Die Mechanik der Ukraine-Krise Oder: die Wiederbelebung des Ost-West-Gegensatzes durch einen „Clash of Policies“

Die Ukraine-Krise hat den Ost-West-Gegensatz scheinbar „über Nacht“ wiederbelebt. Der Konflikt ist aber nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis zweier vermeintlich getrennter Entwicklungen auf den Gebieten der Geo-Politik und der EU-Politik. Das (expansive) Verhalten der EU und ihrer Mitgliedstaaten folgt dabei einer genau rekonstruierbaren Mechanik.

Die Ukraine-Krise hat im Westen umstandslos zu einer Wahrnehmung in Kategorien des Ost-West-Gegensatzes geführt. Offenbar ist er selbst nach 25 Jahren noch latent und also leicht aktivierbar. Dessen Wesen ist das Schema „Freund-Feind“, etwas Digitales – ein Gegen-Satz: tertium non datur. Diese digitale Struktur ist es, die umstandslos auf Fragen von Recht und Sicherheit projiziert wird.

Zum Wesen des Rechts zählt der (digitale) Entscheidungszwang: recht vs. unrecht. Die Verführung ist hier, aus der Diagnose des Unrechts (Illegalität) des Handelns des anderen umstandslos zu schließen auf das Gerechtfertigt-Sein (Legitimität) des eigenen reagierenden Tuns – die Verführung zu einer Politik der Selbstermächtigung steht da im Raume. Ihr (potentieller) Quellgrund ist die zentrale Verführungsoption, welche die Moral bietet – in ihr wurzelt sie.

Bei der Sicherheit geht es um die ungeprüfte Annahme, dass die Dynamik des anderen, insbesondere dessen räumliche Expansion, als Expansion zu Lasten der eigenen Sicherheit zu sehen ist, sei es militärisch, sei es ökonomisch – was eine korrekte Wahrnehmung sein kann. Hier wird der Verführung gefolgt, ein kooperatives Verständnis von Sicherheit zu verlassen. Im Folgenden beschränke ich mich allein auf letzteres von beiden Charakteristika. Der Grund für diese Wahl ist, dass es ohne Emotion, einfach in Kategorien der Mechanik, von Druck und Stoß, analysierbar ist.

Geo- und EU-politischer Hintergrund der Ukraine-Krise

Dass dem Ost-West-Gegensatz wieder Leben eingehaucht wurde, hat die Ukraine-Krise zum Anlass. Das Publikum schließt daraus, diese sei wie urplötzlich vom Himmel gefallen – doch das ist nicht der Fall. Ihr Eintreten ist vielmehr (in der Tat überraschende) Resultante zweier dynamischer Entwicklungen, auf unterschiedlichen Feldern der Außenpolitik. Statt „Resultante“ kann man auch „Zusammenstoß“ oder „Clash“ sagen.

Das Außenpolitische besteht hier aus zwei Elementen auf zwei Feldern, (1) Sicherheitspolitik in geo-politischer Perspektive und (2) Nachbarschaftspolitik der EU. Die beiden Felder, je mit der Entwicklung ihres Elements, werden hier als unverbunden vorgestellt, die jeweilige Entwicklung verlief scheinbar eigenständig. Die Krise ist als derjenige Punkt definiert, an dem sie dann doch schließlich miteinander in Wechselwirkung traten. Ich stilisiere das hier als ein überraschendes (und für die Akteure unbewusstes) Zusammenspiel.

1. Element: Geo-Politik

Der (Rück-)Blick auf Feld (1) zeigt eine rüstungskontrollpolitische Entwicklung, und zwar in jenem Teil Europas, welcher einstmals als Schlachtfeld auserkoren war für den Fall, dass es in militärischer Form zum Austrag des damaligen Hegemonialkonflikts gekommen wäre. Die Entwicklung war in einen Konflikt in Latenz gemündet – ein Zustand, der nicht wirklich verdeckt, aber vermutlich nur von der extrem beschränkten Community der Spezialisten für Sicherheitspolitik (seiner Bedeutung als Pulverfass gemäß) wahrgenommen worden war.

Nach 1989, nach Ende der Blockkonfrontation, war als Lehre aus dem jahrzehntelangen Leben unter dem labilen Schirm einer beidseitigen nuklearen Bedrohung das Konzept gemeinsamer Sicherheit in Europa, ein neues nicht-digitales, auf dynamische Stabilität hin angelegtes Sicherheitskonzept gemeinsam entwickelt und eingeführt worden. Dieses neue Konzept gemeinsamer Sicherheit war seit 2000 de facto aufgekündigt. Grund dafür war, dass der Westen, eigentlich die USA, eine Verknüpfung vornahm: von Fragen der Sicherheitsarchitektur in Europa mit Russlands sicherheitspolitischem Verhalten in einem Territorium außerhalb Europas (Tschetschenien-Krieg) – aus geopolitischer Perspektive, also der der USA, eine naheliegende Option. Diese Entscheidung wurde von der Regionalmacht EU mitgetragen. Seitdem wartete die geöffnete Situation darauf, aus einem konkreten Konfliktanlass (zur wieder angelegten ‚digitalen’ Konfrontation) aktiviert zu werden; darauf, dass an das bereitstehende Pulverfass eine Lunte gelegt wird, dessen Glut sich langsam voran arbeitet.

Das 1989 eingeführte neue Konzept gemeinsamer Sicherheit in Europa war seit 2000 faktisch aufgekündigt.

Man könnte einwenden: Das war mit dem Georgien-Krieg doch bereits einmal realiter durchgespielt worden – der Georgien-Krieg aber endete nicht in einer Block-Konfrontation. Das ist diesmal, mit dem Ukraine-Konflikt, anders! Die Antwort: Die differentia specifica, weshalb der Georgien-Krieg die Block-Konfrontation nicht auslöste, war, dass dieser militärische Vorstoß und Völkerrechtsverstoß zu offensichtlich vom Partner des Westens, von der damaligen georgischen Regierung, ausgegangen war. Diesmal dagegen, mit der Krim-Annexion, war Russland der flagrante Verletzter des Völkerrechts – rechtskonform, „regelgebunden“ zu agieren, ist aber ein zentrales Element westlicher Identität.

2. Element: EU-Politik

Auf Feld (2) zeigt sich die Entwicklung des Auslösers, eine Dynamik weit jüngeren Datums. Die EU hatte nach 1989 eine erste Erweiterungsrunde gen Osten vorgenommen bzw. begonnen – deren Grundzüge waren sicherheitspolitisch noch im Konzept gemeinsamer Sicherheit abgestimmt worden. Ergebnis der Abstimmung war eine Differenzierung des Ausmaßes der Integration nach den Politikfeldern der EU und der NATO (hier mit Einschränkung). Nach Abschluss der ersten Runde verfolgte die EU ihre Expansion, also für ihren unschuldig-nichtmilitärischen Teil von Politik, weiter in Richtung Osten. Sie schien das weniger aus strategischen Gründen zu tun als vielmehr aus einer Not heraus. Entscheidender Hintergrund war, dass die USA das Zögern der EU hinsichtlich weiterer Expansion nicht mittrugen, das Gegenteil für richtig hielten, es – soweit sie es konnten – auch förderten und so die EU unter Zugzwang brachten.

Das Konzept der EU für ihre Politik „Östlicher Partnerschaft“ ist darin beschränkt, dass es eine Beitrittsperspektive gerade nicht in Aussicht stellen sollte. Die EU machte der Ukraine und weiteren Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion vielmehr je das Angebot einer (beidseitig verpflichtenden) Zollunion, verbunden mit der Einforderung von (einseitigen) Governance-Anpassungs-Leistungen bis hin zu militärischen Zuarbeitsverpflichtungen – die „Gegenleistung“ seitens der EU für die beiden letzteren einseitigen Verpflichtungen konnte nur in einer (späteren) Eröffnung des Beitritts bestehen. Diesem Paket, mit seinem in Teilen hinsichtlich Leistung und Gegenleistung asymmetrischen Angebot, wurde der Titel „Assoziierung“ gegeben.

Von den Bevölkerungen derjenigen Staaten, denen dieses Angebot galt, wurde der feinsinnige Vorbehalt, dass es – anders als bislang realisiert – diesmal keine Beitrittsperspektive zur EU beinhaltete, nicht wahrgenommen. Und von den entsprechend ausgerichteten politischen Eliten vor Ort wurde der Vorbehalt natürlich mit Bedacht überhört. Im Falle der Ukraine hat die EU mit ihrer Parteinahme gegen den legitimierten Inhaber des Präsidentenamtes und der von ihr schließlich gewählten, gegen Russland gerichteten Argumentation, dass diese Staaten in Freiheit „wählen“ können müssen, ihren eigenen Vorbehalt faktisch abgeräumt. Diese Forderung macht nämlich keinen Sinn, wenn der Partner der Wahl, die EU, für sich weiterhin offen hält, ob sie einer allfälligen Wahl zustimmen werde. Auf diese Weise wurde das formal bzw. im Wortlaut nicht-expansive Konzept der EU doch expansiv – und hat die (Block-)Konfrontation in Latenz aktiviert, wurde zur Lunte. Es knallte zwei Mal: zunächst ukrainisch-innenpolitisch mit der Revolution in der Ukraine vom 20. bis 22. Februar 2014; dann auch außenpolitisch: Russland nahm sich die Krim.

Mechanik des Verhaltens der EU und ihrer Mitgliedstaaten nach dem Clash

„Der“ Westen besteht aus drei Fraktionen, (1) USA; (2) EU-Ostanrainer; (3) EU-West. Innenpolitisch werden in den drei Teilen erheblich unterschiedliche Forderungen im Umgang mit Russland erhoben. Und da die Außenpolitik eines Nationalstaates Funktion seiner Innenpolitik ist, ist das entscheidend.

Die EU wird als ein Friedensprojekt bezeichnet. Das ist korrekt, doch sie war und ist als eines allein zum Zwecke des internen Friedens konzipiert (Konzept des internen Gewaltabkaufs). Die Idee der EU entstand, nachdem die Nationalstaaten in Europa in zwei Kriegen übereinander hergefallen waren und folglich die realistische Aussicht bestand, dass sie das noch ein drittes, viertes und x-tes Mal tun würden. Es sollten deshalb nach 1945 die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass sie die potentiellen Anlässe dafür verlieren, untereinander zu den Waffen als letztem Mittel (ultima ratio) zu greifen – dafür und nur dafür. Das ist ihre raison d’etre. Daraus, dass dieses Konzept so fatal begrenzt ist, folgt Zweierlei.

  1. Die EU verfügt nach außen über kein anderes Friedenskonzept als das der Expansion des Prinzips des Gewaltabkaufs, was ein territorial expansives Konzept ist.
  2. Die Vergemeinschaftung der Verteidigungspolitik (gegen außen) spielte in der EU programmatisch keine Rolle – die Lücke füllte zudem die NATO mit ihrem Feindbild Russland aus. Letzteres dürfte nun anders werden.

Mit der Krim-Annexion wurde das sicherheitspolitische Trauma der mitteleuropäischen Neu-EU-Mitgliedstaaten aktiviert. Diese Mitgliedstaaten sind – wie alle anderen auch – gemäß der EU-Konstruktion bislang in ihren sicherheitspolitischen Entscheidungen (i.e.S.) nicht in gleicher Weise durch Aufgabe von Souveränitätsrechten gebunden wie sie z.B. in ihrer Wettbewerbs- und Handelspolitik gebunden sind. Eine vergemeinschaftete Sicherheitspolitik der EU existiert (bislang) nicht. Sie wird im konstitutionellen Sinne auch nicht kommen – in Expertenkreisen angedacht ist sie allein als inter-gouvernemental abgestütztes Politikfeld.

Die Neu-EU-Mitgliedstaaten haben zudem ein gepflegtes, enges und eigenständiges – wenn auch nicht enttäuschungsfreies – sicherheitspolitisches Verhältnis zu den USA. Ihnen steht, ungeachtet aller Einbindung in die EU-Strukturen, die Option offen, die USA sicherheitspolitisch um Beistand zu bitten und dafür ihr Territorium anzubieten. Träte dieser Fall (erneut und erweitert) ein, so wäre das der Sturz vom Hochseil – das Ende der EU (in ihrem osterweiterten Umfang).

Es ist diese Option, die man sich vor Augen halten muss, um ermessen zu können, was die Westeuropäer zu vermeiden suchen – und in welchem Maße sie deshalb block-intern zu Zugeständnissen, an die USA sowie an die osteuropäischen Mitgliedstaaten, bereit sind.

Resümee

Wie ist aus der erneuten Ost-West-Konfrontation wieder herauszukommen? Der Vorbildvorgang nach 1989 zeigt: nur durch konzeptionelle Festlegung auf „kooperative“ Konzepte. Für die EU bedeutet das Mehrererlei. U.a. hat sie das Konzept ihrer Politik „Östlicher Partnerschaft“ gegenüber den ehemaligen Mitgliedstaaten der Sowjetunion auf den Prüfstand zu stellen. Es ist, so wie es angelegt ist, ein ambivalentes und implizit expansives Konzept. „Double speak“ aber zerstört nicht allein Beziehungen zwischen Personen, es vermag auch Beziehungen zwischen Völkern und Staaten zu zerstören.

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar