Das Stereotyp des ukrainischen „Faschisten“ Zur Geschichte anti-ukrainischer Feindbilder in Russland

Russland legitimiert den seit Februar geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine damit, dass das Land von „Faschisten“ befreit werden müsse. Dieses Feindbild hat in Russland eine lange Geschichte – ebenso wie die russische Unterdrückung des nationalen Bewusstseins der Ukrainer.

Am 24. Februar 2022 erfolgte das, was viele befürchtet hatten: Der russische Diktator Wladimir Putin entschied sich, den seit 2014 von Russland gegen die Ukraine geführten Krieg massiv zu eskalieren, und befahl einen Totalangriff auf das demokratische Land. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels sind nach ukrainischen Angaben mindestens 22.800 tote Zivilist:innen in der Ukraine zu beklagen, mehr als zehn Millionen Menschen sind geflohen, es handelt sich um die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Territorium der Ukraine vollzieht sich zum zweiten Mal in ihrer Geschichte ein Vernichtungskrieg – das letzte Mal war es NS-Deutschland, das diesen zu verantworten hatte, heute ist es Russland.

Die lange Vorgeschichte des aktuellen Konflikts

Mit welchen Feindbildern, welchen Stereotypen versucht Russland diesen Angriff auf ein Land zu legitimieren, das vielen Russ:innen immer noch als „Brudervolk“ gilt? Tatsächlich lässt sich seit Februar eine erschreckende Radikalisierung anti-ukrainischer Rhetorik in den Staatsmedien und durch Putin und seine Handlanger im Kreml beobachten. Neu sind die dabei bedienten Feindbilder aber keineswegs. Sie sind sogar sehr alt: Blickt man zurück in die Geschichte des Russischen Reichs des 19. Jahrhunderts, so gibt es erstaunliche Parallelen zur Gegenwart. Das multiethnische Zarenreich des 19. Jahrhunderts war davon geprägt, dass die Nationalbewegungen innerhalb der Reichsgrenzen erstarkten und in unterschiedlichem Maße den Staat herausforderten. Am widerständigsten waren zweifelsohne die Polen, die sich in zwei Aufständen (1830/31, 1863/4) gegen das Petersburger Imperium erhoben. Die größte ideologische Herausforderung war aber aus Sicht russischer Eliten das erstarkende nationale Bewusstsein der Ukrainer. Denn seit der Regentschaft des konservativen Zaren Nikolaus I. (1825–1855) galt  die geschichtspolitische Prämisse, dass Russen und Ukrainer eine Einheit bildeten.

Russische Unterdrückung des nationalen Bewusstseins der Ukrainer

Es ist also nicht so, dass die heute wieder aktuelle Vorstellung einer „Wiedervereinigung“ von Russland mit der Ukraine stets Merkmal russischer Politik gewesen wäre. Sie hat selbst eine Geschichte und ist eng verbunden mit dem Lehrbuch zur russischen Geschichte des Historikers Nikolaj Ustrjalov, in dem dieser das Konstrukt 1839 historisch herzuleiten versuchte. In dieser Interpretation russischer Geschichte gab es keine ukrainische Eigenständigkeit und aus diesem Grund war das wachsende Selbstbewusstsein der Ukrainer nicht nur eine Herausforderung für das Russische Reich, sondern auch für die russische Nation – und das obwohl es den Ukrainern im 19. Jahrhundert zunächst keineswegs um einen eigenen Staat ging, sondern um die Akzeptanz kultureller und sprachlicher Eigenständigkeit. Die Ukraine stellte (und stellt) die eigene Vorstellung russischer Identität in Frage und aus diesem Grund wurde (und wird) sie von russischen National-Imperialisten bekämpft.

Die Ukraine stellt die eigene Vorstellung russischer Identität in Frage.

Im Zarenreich manifestierte sich dieser Kampf in den Versuchen des Staates, Publikationen auf Ukrainisch (bzw. in der Sprache der Zeit in „kleinrussischer“ Sprache) zu verbieten. 1863 verfügte Innenminister Petr Valuev in einem Dekret, dass „eine separate kleinrussische Sprache nie existiert hat, nicht existiert und nicht existieren wird und dass ihre Sprache [die der „Kleinrussen“], die von Bürgern verwendet wird, nichts anderes als Russisch ist, das durch den Einfluss Polens korrumpiert wird“. Eine frappierende Parallele zu heute: Die ukrainische Sprache existiert nicht, aber wir verbieten sie, hieß es im 19. Jahrhundert, und heute heißt es aus Moskau, die Ukrainer gibt es nicht, aber sie sind „Faschisten“ und „Banditen“.

Vereinnahmung der ukrainischen Geschichte durch Russland

Die Politik der Unterdrückung führte im 19. Jahrhundert schließlich dazu, dass immer mehr die heutige Westukraine, und hier besonders Lwiw, zum Zentrum der ukrainischen Nationalbewegung wurde. Durch die liberalere Politik der Habsburger Monarchie konnte sich hier ein reges Publikationswesen entwickeln, und wie die anderen Nationalitäten des österreichischen Kaiserreichs konnten die Ukrainer sich ab 1848 auch politisch organisieren. Die heutige Ukraine war seit den Teilungen Polens durch Preußen, die Habsburger Monarchie und das Russische Reich am Ende des 18. Jahrhunderts zwischen dem Zarenreich und der Habsburger Monarchie aufgeteilt. Die Vereinnahmung der ukrainischen Geschichte durch Russland als Teil der eigenen Geschichte ist auch deswegen falsch, weil weite Teile der heutigen Ukraine erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Teil der Sowjetunion wurden und somit nur wenige Jahrzehnte lang von Moskau aus regiert.

