde von Herder explizit abgelehnt.

Leider wird Herder in der Gegenwart von rechtsextremen Ideologien verleumdet und missbraucht. Die NPD behauptet etwa: „Laut dem Philosophen Johann Gottfried Herder sind Völker die Gedanken Gottes – daraus leiten wir unseren politischen Auftrag ab, uns für den Schutz der Völker vor Überfremdung und kultureller Nivellierung einzusetzen.“ Weder die Prämisse noch die Schlussfolgerung dieser Aussage sind korrekt. Denn Jochen Johannsen konnte zeigen, dass Herder nicht von den Völkern als „Gedanken Gottes“ sprach, sondern in seiner These vom „Geist der Völker“ die Einheit und Vielfalt der Völker, Nationen und Kulturen kohärent zusammendachte. Der Begriff der „Rasse“, der in der späten Aufklärung gerade aufkam, wurde von Herder sogar explizit abgelehnt: „Ich sehe keine Ursache dieser Benennung. Rasse leitet auf eine Verschiedenheit der Abstammung, die hier entweder gar nicht stattfindet, oder in jedem dieser Weltstriche unter jeder dieser Farben die verschiedensten Rassen begreift. […] Kurz, weder vier oder fünf Rassen, noch ausschließende Varietäten gibt es auf der Erde.“ Zu Recht kann man Herder (ebenso wie Goethe) als Repräsentanten der Idee des „Weltbürgertums“ ansprechen.

Philosophische Langzeitwirkung

Vor diesem Hintergrund knüpft Jürgen Habermas in seinem neuesten Werk Auch eine Geschichte der Philosophie an Herder an. Das zeigt schon die Titelwahl dieses Buches, mit der er bewusst Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit würdigt. Laut Habermas bereitete Herder den linguistic turn der Aufklärung vor, worin ihm später Schleiermacher, Humboldt und auch der US-amerikanische Semiotiker Charles Sanders Peirce (1871–1914) folgten. Nicht weniger bedeutsam ist Herders Beitrag zum Ernstnehmen der „Geschichte“, den Hegel, Marx und der Historismus auf je unterschiedliche Weise zum historical turn der Aufklärung ausgestalten sollten. „Alles ist Geschichte“, in diesen drei Worten kulminiert Herders Einsicht zu diesem Thema.

Herders bleibendes Erbe

Worin besteht vor diesem Hintergrund das bleibende Erbe des oft zu Unrecht vergessenen genialen Anregers, den Rüdiger Safranski einen „deutschen Rousseau“ nannte? Vielleicht in diesen drei Aspekten:

Erstens kritisierte Herder die Aufklärungsphilosophie mit guten Argumenten von innen her und gab den Anstoß sowohl zu ihrer geschichtsphilosophischen als auch zu ihrer sprachphilosophischen Weiterentwicklung.

Zweitens glaubte Herder an die mögliche Einheit der Menschheit in der Vielfalt der Völker, Nationen und Kulturen und warb auf dieser Grundlage für ein friedliches Miteinander auf dieser Erde. Pluralität aus Humanität und Weltfrieden auf der Grundlage der Pluralität könnte die doppelte Formel dafür lauten.

Drittens gehörte Herder zu den Wegbereitern des Panentheismus in Religion und Theologie. Panentheismus bedeutet ja: Diese Welt und alle ihre Geschöpfe existieren „in“ Gott und sind in ihm geborgen. Die ihnen geschenkte Lebenszeit und die ihnen eröffnete Freiheit sind begründet und begrenzt in der Ewigkeit Gottes. Diesen Gedanken hat Herder auch in ein kleines lyrisches Kunstwerk gefasst:

Ein Traum

Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
und schwinden wir,
und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen‘s nicht) in Mitte
der Ewigkeit.

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