Solidarität – die „Nächstenliebe von heute“? Biblisches Gebot und philosophische Ethik

Als biblische Weisung wendet sich das Gebot der Nächstenliebe an Juden und Christen. Die hohe Übereinstimmung mit Grundsätzen und Werten der philosophischen Ethik macht es aber auch für jeden anderen Menschen plausibel, sich an diese Weisung zu halten.

Das Gebot der Nächstenliebe ist in der jüdischen Tradition verwurzelt. Es geht zurück auf Lev 19,18 und prägt das Streitgespräch in Mk 12,28-34 par. In den neutestamentlichen Zeugnissen über Worte und Wirken Jesu Christi erreicht nur noch die Gottesliebe vergleichbare und zugleich übergeordnete Priorität. Die bei den Synoptikern überlieferte Fassung des Nächstenliebe-Gebots muss in Verbindung mit Joh 13,34-35 gelesen werden: Aufgrund der Weisung und des Lebensbeispiels Jesu bedeutet Nächstenliebe nicht nur die gleiche Liebe für den Nächsten wie für sich selbst. Sie stellt eine Liebe dar, die sich am Maß der Liebe Jesu orientiert. Gerade darin steckt der Paradigmenwechsel, denn erstmals wird ein personaler Bezugspunkt zum Kriterium erhoben, nämlich die Person Jesus Christus. Ethische Einsicht im Neuen Testament kann einem Verdichtungsprozess (von der schriftbezogenen Normativität zur personenorientierten Norm) unterworfen sein.

Universalisierbare Aspekte

In der Auseinandersetzung mit der philosophischen Ethik stellt sich beim Gebot der Nächstenliebe vor allem die Frage, ob sich darin auch universalisierbare Aspekte entdecken lassen, durch die sich diese moralische Weisung über die christliche und jüdische Glaubensgemeinschaft hinaus als allgemein plausibel und vernünftig erweist. Indem die Bibel das Gebot der Nächstenliebe auf das Gebot der Gottesliebe stützt und im Neuen Testament an der Person Jesu orientiert, stellt sie es ja in einen Sinnhorizont, der vom Glauben an Gott und an Jesus Christus als seinen menschgewordenen Sohn abhängig ist. Universalisierbare Aspekte, wie sie in den folgenden Abschnitten untersucht werden, können hingegen einen rationalen Zugang zu einzelnen Elementen des Prinzips der Nächstenliebe ermöglichen, der allen Menschen unabhängig von ihrer religiösen Prägung zugänglich ist.

1. Perspektivenübernahme

Die Perspektivenübernahme, die in der Formulierung „… wie dich selbst“ aufscheint, ist insofern ein Anknüpfungspunkt für eine rationale Begründung der Nächstenliebe, als damit verlangt wird, aus Achtung und Respekt vor den anderen Menschen deren Blickwinkel nicht zu vernachlässigen. Die Perspektive des Gegenübers zu berücksichtigen und sich in dessen Situation hineinzuversetzen, ist auch in der gegenwärtigen ethischen Diskussion ein hohes Gut, das beispielsweise bis hin zur Position des neutralen Beobachters ausdifferenziert wird. Dadurch wird eine gewisse Unparteilichkeit erreicht, denn jede Person bzw. ihre essentiellen Interessen werden so berücksichtigt, erhalten gleich viel Gewicht und fließen ein in den Versuch gegenseitiger Rechtfertigung. Dies zeigt, dass sich das Gebot der Nächstenliebe durchaus konsistent in eine Urteilsbildung aus philosophisch-ethischen Prinzipien einfügen kann.

2. „Erste-Person-Perspektive“ und „Selbstverhältnis“

Neben der Perspektivenübernahme enthält die Formulierung „… wie dich selbst“ aber noch einen zweiten Aspekt, der das Gebot der Nächstenliebe rein aus Vernunftgründen plausibel macht, nämlich die „Erste-Person-Perspektive“. „Erste-Person-Perspektive“ meint, dass der Mensch als das Ich-Subjekt (d.h. als die erste Person Singular) Erfahrungen macht und interpretiert – als Ich-Subjekt, das handelt, entscheidet und leidet. Niemand anderer kann das Leben eines Menschen leben und erleben wie dieser Mensch selbst. Damit verbunden kennt der Mensch ein „Selbstverhältnis“. Dies bedeutet, dass Menschen dazu fähig sind, sich zu sich selbst zu verhalten.

Indem der Mensch in der „Erste-Person-Perspektive“ und dem damit verbundenen „Selbstverhältnis“ die Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch sieht, anerkennt er auch den anderen Menschen – ›wie sich selbst‹ –, ohne etwas Anderes dafür vorauszusetzen. Daraus erwächst die Verpflichtung, jedem anderen den gleichen Schutz wie sich selbst zukommen zu lassen, was der Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden nahekommt. Als moralische Gemeinschaft entscheiden sich die Menschen für den Schutz der Menschenrechte und der essentiellen Elemente und Bereiche, die der Mensch braucht, um zu überleben und um als Mensch zu leben.

3. Solidarität

Nächstenliebe lässt sich auch als eine vernünftige und plausible Weisung begründen, wenn man sie in Beziehung zum modernen Wert der Solidarität setzt. Die gesollte Solidarität geht auf die Idee der Gleichheit aller Menschen zurück. Dem Respekt für diese Gleichheit entspricht solidarisches Entscheiden und Handeln. Diese Form des sozialen Altruismus als Alternative zum Egoismus übt bis in die Gegenwart eine hohe ethische Faszination aus. Ebenso wie die Nächstenliebe ist auch die Solidarität für die Beziehungen des Individuums zu seinen einzelnen Mitmenschen sowie zur Gemeinschaft aller Menschen von hoher Orientierungswirkung und inspirierend für das Zusammenleben zwischen Menschen. Diese Nähe belegt, dass das Gebot der Nächstenliebe mit gegenwärtigen philosophisch-ethischen Werten und Zielen durchaus kompatibel ist.

4. Konstituierender Charakter

Schließlich ist die konstituierende Funktion, die das Gebot der Nächstenliebe für alle anderen Gebote erfüllt, ein weiterer Aspekt, der den rationalen Kern des Gebotes der Nächstenliebe freilegt. Denn diese konstituierende Funktion kennt eine Entsprechung im grundlegenden Charakter der Achtung und des Respekts aller anderen Menschen für alle weiteren ethischen Prinzipien. Weil das Menschsein keinem Menschen mit guten Gründen verneint werden kann, bildet die Achtung als gleichberechtigtes autonomes Mitglied der Menschengemeinschaft die Basis für Menschenrechte. Analog bildet das Gebot der Nächstenliebe die Basis für die christliche Ethik insgesamt.

Das Gebot der Nächstenliebe erweist sich somit nicht nur als Referenzgröße und Inspirationsquelle von Relevanz für die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gegenwart, sondern eröffnet auch rationale und plausible Perspektiven für die philosophische Ethik. Seinen Nächsten zu lieben, ist nicht nur biblisch geboten, sondern auch moralisch vernünftig.

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