Dämonisierung der Ukrainer

Aus der Zeit der Sowjetunion stammt auch das heutige anti-ukrainische Feindbild in Russland: die Behauptung, dass die Ukraine von „Faschisten“ regiert werde. Aber auch diese Dämonisierung der Ukrainer hat eine Vorgeschichte. Als 1917 das russische Zarenreich zusammenbrach, unternahmen ukrainische Politiker und Intellektuelle zum ersten Mal den Versuch, einen eigenen Staat zu gründen. Sowohl im Westen als auch im Osten wurde eine unabhängige Ukraine ausgerufen. Im Westen war es die Armee des wiedergegründeten unabhängigen Polens, die diese Träume beendete. In der Zentral- und Ostukraine waren es die aus dem russischen Bürgerkrieg siegreich hervorgegangenen Bolschewiki. Denn auch wenn sich Lenin das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ auf die Fahnen schrieb, so wurde doch in Bezug auf die Ukraine und andere nicht-russischen Gebiete des ehemaligen Russischen Reichs deutlich, dass den Kommunisten großrussische Ansprüche keineswegs fremd waren. Sie akzeptierten eine unabhängige Ukraine genauso wenig wie es ihre zarischen Vorgänger getan hätten.

Stalin nutzte eine künstlich herbeigeführte Hungersnot, um das Rückgrat der ukrainischen Nation zu brechen.

Einen Unterschied aber gab es: anders als die Eliten des Russischen Reiches erkannten die Bolschewiki mit der Gründung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik die Existenz einer ukrainischen Nationalität explizit an – auch wenn die eigentlichen Machthaber in Moskau saßen. Der Widerstand der Ukraine gegen die bolschewistische Machtübernahme brannte sich aber in das Gedächtnis führender Kommunisten ein. Auf grausame Weise relevant wurde dies im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durch das sowjetische Regime in den 1930er Jahren, die in der bäuerlichen Bevölkerung der Ukraine auf erheblichen Widerstand stieß. Stalin und seine Handlanger nutzen die künstlich herbeigeführte Hungersnot, um das Rückgrat der ukrainischen Nation endgültig zu brechen und ihre Unterordnung sicher zu stellen. Das war auch der Grund warum der so genannte „Holodomor“ von 1931/32 in der Ukraine mit Massenterror gegen ukrainische nationale Eliten, von Moskau dämonisiert als „Nationalisten“, einherging. Fast vier Millionen Todesopfer forderte dieses Menschheitsverbrechen in der Sowjetukraine.

Rolle der Ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg

Neue Nahrung erhielten diese sowjetischen Feindkonstruktionen dann im Zweiten Weltkrieg. Das hing auch damit zusammen, dass die Weltkriegserfahrungen in der heutigen Ukraine große Unterschiede aufwiesen: Die heutige Westukraine – damals Ostpolen – fiel unter die Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Pakts, als die beiden Diktatoren im August 1939 Ostmitteleuropa zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufteilten. Für die Menschen dort begann der Krieg also mit dem sowjetischen Einmarsch im Herbst 1939, für die Menschen in der Zentral- und Ostukraine mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die seit 1929 für einen unabhängigen ukrainischen Staat kämpfte, hoffte diese Vision durch eine Zusammenarbeit mit den Deutschen in die Tat umsetzen zu können – schnell stellte sich aber heraus, dass eine unabhängige Ukraine nicht im Interesse NS-Deutschlands lag. Trotzdem beteiligten sich manche Ukrainer und der militärische Arm der OUN, die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Die UPA war außerdem federführend bei den Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung in der Region Wolhynien in den Jahren 1943/44. Es war aber vor allem der Kampf der UPA gegen die Sowjetunion, der in den westlichen Regionen bis in die 1950er Jahre weiterging, die das Stereotyp des ukrainischen „Faschisten“ prägte.

Anti-ukrainischer Hass als fester Bestandteil der russischen Medienlandschaft

Eine Erneuerung dieser Rhetorik sieht man in Russland spätestens seit der „Revolution der Würde“ in Kyiv im Winter 2013/14. Die pluralistische zivilgesellschaftliche Bewegung, in der radikale Nationalisten eine Minderheit waren, und die vor allem für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie kämpfte, wurde in den russischen Staatsmedien als Veranstaltung von „Faschisten“ dämonisiert. Anti-ukrainischer Hass ist seitdem fester Bestandteil der russischen Medienlandschaft. Seit dem Krieg lässt sich eine weitere Radikalisierung beobachten: Inzwischen rufen Propagandisten ganz offen zum Genozid an der ukrainischen Bevölkerung auf. Die Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung – der Massenterror, die Misshandlungen, die Morde, die Vergewaltigungen –, die russische Soldaten heute begehen, sind nicht zuletzt das Ergebnis einer Feindbild-Konstruktion, die lange vor dem 24. Februar 2022 begann.

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