Digitale Chance oder Gefahr? Wie Kirche mit dem Siegeszug der Online-Medien umgehen sollte

In seinem im Frühjahr erschienenen Buch „Radikal lieben. Anstöße für die Zukunft der Kirche“ fordert der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm, das Medium Internet künftig viel intensiver für die kirchliche Kommunikation zu nutzen, auch für spirituelle Angebote. Wir stellen Statements von Befürwortern und Kritikern dieser Strategie zur Diskussion.

Mehr #digitaleKirche wagen

Von Anna Neumann

Online entwickelt sich dynamisch. Zu Hause und unterwegs, in Bus und Bahn, Café und Wartezimmer ist das Smartphone zur Hand oder ein Tablet. 90 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahre ist online, so die ARD-ZDF-Online-Studie 2017 (www.ard-zdf-onlinestudie.de). Im Durchschnitt zweieinhalb Stunden täglich.

Die Nutzungsarten sind vielfältig: Musik hören via Spotify, Videos gucken bei YouTube, Netflix, Amazon und Facebook. Hinzu kommt Individualkommunikation via WhatsApp, E-Mail und Chat. Aktuell sind 43 Prozent der 14- bis 19-Jährigen Woche für Woche bei Snapchat, 92 Prozent bei WhatsApp, je rund 50 Prozent bei Facebook und Instagram. Ansonsten gehen wir shoppen, surfen, spielen. Wir googeln, checken mal eben die Wetteraussichten, öffnen eine Landkarte.

Bei Snapchat kreativ einbringen

Den vermutlich ersten Snapchat-Adventskalender haben Jugendliche aus lippischen Kirchengemeinden realisiert, begleitet vom heutigen Social-Media-Pfarrer in Detmold, Wolfgang Loest. Sie fotografierten und filmten vier Wochen – das macht die App ja aus, sie dreht sich um Bilder und Videos, die man dann noch bearbeiten kann.

Genutzt wurde also der „Lieblingsmessenger vieler Jugendlicher“, wie Loest sagt. „Wenn wir als Kirche Menschen erreichen möchten, dann müssen wir dahin gehen, wo sie sind. Und Jugendliche spricht man im Moment am besten und eindrucksvollsten über Snapchat an.“

Bedenkt man, dass Snapchat Individualkommunikation ist und das Adventskalender-Team aus Zehn bestand, beeindrucken die Zahlen, die aus dem Stand erreicht wurden: snap.church gewann 1.350 Freunde, es gab zwischen 600 und 900 Views pro Snap.

Sich äußern und zuhören – eine tendenziell antiautoritäre Kommunikation

Oder ist die Kirche doch noch nicht auf der Höhe der Zeit? Befeuert hat Zeit-Redakteur Hannes Leitlein die Debatte über die #digitaleKirche (vgl. digitale-kirche.evangelisch.de), als er im Frühjahr wetterte: „Eine Kirche, die sich der Digitalisierung verweigert, ist gestrig, alt und unbeweglich.“ In Zeiten der Digitalisierung gehe es nicht mehr um Vervielfältigung und „Senden“, sondern (auch) um „Empfangen“, um Gespräch, Miteinander, Gleichzeitiges. Gefällt mir.

Wir sollten weiter experimentieren, erproben, vorantreiben, wir können noch mehr #digitaleKirche wagen. Das wurde und wird ja flankiert von kirchlichen Aktivitäten, die Medienkompetenz fördern, Befähigungen stärken, Gefahren benennen, Problemen die Stirn bieten. Wir dürfen uns nicht von Ängsten blockieren lassen, sondern müssen die Chancen der Digitalisierung nutzen.

Top down läuft immer stärker ins Leere. Wichtig sind Kooperation und Kollaboration, Partizipation und Dialog. Ein solches Adventskalenderprojekt lebt davon, dass der Pastor Pastor ist. Er darf nicht anweisen oder durchregieren, sondern er muss kuratieren, wie Onliner sagen, anregen und unterstützen.

Außerdem wird immer deutlicher, dass es keine Sonderprojekte für womöglich nur unter sich lebenden Online-Gemeinden braucht. Wir alle leben im Netz, aber auch offline. Die Chancen liegen also in konkreten, vielfältigen Projekten, bei denen sich Menschen einklinken können, mit individuell verschiedenen Zeitbudgets, mit selbst gewählter Intensität.

