Kirche als Dach für „religiöse Touristen“ Jugendkirchen setzen auf christliche Spiritualität im Stil der Jugendkultur

Es ist eines der großen Themen, das in jeder Jugendstudie einen breiten Raum einnimmt: die Frage, welche Rolle Glaube und Religion für junge Menschen heute spielen. Der Eindruck, dass es für die großen Kirchen immer schwieriger wird, mit ihren Angeboten Jugendliche zu erreichen, verfestigt sich.

Spiritualität und Sinnsuche sind die neuen Stichworte. Junge Menschen machen sich auf die Suche und werden vielfach außerhalb der Kirchen fündig. Auffallend ist jedoch, dass sie meist Mitglied in der Kirche bleiben, in die sie hineingeboren worden sind. Die Entscheidung zum Austritt fällt meist später und wird oft durch ganz pragmatische Dinge wie die Kirchensteuer ausgelöst. Rund 200.000 Menschen treten jedes Jahr aus der evangelischen Kirche aus.

Verlorene Nähe zu jungen Menschen wiedergewinnen

Die Kirchen versuchen dem Trend der Entfremdung junger Menschen von traditionellen Formen des Glaubens entgegenzuwirken, der sich auch bei Erwachsenen immer deutlicher zeigt. Deshalb hat die katholische Kirche in Stuttgart gleich eine Gesamtstrategie für die kommenden Jahre entwickelt unter dem Motto „Aufbrechen“. Die Katholiken in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wollen ihre Kräfte bündeln. So soll 2019 ein Spirituelles Zentrum eröffnet werden. Weiterhin ist ein Zentrum für Trauerpastoral geplant. Schon 2016 wurde ein jugendpastorales Zentrum eröffnet, das durch eine Jugendkirche ergänzt werden soll.

Die Jugendkirchenbewegung in Deutschland ist um die Jahrtausendwende entstanden. Inzwischen gibt es deutschlandweit rund 180 solcher speziell für Jugendliche eingerichteten Profilkirchen. Die erste evangelische Jugendkirche ist übrigens auch in Stuttgart ins Leben gerufen worden. Seit 2003 können Jugendliche in der Martinskirche im Stuttgarter Norden Angebote nach eigenen Vorstellungen ausgestalten.

Der Grund für diesen Schritt der evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart wurde auf einer Tagung zu neuen Ansätzen kirchlicher Großstadtarbeit genannt: Es hieß, dass „die traditionell geprägte Kirche häufig weit entfernt von dem Leben junger Menschen ist“.

Glaube ist für Jugendliche veränderbar und individuell

An diesem Befund hat sich bis heute wenig geändert. Das zeigt sich auch an den Äußerungen junger Menschen in der aktuellen Sinusstudie: „Ich bin evangelisch getauft, konfirmiert und bin auch im evangelischen Religionsunterricht. Ich bin aber eigentlich in der katholischen Jugendrunde, weil da viele meiner Freunde sind. Aber wirklich gläubig bin ich nicht“, sagt eine 17-Jährige. Sie ist evangelisch und wird in der Studie als adaptiv-pragmatisch eingestuft. Und eine Altersgenossin sagt: „Ich habe Konfirmation gemacht, aber ich würde mich selbst nicht als religiös bezeichnen“.

Jugendliche finden Sinn heute nicht mehr zwingend in einer Religion.

Jugendliche finden den gesuchten Sinn heute nicht mehr zwingend in einer Religion oder Kirche, sondern sie sind häufig als „religiöse Touristen“ unterwegs und entwickeln aus verschiedenen Quellen einen „persönlichen Glauben“, wie die Autoren der Sinus-Jugendstudie konstatieren. „Dieser Glaube ist für Jugendliche veränderbar und individuell, während Religion und Kirche eher als institutionell und damit unbeweglich wahrgenommen werden. Trotzdem gehört nach wie vor die Mehrheit junger Menschen in Deutschland einer Glaubensgemeinschaft oder Kirche an“, heißt es. Konfessionslos sind den Angaben zufolge nur 23 Prozent der 12- bis 25-Jährigen.

Um die in den Kirchen weiterhin verorteten Jugendlichen zu erreichen, wird überall über neue Konzepte und Impulse nachgedacht. Für Furore gesorgt hat die 2009 gestartete erste Jugendkirche in Bayern. Als „Lux – Junge Kirche Nürnberg“ ist es ihr gelungen, nicht nur evangelische Jugendliche anzuziehen, sondern selbst Katholiken und Konfessionslose. Ziel war, dass 15- bis 27-Jährige „christliche Spiritualität im Stil der Jugendkultur feiern“: bei Gospel-Gottesdienst, Hip-Hop-Konzerten und Filmnächten: Inzwischen hat das Beispiel in Bayern Schule gemacht.

Kirchliche Jugendarbeit muss sich neu orientieren

In Nürnberg sitzt auch das von Landesjugendpfarrer Hans-Gerd Bauer geleitete Amt für Jugendarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Hier macht sich der weit über die Grenzen der Landeskirche hinaus bekannte Konzeptionsreferent Reinhold Ostermann Gedanken über neue Ansätze in der evangelischen Jugendarbeit. Die einzige deutschlandweite erscheinende Publikation im Bereich evangelischer Jugend- und Bildungsarbeit verantwortet der Redakteur Wolfgang Noack mit der Zeitschrift das baugerüst.

Beide können auf jahrzehntelange Erfahrungen in der Jugendarbeit zurückblicken. Im Gespräch mit beiden werden Probleme, Abbrüche und Veränderungen, aber auch neue Wege deutlich. Der Grundtenor lautet jedoch, dass kirchliche Jugendarbeit heute ein äußerst schwieriges Feld ist, auf dem erst noch manches ausprobiert werden muss. Noack erinnert sich an sein eigenes Engagement in der evangelischen Jugend in den 70er- und 80er-Jahren. „Wo wir waren, war vorne“, sagt er. Es sei darum gegangen, der Tagesordnung dieser Welt etwas Neues hinzuzufügen und politisch anders zu sein. Diese Zeiten sind vorbei.

Die politische Vision als gesellschaftliche Orientierung sei zerbrochen, sagt der Journalist. Es gebe keine wirklichen Auseinandersetzungen mehr. Heute könne man für alles Mögliche sein, da gebe es eine unglaubliche Toleranz. „Vegan sein wird zur Religion“, konstatiert Noack nüchtern. Jugendkultur definiere sich heute eher ästhetisch als politisch.

Die Sehnsucht nach Freiheit ist nicht mehr der Treiber

Das weiß auch Reinhold Ostermann, der die Wende in den 90er Jahren verortet. Er erinnert daran, dass sich die „Freiheitsoption ganz stark verändert hat“. Früher hätten die jungen Menschen in der evangelischen Jugend mehr Freiheit erlebt als bei den autoritären Eltern zu Hause. „Das war ein Treiber für gelingende Jugendarbeit“, fügt er hinzu. Heute sei der Antrieb dagegen, dass man etwas mit anderen zusammen tun wolle.

Aber das ist auch von den sozialen Rahmenbedingungen gar nicht mehr so einfach. Während in den 60er-Jahren nur 20 Prozent der jungen Menschen studierten, sind dies heute 56 Prozent. Sie verlassen ihre Heimat und haben andere Orientierungen, wie Ostermann erläutert. „Und die Welt in den Städten ist so vielfältig, dass kirchliche Angebote schon sehr attraktiv sein müssen“, meint Ostermann.

Klassische Jugendarbeit in der Gemeinde funktioniert kaum noch

Das sind Gründe, warum die klassische Jugendarbeit in der Gemeinde immer weniger funktioniert. „Das System Gemeindejugend, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, gibt es so nicht mehr“, betont Ostermann. Es ist noch lebendig in der evangelischen Landjugend, die es in dieser Form nur in Bayern gibt. Die Studenten kommen am Wochenende nach Hause. Die Identifikation mit dem Dorf ist noch stark.

Am stabilsten sind heterogene Gruppen, deren Mitglieder aus allen Altersgruppen zwischen 16 und 25 und unterschiedlichen sozialen Milieus kommen, und bei denen auch Frauen und Männer gemischt sind. Dass es da durchaus Konflikte mit den Pfarrern vor Ort gibt, verschweigt Ostermann nicht, da die Gruppen oft recht eigenständig seien.

Heute bräuchten die Hauptamtlichen jedoch nicht nur Toleranz, meint Ostermann, sondern vor allem so etwas wie „spürende Wahrnehmung“. „Wenn ein Gespür für Jugendliche da ist, dann laufen auch noch klassische Sachen“, sagt Ostermann. Er nennt als Beispiel Basisaktionsgruppen, die sich alle zwei bis drei Wochen in einer Gemeinde treffen. Sie planen dann gemeinsame Aktivitäten, wie Radtouren oder Kirchenübernachtungen.

Raum für gemeinsames Handeln und Selbstwirksamkeit

Insgesamt hat sich jedoch die Jugendarbeit nach Einschätzung der beiden Experten grundsätzlich gewandelt. Es geht meist um Projekte, die nicht mehr auf Dauer angelegt sind. Die Jugendlichen steigen meist nach zwei bis drei Jahren wieder aus. Das sei auch bei dem in Bayern erfolgreichen Konzept der Konfi-Teamer nicht anders. Dabei unterstützen und begleiten konfirmierte Jugendliche die Konfirmandinnen und Konfirmanden in ihrer Kirchengemeinde. Dies sei zwar eine „ganz große Form der Jugendarbeit“ in Bayern geworden, sagt Noack, der aber zu bedenken gibt, dass es auch hier wenige Möglichkeiten für Jugendliche gibt, in der Kirche mitzureden. Und dies sei für Jugendliche heute eminent wichtig. Das bestätigt auch Ostermann: „Partizipation ist größer geworden, alles andere ist schwieriger geworden“.

Es gibt zu wenige Möglichkeiten für Jugendliche, in der Kirche mitzureden.

Die Jugendlichen sollen heute Fragen stellen können. Vor diesem Hintergrund ist eine neue Methode unter dem Kürzel „GPS“ ins Leben gerufen worden. Dies beinhaltet Gemeinschaftsbildung, wie beim gemeinsamen Essen, Projektorientierung sowie Spiritualität und Sinn. Daraus sei eine regelrechte Jugendarbeitsdidaktik entstanden, sagt Ostermann. Und er sieht durchaus Erfolge, zum Beispiel wenn Gospelgruppen entstehen oder Nähgruppen oder wie im Dekanatsbezirk Sulzbach-Rosenberg „ein Riesentrupp von Jugendlichen“, der am Wochenende eine Holzkapelle baut. Die Kirche bietet hier kein Programm im klassischen Sinn mehr an, sondern eröffnet gemeinsame Handlungsmöglichkeiten.

Aber Ostermann gießt gleich etwas Wasser in den Wein, wenn er darauf hinweist, dass „die Jugendgruppe nicht mehr gleichgesetzt wird mit Kirche“. Das Engagement sei auch „kein Scheck mehr auf die Zukunft“. Jugendliche wollten so etwas wie „Selbstwirksamkeit“ erleben. Dabei sei das Thema nicht unbedingt Religion, sondern eher die Frage: „Was gibt meinem Leben Sinn?“.

Fokussierung auf Kinderarbeit und Religionsunterricht

Wie schwierig es geworden ist, Jugendliche anzusprechen, macht Ostermann an einem Beispiel aus Norwegen deutlich. Da habe die Kirche vom Staat mehr Geld für Kinder- und Jugendarbeit erhalten. Es seien daraufhin massenhaft Ideen für die Arbeit mit Kindern entstanden, aber nicht für Jugendliche. Auch in Bayern sei die Jugendarbeit deutlich jünger geworden und viel stärker auf Kinder fokussiert, ergänzt Noack. Ohnehin hätten Hauptamtliche immer weniger Zeit, sich der Arbeit mit jungen Menschen zu widmen.

Ostermann nimmt den missionarischen Auftrag der Kirche ernst. Aber nach seiner Ansicht ist es vor allem der Religionsunterricht, der „das volkskirchliche System offen hält, aber nicht unbedingt als glaubensvermittelndes Instrument“. Rund 250.000 Schüler nehmen jedes Jahr am evangelischen Religionsunterricht in Bayern teil.

Die Familie als christlicher Sozialisationsfaktor ist weitgehend weggefallen. Ostermann erinnert im Lutherjahr daran, dass dies eines der großen Verdienste des Reformators war, dass er Glaube und Religion aus dem Kloster heraus in die Familie gebracht habe.

In der Hälfte der Gemeinden gibt es keine Jugendarbeit mehr

Ein Überblick zeigt, dass es in den 68 Dekanaten in Bayern insgesamt 130 volle Stellen für Jugendreferenten gibt. Insgesamt gibt es rund 1.500 Kirchengemeinden, in denen etwa 2.500 Pfarrer tätig sind. In 470 Gemeinden gibt es Jugendarbeitsangebote von Verbänden wie dem Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) oder der Landjugend. In 250 Gemeinden sind Gemeindejugendreferenten tätig, deren Schwerpunkt die Konfirmandenarbeit geworden ist.

„In der Hälfte unserer Gemeinden gibt es keine Jugendarbeit mehr“, konstatiert Ostermann. Wenn auch die Verbandsjugend in der evangelischen Jugendarbeit immer noch die führende Kraft ist, wirbt Ostermann unermüdlich dafür, Neues auszuprobieren. Ein Beispiel seien drei Kirchengemeinden am Chiemsee, die Konfirmanden und Konfirmierte zum Bibelgespräch einladen, ohne dass sie dafür zuvor am Hauptgottesdienst teilnehmen müssen. „Es kommen recht viele“, freut sich Ostermann. Er hat auch die Erfahrung gemacht, dass „viele Jugendliche beim Abendmahl so etwas wie Heiligkeit erleben“. Da passiere etwas, was in der rationalen Welt nicht verfügbar sei. Hier sieht Ostermann gute Ansätze für die Jugendarbeit.

Neue Formate und Konzepte für unterschiedliche Milieus

Für den Sozialpädagogen mit theologischer Zusatzausbildung gibt es durchaus andere Wege, wie bei Besinnungstagen oder der schulbezogenen Jugendarbeit in der Ganztagesschule. Auch in den Jugendkirchen entsteht seiner Ansicht nach so etwas wie eine Szene. Kirche müsse sowohl etwas für Groß- als auch für Kleingruppen anbieten und auch auf die unterschiedlichen Milieus achten, sagt Ostermann. So komme die neue bürgerliche Mitte der adaptiv-pragmatischen Jugendlichen in der Gemeinde gar nicht vor. Es hat sich alles segmentiert.

Ostermann greift in der Landesstelle ethische und praktische Fragen auf, entwickelt neue Formate und Konzepte. Bei einem Seminar hat er vor kurzem vorgeschlagen, Jugendgruppen als Team zu denken, insbesondere im Alter zwischen 14 und 17. Dabei ist ihm die Idee gekommen, dass Jugendliche in dieser Zeit auch erfahrene Begleiter im Erwachsenenalter bräuchten, die ihnen über beängstigende Hindernisse hinweghelfen. Vielleicht entsteht daraus wieder ein neues Format. Bei allen Schwierigkeiten, eines haben Ostermann und Noack nicht verloren: ihren offenen und positiven Blick auf die Zukunft.

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