Nicht die Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur, sondern die gegenüber anderen Menschen gehört ins Zentrum der Natur- und Umweltethik. Denn welche Natur zu erhalten und zu entwickeln ist, hängt davon ab, welche natürliche Umwelt Menschen für ein gutes Leben benötigen.
„Anthropozän“ – mit diesem Begriff soll zumeist ausgedrückt werden, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem maßgeblich wir Menschen Veränderungen der Biosphäre hervorrufen. Fraglich ist, ob „Anthropozän“ als naturwissenschaftlicher Begriff definierbar ist. Sicher hingegen ist, dass der Begriff einflussreich geworden ist als ein sog. dichter Begriff, der deskriptive mit normativen Bedeutungsinhalten verbindet und auf ein dringend zu lösendes Problem hinweisen soll.
Im Anthropozän-Diskurs wird weitgehend übereinstimmend diagnostiziert, dass die Menschen durch ihre Veränderungen der Biosphäre eine ökologische Katastrophe verursachen und so ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Als Problemursache wird zumeist ein falsches Mensch-Natur-Verhältnis, als Problemlösung ein fundamentaler Wandel dieses Verhältnisses angesehen. Problemdiagnose und Therapieansatz ähneln also denen der Ökologiebewegung des letzten Jahrhunderts. Darüber, wie das neuartige Mensch-Natur-Verhältnis beschaffen sein müsse, herrscht im Anthropozän-Diskurs jedoch – wie damals in der Ökologiebewegung – Uneinigkeit.
Im Folgenden werden fünf verbreitete Visionen eines neuen Mensch-Natur-Verhältnisses vorgestellt und anschließend auf ihre Begründbarkeit hin befragt. Es wird sich zeigen, dass alle fünf Visionen mit grundsätzlichen Begründungsproblemen verbunden sind. Deshalb wird im zweiten Teil ein Perspektivenwechsel vorgenommen und ein neues Begründungsprinzip der Umwelt- und Naturethik vorgeschlagen.
Fünf Visionen eines neuen Mensch-Natur-Verhältnisses
- Naturbeherrschung durch Technik: Den einen Extrempol bildet eine technikoptimistische, post-naturalistische Vision, der zufolge sich die Umweltprobleme nur lösen lassen durch verfeinerte vollständige Naturbeherrschung, die die bisherige Natur durch ein vom Menschen geschaffenes und insofern künstliches Wirkungsgefüge ersetzt.
- Die Biosphäre wieder der Natur überlassen: Den anderen Extrempol bildet die technophobe und kulturpessimistische, aber ökooptimistische und naturalistische Vision, der zufolge menschliche Veränderungen der Biosphäre immer zerstörerisch sind und sich die Umweltprobleme nur lösen lassen, indem die Menschen die Entwicklung der Biosphäre wieder der Natur überlassen. Dazu müsse sich auf mindestens der Hälfte der Erde wieder die ursprüngliche natürliche Wildnis des Holozäns ausbilden können.
Zwischen diesen Extremen lassen sich zumindest drei weitere Visionen identifizieren.
- Einordnung in das symbiotische Prinzip der Natur: Die dritte Vision stellt die Unterscheidung von Natur und Technik/Kultur grundsätzlich infrage und sieht in ihr die wesentliche Ursache der Naturzerstörung und Umweltprobleme. Die Menschen müssten sich im Sinne eines symbiotischen Naturalismus wieder als Teil der Natur begreifen und sich – mitgestaltend – wieder in diese einordnen, indem sie ihrem Handeln das symbiotische Prinzip der Natur zugrunde legten.
- Schaffung einer neuartigen gezüchteten Welt: Diese bio-futuristische Vision zielt ebenfalls auf eine Aufhebung jener Unterscheidung, aber nicht durch Wiedereinordnung des Menschen in die Natur, sondern indem die Menschen – mittels des natürlichen Prinzips der Bioadaptation – eine neuartige gezüchtete Welt erschaffen, in der die Natur von Menschen gemacht ist.