Ohne Berührungsangst – doch mit kritischer Begleitung

Die kirchlichen Macher sind kontinuierlich auch im Hintergrund aktiv: Kollegialer kirchlicher Fach- und Praxisaustausch geschieht in sog. Barcamps, diesen Spezialformaten von Onlinern, in denen die Teilnehmer die Inhalte der Workshops selbst aushandeln und sich auf diese Weise fortbilden. Hate Speech, eSmog, Cybermobbing – es wird ja nicht verdrängt. Eine rheinische Akademiereihe z.B. über #Datensouveränität, die 2018 fortgesetzt wird, gewährleistet den Diskurs. Aus der Feder von evangelischen Internetbeauftragten stammen sog. Social-Media-Guidelines. Sie stehen Usern zur Verfügung, um gekonnt und mit Spaß in Sozialen Netzwerken unterwegs zu sein.

Nicht erst Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks: Die Kirche hat zu Recht von Anbeginn an Technik für Theologie-Transport genutzt. Ralf Peter Reimann, Internetbeauftragter der Evangelischen Kirche im Rheinland: „Ohne das Straßennetz für den cursus publicus, auf dem die kaiserliche Post transportiert wurde, hätten auch die paulinischen Briefe nicht den Weg zu den frühchristlichen Gemeinden gefunden. Die frühe Kirche war abhängig von der technischen Infrastruktur ihrer Zeit und hat diese genutzt.“ Einst waren es Straßennetz und Buchdruck, heute ist es die Digitalisierung. Es geht nicht mehr um das Ob, so Reimann. „Die Frage ist, wie nutzen wir sie als Kirche?“

Das Nachgefragte transportieren – mit der Infrastruktur von heute

Bei Chatseelsorge, einem EKD-weiten Angebot zu Seelsorge in persönlichen Nöten, übersteigt der Bedarf die verfügbaren Seelsorgerinnen und Seelsorger. Eine Kirchengemeinde bringt neuerdings ihre Nachrichten per WhatsApp in Umlauf. Das Mitmachprojekt für Bibelübersetzungen „offene-bibel.de“ gedeiht. In Social-Media-Gottesdiensten versammeln sich Menschen on- und offline im Namen Gottes. Die Kirche geht dahin, wo die Menschen sind. Und das ist gut so.


Christenmenschen sollten die Netz-Euphorie kritisch betrachten

Von Werner Thiede
Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern und apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg (werner-thiede.de).

Langsam beginnt sich herumzusprechen, dass die digitale Revolution nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer kennt. Pflegen sich die Kirchen für benachteiligte Min­derheiten ein­zusetzen, so tun sie es bei den technologisch brüskierten Minderheiten bislang jedoch kaum. Dabei hätten sie dazu allen Anlass: Voriges Jahr ging die Meldung durch die Presse, unter den 18- bis 34-Jährigen könnten mehr auf Gott verzichten als aufs Internet. Grund genug, von kirchlicher Seite die internetkri­tischen Aspekte stärker in den Blick zu neh­men!

Angriff auf Bürgerrechte und Privatsphäre

Am ehesten wird bekanntlich die Erosion des Datenschutzes als Problem erkannt. Hierzu hatte die christliche IT-Expertin Yvonne Hofstetter bereits 2014 das Buch Sie wissen alles ver­öffent­licht. Heute, da die Zeiten von Big Data beginnen, hört man von kirchlicher Seite kaum nen­nenswerte Pro­teste. Die breite Überwachung der Gesellschaft durch Geheimdienste und Kon­zerne wird lethargisch hinge­nom­men. Sollten die Kirchen nicht entschiedener auf Seiten derer sein, die sich gegen den digital be­dingten Abbau zentraler Bürgerrechte wehren?

