Das planetarische Momentum Wie wir die Welt jetzt verändern können

Asymmetrische Schocks schaffen eine neue globale mentale Bereitschaft für den Wandel. Wie können wir sie auf dem Weg zu einer anti-fragilen Wirtschaft nutzen?

1. Asymmetrische Schocks sind das ›neue Normal‹

Asymmetrische Schocks treffen menschliche Gesellschaften, obwohl diese annehmen, alles richtig gemacht zu haben, und obwohl sie glauben, diesen Schock nicht verursacht zu haben. Die Schocks wirken auf menschliche Gesellschaften in ungleicher Weise und treffen einige härter als andere. Und sie verstören ganze Systeme in extremer Weise und erfordern Interventionen, die über konventionelle Instrumente hinausgehen. Covid-19, globale Erwärmung, Finanzkrisen, Verlust der biologischen Vielfalt, Plastikmüll, erzwungene Migration, Terroranschläge, gescheiterte Staaten und anhaltende Entwaldung sind Beispiele für solche asymmetrischen Schocks.

Jedes System, das von einem asymmetrischen Schock getroffen wird, wird unter Druck gesetzt, sich an die neuen Umstände anzupassen. Je nach der Schwere des Stressors, seiner Dauer und der eigenen Konfiguration verändert sich für Systeme die Art der Anpassung oder sie stellen die Spielregeln radikal in Frage. Dazu muss das System neue Wege der Selbstorganisation finden. Die heutige Weltgemeinschaft befindet sich in einer solchen Situation. Asymmetrische Schocks wurden zur neuen Normalität.

2. Globale mentale Bereitschaft für den Wandel: der „Kairos-Moment“.

Jede Veränderung von Spielregeln erfordert die Bereitschaft, dies auch zu tun. Zum ersten Mal in der Geschichte werden wir Zeuge einer globalen, kollektiven mentalen Bereitschaft zur Veränderung für fast 7,5 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, die weitreichende Perspektiven einschließt. Die Viruspandemie löste diese Bereitschaft aus. Es gibt zwei Wege, die die Menschen beschreiten können. Der eine führt zurück in ein Business-as-usual-Szenario, der andere zu einem neuen Denken  und erfordert ein neues Paradigma. Es ist ein „Kairos-Moment“ (Kairos war der Gott des richtigen Augenblicks), das wir erleben.

Obwohl die Menschheit schon immer Krisen, Katastrophen und Konflikte durchlebte, ist es diesmal anders: Als Weltgemeinschaft im 21. Jahrhundert sind wir besser denn je mit empirischen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgestattet, wir haben ein tieferes und besseres Verständnis für komplexe, nicht-lineare Systeme, wir haben Dutzende neuer, disruptiver digitaler Technologien zur Hand und wir haben einen starken dritten Sektor, in welchem Millionen von Nichtregierungsorganisationen beteiligt sind, mit ihrem Fachwissen die Welt zu verändern.

Der Kairos-Moment hilft uns, besser zu verstehen, dass die Globalisierung vor hundert Jahren mit dem Handel von Waren begann (1.0), gefolgt von einem Austausch von Kapitalströmen (2.0) und später von einem Austausch von Dienstleistungen (3.0). Bis 1989 verfolgte die Globalisierung das Ziel, nationalen Reichtum und Wohlstand zu mehren. Nach dem Washingtoner Konsens von 1992 wurde die Globalisierung zum Selbstzweck, da isolierte Organisationen und Einzelpersonen profitieren konnten und die Nationen zu einem Mittel der Bereicherung für globalisierte Eliten wurden. Diese Überdehnung, die fast drei Jahrzehnte andauerte, ist vorbei. Wir treten in eine „Globalisierung 4.0“ ein, in der nicht nur Güter, Kapital und Dienstleistungen geteilt werden, sondern in der auch gemeinsame Werte wie Vertrauen, Zusammenarbeit, gegenseitige Toleranz und Solidarität geteilt werden können. Wir können verstehen, dass wir ein fehlerfreundliches Umfeld benötigen und Ratschläge annehmen; dies erfolgt nun in einem globalen Maßstab. Diese Form der Globalisierung 4.0 ist es, die uns die nötige Demut, den nötigen Mut und die Achtsamkeit gibt, einer neuen Ära entgegenzugehen.

3. Umgang mit Unsicherheit: Mit dem System tanzen und den richtigen Attraktor finden

Noch nie in der Geschichte wurden wir mit so vielen Informationen, Unwissenheit und unbekannten Faktoren konfrontiert, und noch nie mussten wir so viele relevante Entscheidungen unter Unsicherheit und Zeitdruck treffen. Die Unsicherheiten sind nicht vollständig quantifizierbar; Wahrscheinlichkeitsstatistiken werden uns nicht helfen, sie mit einem Preisschild zu versehen. Sie sind Teil der Systemdynamik und werden nicht verschwinden, sondern erfordern von uns eine andere Haltung. Der prominenteste Weg, diese Unsicherheiten zu bewältigen, besteht in der Illusion von Kontrolle durch verstärkte Regulierungen und dem Erzeugen von mehr Daten. Ein anderer Weg ist, Komplexität durch Verleugnung zu vermeiden. Ein dritter Weg besteht im so genannten Kampf- oder Fluchtmodus. Diese Ansätze sind unzureichend und ungeeignet, um mit nichtlinearen, komplexen Systemen fertig zu werden. Sie verursachen asymmetrische Schocks, Black Swan Effekte (unvorhersehbare, unwahrscheinliche Ereignisse), unkontrollierbare exponentielle Entwicklungen und Folgewirkungen, irreversible Kipppunkte und Rückkopplungsschleifen, die nicht vorhersehbar sind. Wir müssen lernen, mit dem System zu „tanzen“.

Noch nie mussten wir so viele relevante Entscheidungen unter Unsicherheit und Zeitdruck treffen.

Dies erfordert, fehlerfreundliche Verfahren einzuführen, die es erlauben, neue Gebiete zu erkunden, in welchen Revision, kritische öffentliche Diskurse, die Einführung anderer Ideen und Paradigmen zu den eigentlichen Spielregeln werden. Wir können beginnen, uns mit den Dilemmata und Paradoxien auseinanderzusetzen und wir können akzeptieren, dass das Unbekannte Teil jeder Entscheidungsfindung ist und sich scharf von rein statistischen Wahrscheinlichkeiten unterscheidet; wir werden vielleicht am Ende in der Lage sein, zwischen „relevanten“ und „weniger relevanten“ Fragen zu unterscheiden. Unter Berücksichtigung eines solchen Szenarios kann es für unsere Risikobewertungen rationaler werden, in die Zukunft zu blicken und so genannte Attraktoren zu identifizieren. Attraktoren sind wie Trichter, die alle Basisvariablen eines Systems in die Zukunft ziehen, anstatt dass diese Variablen durch singuläre kausale Verbindungen aus der Vergangenheit geschoben werden. Unser Finanzsystem, die Digitalisierung und Veränderungen unseres Bewusstseinsschwerpunktes sind solche fundamentalen Attraktoren.

4. Auf dem Weg zu einer anti-fragilen Wirtschaft: Verbesserung durch Scheitern

Da wir in einer komplexen, vernetzten Welt leben, in der nicht-lineare, nicht-sequentielle Effekte vorherrschen und Interdependenzen und multiple Perspektiven dominieren, in der wir innerhalb planetarischer Grenzen operieren müssen und mit unvollkommenen Informationen ausgestattet sind, haben wir ein nicht nur kollektives Interesse daran, aus der gegenwärtigen Krise herauszukommen, sondern auch daran, die damit verbundenen Probleme zu lösen, die die Krise verursacht haben. Die Zeit nach einem asymmetrischen Schock ist die Zeit vor dem nächsten asymmetrischen Schock. Erkennen wir dies, sehen wir, dass komplexe Systeme ihr Optimum nicht in einer ständig steigenden Effizienz (Durchsatz pro Zeit, gemessen in globalen Wertschöpfungsketten) liegt, sondern in einem Gleichgewicht zwischen Effizienz und Resilienz, (Widerstandsfähigkeit gemessen in der Menge an Vielfalt und Vernetzung). Dieses Optimum nennt man eine ›antifragile Zone‹. Sie beschreibt eine Situation, in der wir uns verbessern und aus Misserfolgen Gewinn ziehen können.

5. Wie lässt sich diese anti-fragile Zone in konkrete Schritte umsetzen?

Wir werden über neue Formen des Risikomanagements nachdenken, in denen die Gesamtkostenanalyse (Total-cost-analysis), welche die Haftung der gesamten Wertschöpfungskette berücksichtigt, an Relevanz gewinnt. Dies bevorzugt in der Konsequenz zirkuläre Wirtschaftsformen, in denen wir unsere Wirtschaft nicht als einen Fluss betrachten, in dem flussabwärts abgeschrieben und ausgelagert wird, sondern viel eher als einen See, in dem wir potenzielle negative Externalitäten berücksichtigen. Wir werden unseren Wertschöpfungsprozess von der Globalisierung abkoppeln und uns mehr auf lokale, regionale und nationale Kunden und Lieferketten konzentrieren.

In der ›antifragilen Zone‹ können wir uns verbessern und aus Misserfolgen Gewinn ziehen.

Der Prozess der Regionalisierung begann nach der Finanzkrise von 2008. 50 Prozent des Chinahandels erfolgt mit Asien selbst; 70 Prozent der Handelspartner der EU sind andere EU-Mitglieder. Das gilt auch für den amerikanischen Kontinent. Der Trend setzt sich fort in einer Situation, in der weniger Effizienz und mehr Resilienz erfordert wird. Wir werden die Konzentration und Größe privater Unternehmen sorgfältig prüfen und sicherstellen, dass sie nicht zu groß sind im Fall, dass sie scheitern. Das würde den öffentlichen Sektor und die Steuerzahler zwingen, sie zu retten. Stattdessen werden wir kleine, aber leistungsstarke Unternehmen bevorzugen. Dazu könnten auch neue Formen von regulierten Credit Default Swaps (CDS) gehören, die privaten Unternehmen helfen können, ihre Risiken abzusichern. Führt man dieses Argument weiter, würde es bedeuten, eine Renaissance von Governance, Verwaltung und Regulierung zu erleben. Ein neues Mandat für Zentralbanken gehört dazu (grünes Quantitative Easing, erleichterte Geldpolitik), parallele digitale Währungen, grüne Staatsanleihen), eine Reihe von Kartellgesetzen, die einen fairen Wettbewerb, höhere Qualität und niedrigere Preise garantieren, insbesondere für die digitale Plattformwirtschaft. Diese Renaissance von Governance und Regulierung legt die perversen Subventionen des Agrarsektors auf den Tisch und  bringt eine neue Form der wirtschaftspolitischen Agenda auf den Weg, die sicherstellt, dass systemrelevante Industrien (Gesundheitswesen, Pharmazie, regionale Landwirtschaft) und öffentliche Angelegenheiten (Forschung und Bildung, öffentliche Infrastruktur) zum Wohle der Bürger angemessen reguliert werden.

In den Bereichen, in denen die Digitalisierung unser tägliches Leben, unsere Arbeitsplätze und unsere Unternehmen weiter durchdringt, in denen Millionen von Arbeitsplätzen durch Roboter und automatisierte Industrien ersetzt werden, sollten wir das soziale Gefüge auf intelligente Weise umgestalten, indem wir ein bedingungsloses Grundeinkommen bereit stellen. Dies würde die Botschaft aussenden, dass es keine „nutzlosen“ Menschen gibt, sondern dass sie zu denjenigen werden, die in einem neuen Zeitalter und einer neuen Gesellschaft „gebraucht, gewollt und gefordert“ werden.

In einem umfassenden Sinn werden wir uns mit dem Thema der Gemeingüter befassen und klären, was ein privates Gut ist und was besser als öffentliches Gut verwaltet werden sollte. Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur sind  dafür Beispiele. Dazu würde eine Verlagerung unseres Energiesektors weg von der zentralisierten fossilen Industrie hin zu stärker dezentralisierten und regionalisierten, erneuerbaren Energien gehören. Soziales Unternehmertum wird gegenüber Big Pharma, Big Banking, Big Farming und Big Energy an Bedeutung gewinnen, wo die Verkleinerung ein Gefühl von „small is beautiful“ erzeugen kann. Dies könnte sogar bedeuten, dass wir uns von einer produktionsbasierten Wirtschaft hin zu einer mehr ›care-basierten‹ Wirtschaft verlagern, in welcher menschenzentrierte Dienstleistungen (Krankenpflege, Sozialarbeit, Kulturschaffende) gewürdigt und angemessen vergütet werden. Jede notwendige Produktion wird ohnehin von einem Roboter erledigt.

6. Vom untätigen Zuschauer zum unverzichtbaren Mitspieler

Dies alles könnte unseren Bewusstseinszustand verändern, in dem Achtsamkeit, Dankbarkeit, Demut und Vergebung einen Weg in eine gerechtere, grünere und nachhaltigere Zukunft weisen. Das ist keine leichte Aufgabe, aber es wird uns helfen, besser zwischen den parallelen, multiplen Welten zu unterscheiden, in denen wir gleichzeitig leben und die verschiedene Formen von Verantwortung erfordern. Wir könnten zu dem Schluss kommen, dass wir, anstatt Beobachter und Zuschauer zu sein, zu unverzichtbaren Spielern geworden sind. Das ist das planetarische Momentum, vor welchem wir jetzt stehen, um die Welt zu verändern.

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Stefan Brunnhuber: Die offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert. Oecom-Verlag 2019.

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