- Progressiv gärtnernde Kultivierung der Biosphäre: Diese Vision hält eine Wiederherstellung der ursprünglichen natürlichen Ökosysteme weder für möglich noch für erforderlich. Permanente Veränderung sei – ganz unabhängig von menschlichen Einflüssen – ein wesentliches Prinzip der Natur, sodass auch sog. neuartige Ökosysteme, deren Zusammensetzung und Organisationsweise wesentlich durch anthropogene Umweltbedingungen bestimmt sei, langfristig funktionieren und Ökosystemleistungen für Menschen erbringen könnten. Dazu müsse allerdings der Natur Selbstorganisation möglich sein. In diesem Sinne müssten die Menschen die Biosphäre ›gärtnernd‹ kultivieren.
Begründungsprobleme einer Lösung durch Technik oder Züchtung
Alle 5 Visionen sind mit grundsätzlichen Begründungsproblemen verbunden. Die Visionen 1 und 4 (Naturbeherrschung durch Technik und Züchtung einer neuartigen Natur-Welt) sind mit extremen Risiken verbunden, weil die Konsequenzen der angestrebten technologischen Veränderungen der Biosphäre in großen Teilen nicht prognostizierbar sind. Diese Risiken einzugehen, wäre nur in einer Notlage ohne alternative Lösungsmöglichkeiten zu rechtfertigen, die jedoch nicht vorliegt, weil z.B. der Klimawandel sich, statt risikoreich durch Geo-Engineering, auch risikoarm durch eine Kombination von Nutzung erneuerbarer Energien, Effizienzsteigerung und Suffizienz begrenzen ließe. Zudem sind für viele aktuelle Umweltprobleme wie Bodenerosion und Biodiversitätsverlust keine technologischen Lösungswege bekannt. Ferner lassen beide Visionen die wichtigen nicht-instrumentellen Werte, die Natur für viele Menschen aufgrund ästhetischer Qualitäten und symbolischer Bedeutungen hat, unberücksichtigt.
Begründungsprobleme einer Lösung durch „Rückkehr zur Natur“
Vision 2 (Die Biosphäre wieder der Natur überlassen) setzt eine organizistische Naturauffassung voraus, der zufolge die Biosphäre aus Ökosystemen besteht, deren Komponenten – als Ergebnis eines jahrtausendelangen evolutionären Prozesses – in ihren Eigenschaften aufeinander abgestimmt sind und zusammen eine funktionale organismenähnlich organisierte Ganzheit bilden, die sich selbst reguliert und erhält (wie es individuelle Organismus durch das Wechselspiel ihrer Organe tun). Denn nur unter dieser Voraussetzung kann man menschliche Veränderungen der Natur per se als zerstörerisch ansehen. Organizistische Naturauffassungen waren in der Naturwissenschaft Ökologie zwar bis in die 1980er Jahre hinein weit verbreitet, gelten dort jedoch seit Jahrzehnten als widerlegt. Stattdessen werden Ökosysteme üblicherweise als Systeme begriffen, deren Komponenten zwar auf komplexe Weise miteinander interagieren, aber keine funktional geschlossenen, sondern offene Gemeinschaften bilden, die sich in Raum und Zeit ständig verändern. Auch die symbiotische Naturauffassung der Vision 3 (Einordnung in das symbiotische Prinzip der Natur) ist wissenschaftlich nicht haltbar. Beispielsweise sind natürliche Wälder, anders als es populäre Publikationen behaupten, keine solidarischen Gemeinschaften, sondern vor allem durch inner- und zwischenartliche Konkurrenz bestimmt.
Begründungsprobleme einer Lösung durch gärtnernde Kultivierung der Biosphäre
Nur Vision 5 (Progressiv gärtnernde Kultivierung der Biosphäre) liegt eine Naturauffassung zugrunde, die durch den aktuellen Stand ökologischer Forschung gestützt ist. Dennoch ist auch diese Vision mit Begründungsproblemen verbunden. Denn weder aus historischen, vormenschlichen Zuständen von Natur bzw. Ökosystemen noch aus der natürlichen Organisationsweise von Natur bzw. Ökosystemen lässt sich ableiten, welche Naturphänomene bzw. Ökosysteme an welcher Stelle der Biosphäre zu welcher Zeit existieren sollen – und welche anderen, ebenfalls möglichen Naturphänomene bzw. Ökosysteme somit dort und dann nicht existieren sollen. Möglich wäre eine solche Ableitung nur dann, wenn alle Naturphänomene bzw. Ökosysteme natürlicherweise wie individuelle Organismen organisiert wären und ein Überleben der Menschheit ohne deren Erhaltung nicht dauerhaft möglich wäre, sodass deren Erhaltung für Menschen – im Sinne einer anthropozentrische Klugheitsethik – der einzig vernünftige Umgang mit Natur wäre. Die dieser Argumentation zugrunde liegende organizistische Naturauffassung ist aber, wie dargelegt, nicht wissenschaftlich fundiert.
Welche Natur soll – eventuell auf Kosten welcher anderen – erhalten werden?
Auch mittels physiozentrischer absoluter Selbstwerte ist die erforderliche Ableitung nicht möglich. Denn Naturphänomenen absoluten Selbstwert zuzuschreiben setzt voraus, dass sie an sich, als beobachterunabhängige Einheiten der Natur existieren, wozu sie ein inneres Prinzip der Einheit besitzen müssten. Ein solches weisen jedoch nur individuelle Organismen auf, nicht hingegen abiotische Naturphänomene und Ökosysteme, weil diese, wie dargelegt, nicht organismenähnlich organisiert sind. Und selbst dann, wenn man einer bio- oder pathozentrischen ethischen Berücksichtigung aller (leidensfähigen) Lebewesen zustimmen würde, ließe sich nicht ableiten, welche existierenden Lebewesen – eventuell auf Kosten welcher anderen Lebewesen – erhalten werden und künftig existieren können sollen.
Das Mensch-Mensch-Verhältnis zum Ausgangspunkt machen
Diese Begründungsprobleme zeigen an, dass ein Perspektivwechsel erforderlich ist. Der einzige Lösungsweg für die gravierenden Umweltprobleme, der meines Erachtens in einer pluralen liberalen Demokratie begründeten Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben kann, liegt in einer Umwelt- und Naturethik, die nicht vom Mensch-Natur-Verhältnis ausgeht, sondern vom Mensch-Mensch-Verhältnis. Ihr Grundprinzip sind Verpflichtungen von Menschen gegenüber anderen Menschen hinsichtlich der Auswirkungen des eigenen Handelns auf die natürliche Umwelt anderer Menschen, also – mit Kant gesprochen – Pflichten in Ansehung von Natur im Gegensatz zu Pflichten gegenüber Natur oder Verantwortung für Natur.
Welche Natur konkret zu erhalten und zu entwickeln ist, ergibt sich dann daraus, welche natürliche Umwelt andere Menschen nicht nur zum Überleben, sondern auch für ein gutes Leben benötigen und wünschen. Auf diese Weise lassen sich, so meine ergänzende These, alle Ziele bezüglich der Erhaltung von Naturphänomenen, die vermeintlich eine physiozentrische Ethik erfordern, anthropozentrisch begründen.
Das neue Zentrum der Umwelt- und Naturethik
Ins Zentrum der Umwelt- und Naturethik rücken damit zwischenmenschliche Macht- und Herrschaftsbeziehungen und die Forderung, sog. Umweltungerechtigkeiten und sog. Externalisierung von Umweltkosten konsequent zu beseitigen. Nicht die Etablierung eines neuartigen Mensch-Natur-Verhältnisses führt zur Lösung der Umwelt- und Klimakrisen, sondern die Durchsetzung eines neuartigen Mensch-Mensch-Verhältnis.
Ins Zentrum der Umwelt- und Naturethik rücken zwischenmenschliche Herrschaftsbeziehungen.
Dieser Perspektivwechsel ist nicht erst durch das Anthropozän erforderlich geworden, aber in diesem wesentlich dringlicher als im Holozän, weil immer mehr Menschen die natürliche Umwelt von immer mehr anderen Menschen immer stärker verändern. Am deutlichsten zeigt dies der anthropogene Klimawandel, unter dem vor allem Menschen leiden, die ihn gar nicht oder nur geringfügig mit verursacht haben. Diesbezüglich ist der Anthropozän-Begriff politisch und sozial unterbestimmt und zu undifferenziert, weil er „den Menschen“ oder „die Menschheit“ als Treiber der Erdgeschichte einsetzt und nicht bestimmte Gesellschaften, gesellschaftliche Gruppen und menschliche Individuen.