Das digitale Ich übernimmt die Herrschaft

Dasselbe gilt für ein zweites Problemfeld der Digitalisierung, nämlich den bröckelnden Schutz des huma­nistischen Menschenbildes. An die Stelle der traditionell geglaubten Gotteben­bild­lichkeit des Menschen tritt immer öfter das Zielbild seiner „Maschineneben­bildlich­keit“. Das Zeitalter der Cyborgs hat be­gonnen. Das aber dürfte eher Verlust statt Gewinn bedeuten: Immer cooler und mit schwindender Empathie wird der Maschinengeist, wird künstliche In­telligenz unsere Kultur beherrschen. Cyberwelten drohen menschliche Indi­vi­duali­tät zu ver­nichten. Frank Schirr­macher warnte in seinem Buch Ego (2013): „Die Zei­ten, wo das digitale Ich dem empiri­schen Menschen aus Fleisch und Blut wie ein Schatten folgt, sind bald vorbei. Das digitale Ich, jetzt noch Nummer 2, wird Nummer 1 immer häu­figer ersetzen, verändern und zu­min­dest in wesentli­chen Teilen über­nehmen.“ Mit dieser Entwicklung gehen digital er­zeugte Süchte und gehäufter Narziss­mus einher, ganz zu schweigen von digitaler Krimi­nalität. Immer mehr Men­schen verlieren sich in virtuellen Halbwirklichkeiten oder nutzen diese zum Be­trug. Christ­licher Schöpfungsglaube kann all das nicht gutheißen – und darum auch nicht einfach in die verbreitete Netz-Euphorie einstimmen.

Steigende Strahlenbelastung durch Mobilfunk und  WLAN

Drittens gibt es das mit der Rundum-Digitalisierung einhergehende Problem des Strahlen­schutzes: Es verschärft sich, je mehr mobiles Internet zum Einsatz kommt. Diese Problemlage mag weniger bewusst sein, weil es massive Interessen an der Harmlosig­keitsthese auf diesem Sektor gibt. Doch wer die bedenkliche biologi­sche Wirksamkeit der Strahlung von Mobil- und Kom­munikationsfunk bezweifelt, erweist sich mitten im In­forma­tions­zeitalter als wenig informiert. Dabei kann man heute sehr wohl wissen, was Sache ist: Indus­trieunabhängige Wis­sen­schaft­ler und Ärzte haben im Netz die kriti­schen Seiten die­ser Technologie gut nachvollziehbar offen­ge­legt. Die weiter steigende Strahlenbelastung – auch durch häufig funkende Wasser-, Strom- und Gaszähler in den Haushalten – sollte nicht wie ein Naturgesetz hingenommen werden. Doch von kirchlicher Seite wird die Problematik weiter unter­schätzt – und die unmittelbar betroffene Minderheit Elektrosensibler alleingelassen. Das sollte sich unbedingt ändern.

Digitale Kommunikation zerstört die Stille

Viertens sollte den Kirchen angesichts der Digitalisierung aller Lebensbereiche auch gerade der Schutz der Spiritualität angelegen sein. Der Phi­lo­soph Byung Chul-Han mahnt: „Offenbar zerstört die digi­tale Kommuni­kation die Stille. Das Additative, das den kommunikativen Lärm erzeugt, ist nicht die Gangart des Geis­tes.“ Digitalisierung bedeutet Be­schleunigung statt Besinnlichkeit. Wer mit missio­narischen und gottes­dienstlichen Möglichkeiten im Netz liebäugelt, muss gleichwohl ein­sehen, in welchem Ausmaß dort die Stille, Zeithaben und Tiefgang ver­lo­ren­gehen. Überhaupt befördert die Digitalisierungskultur insge­samt die Säkula­ri­sie­rung immer noch weiter. Das In­ternet zielt insgesamt auf eine High-Tech-Utopie, die sich sogar die irrige Verheißung indi­vidueller Unsterblichkeit anmaßt.

Kirchliche Wachsamkeit ist gefragt

Nicht um dumpfe Digitalisierungsphobie geht es, sondern um kirchliche Wachsamkeit im Blick auf das kulturell so Herausfordernde. Chancen lassen sich ethisch keineswegs einfach gegen Risiken aufrechnen. Jetzt ist es an der Zeit, sich ener­gisch auf Be­währtes zu be­sinnen und notwendigen Protest öffentlich zu machen. Morgen könnte es angesichts der bedrohlichen Veränderungen bereits für vieles zu spät sein.

Zum Weiterlesen

Werner Thiede: Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft. oekom Verlag, 2012; Die digitalisierte Freiheit. Morgenröte einer technokratischen Ersatzreligion. LIT Verlag, 2., akt. Aufl. 2014; Digi­taler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen. oekom Verlag, 2015; Evangelische Kirche – Schiff ohne Kompass? Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2017.

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar