„Bowling alone“? Solidarität in einer individualistischen Gesellschaft

Selbstverwirklichung ist nicht nur für jungen Menschen eine beherrschende Zielvorstellung. Das Ideal hat aber auch eine Kehrseite, nämlich die zunehmende Fragmentierung unserer Gesellschaft. Unser Autor analysiert deren Ursachen und prognostiziert eine Neuorientierung am Gemeinwohl.

Viele Menschen haben gerade in der gegenwärtigen Corona-Krise den Eindruck: Unsere Gesellschaft hat große Potentiale der Solidarität. Zumindest in öffentlichen Appellen ist in diesen Tagen der Corona Krise viel von Solidarität die Rede. Doch sind wir durch solche Appelle schon alle miteinander unterwegs? Zugleich gibt es den gegenteiligen Eindruck: Sind wir nicht in einer Gesellschaft der Individualisten, die ihrer persönlichen Selbstverwirklichung nachgehen? Drohen nicht immer mehr Menschen aus den sozialen Netzen herauszufallen, werden diese nicht immer grobmaschiger?

In gewisser Weise gilt tatsächlich beides, es gibt für beide Urteile Beispiele. Doch die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte zielt klar in eine Richtung, in die einer immer stärkeren Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft. Die Ressourcen sozialer Verbundenheit schwinden dadurch kontinuierlich. Dabei konnte jahrhundertelang die Individualisierung mit Emanzipation gleichgesetzt werden. In der europäischen Moderne hat die Betonung der freien Entfaltung eines jeden Menschen zu großen gesellschaftlichen Errungenschaften geführt. Die Freiheit ist eine der drei zentralen Werte der Französischen Revolution. Doch in den letzten Jahrzehnten hat die Entwicklung eine entscheidende Wende genommen.

Individualisierung und der Verlust sozialer Verbundenheit

Soziologen unterscheiden zwischen der Moderne und der Spätmoderne. Was kennzeichnet unsere Zeit, die Spätmoderne? In ihr sind vor allem zwei zentrale Vorstellungen einflussreich: Erstens wird der Mensch vor allem als Individuum gesehen, das sich aus sich selbst entfaltet, das sich selbst verwirklicht. Alles, was seine Selbstverwirklichung befördert, ist gut, alles andere dagegen, was sie einschränkt, ist schlecht. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt dies als Prozess der Singularisierung. Zweitens wird die Gesellschaft auf die gegenwärtigen Verhältnisse, auf die Steuerung von Systemen, vor allem des Marktes reduziert. An die Vergangenheit kann man sich erinnern, aber sie spielt in der Gegenwart eine untergeordnete Rolle. Auch die Zukunft wird abgewertet. Starke Bilder von einer besseren Zukunft haben wir verloren. Zukunft ist eher die Fortschreibung der Gegenwart mit den Mitteln von Prognosen, die meist negativ sind.

Durch diese Einstellung geht der Sinn von sozialer Verbundenheit verloren, einerseits von Verbundenheit der Menschen untereinander und andererseits von Verbundenheit durch die Zeit hindurch, in Richtung auf Vergangenheit aber auch in Richtung auf Zukunft. Nun ist aber jede Solidarität ein Ausdruck von sozialer Verbundenheit. Und jede Vorstellung einer besseren Zukunft lebt von der Hoffnung, dass man in und durch die Geschichte gesellschaftliche Verbesserungen erreichen kann. Es ist gerade der dritte Wert der Französischen Revolution, die Solidarität, der heute zu kurz kommt!

Neoliberalismus als treibender Motor der „Singularität“

Was hat die Entwicklung zu der individualistischen Spätmoderne befördert? Zuerst ist der wirtschaftspolitische Wandel zum Neoliberalismus zu nennen. Maßgebliche Verfechter dieses Wandels waren in den 80er Jahren Ronald Reagan und Margret Thatcher. Doch sie allein hätten keine langfristigen Wirkungen gehabt, wenn nicht ihre Nachfolger im Amt der eingeschlagenen Richtung gefolgt wären, also Politiker wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder. Die Globalisierung nahm in den 90er Jahren Fahrt auf, Finanzmärkte wurden geöffnet und alle Arten von Handelsbeschränkungen abgebaut. Der Neoliberalismus erhebt normative Ansprüche an die Menschen. Die ideale Mitarbeiterin, der ideale Mitarbeiter ist ein gut ausgebildetes, vielsprachiges und flexibles Individuum, jederzeit bereit, den Arbeitsort zu wechseln.

Das allzeit mobile und leistungswillige Individuum

Die Leitideen des Neoliberalismus haben erhebliche gesellschaftliche Folgen. Große soziale Organisationen sind hier grundsätzlich verdächtig, sie verzerren im Zweifel die Märkte. Der Soziologe Robert Putnam hat im Jahr 2000 die US-amerikanische Gesellschaft analysiert und dies in dem Buch Bowling alone veröffentlicht. Seine Diagnose: Seit den 80er Jahren nehmen Intensität und Umfang von Vereinsleben in den USA massiv ab. Die so geprägte Gesellschaft kann auch meritokratisch genannt werden: Ansehen und soziale Stellung ermessen sich danach, was jemand zu leisten in der Lage ist. Der amerikanische Philosoph Michael Sandel hat dieser Gesellschaft mit guten Gründen vorgeworfen, die Orientierung an dem Gemeinwohl zu vergessen und gerade dadurch die Wahl von Trump befördert zu haben.

Donald Trump – ein Symptom, die lange Spur der 68er und die Selfie-Kultur

Doch die neoliberale Wende in der Wirtschaft, so bedeutend sie ist, kann nicht allein die Macht des herrschenden Zeitgeistes in der Spätmoderne erklären. Andere, kulturelle und technische Faktoren kommen hinzu. So etwa der Authentizitätsgedanke der 68er Bewegung. Er verstärkt die Wertschätzung des sich selbst verwirklichenden Individuums. Die Haltung war in den 60er Jahren ein emanzipatorischer Fortschritt gegen die verknöcherten und autoritären Strukturen der Nachkriegszeit. Doch ist die Geschichte oft dialektisch: Das, was damals Emanzipation war, wurde dann im weiteren Verlauf zu einer Verstärkung neoliberaler Grundgedanken, des sich in selbstständiger Produktion verwirklichenden Individuums. Die Soziologen Luc Boltanski und Richard Sennett haben den Zusammenhang eindrucksvoll dargestellt.

Digitale Technologien können Problemverstärker wie auch Teil einer Gegenbewegung sein.

Ein weiterer Faktor ist die Entwicklung der digitalen Technologien. Sie bieten eine technologische Basis für weitere Prozesse der Individualisierung, plakativ oft als Selfie-Kultur beschrieben. Es ist allerdings zu vermuten, dass die digitalen Technologien nicht nur ein Problemverstärker sind, sondern auch Teil einer Gegenbewegung sein können, da sie zugleich auch Gemeinschaft und solidarische Strukturen stützen. Das zeigt sich schon jetzt in vielen neuen Formen von Gemeinschaft und Solidarität.

Verbundenheit als Essenz menschlicher Existenz

Was aber ist, wenn die geschilderten Annahmen von falschen Voraussetzungen ausgehen, wenn soziale Verbundenheit für uns Menschen fundamentaler ist als die Fähigkeit zur Individualisierung? Tatsächlich verzerrt der herrschende Zeitgeist die menschlichen Verhältnisse. Denn Menschen sind nach der Analyse des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty leibliche Wesen, die in vielfältiger Verbundenheit untereinander und mit der sie umgebenden Umwelt leben. Wer leiblich existiert, ist mit der Geburt immer schon verbunden, einerseits auf vielfältige Weise mit der Umwelt, angewiesen auf Luft, auf Nahrung und Wärme, andererseits mit anderen Menschen in vielfältigen sozialen Beziehungen in Sprache und Kultur.

Das In-dividuum ist kein un-teilbares Ganzes

Was konstituiert die Identität eines Individuums? Es ist eben nicht eine innere Größe, die tief im Innern verborgen liegt und die sich im Leben entfaltet. Diese innere Größe kann nirgendwo lokalisiert werden, auch nicht durch die Neurowissenschaften. Vielmehr ist die Identität eines Menschen bestimmt durch eine unglaubliche Vielzahl von sozialen Verbindungen, Kontakten zu anderen Menschen. Die Identität ist in gewisser Weise außen, in der vielfältigen sozialen Verbundenheit zu suchen. Michael Sandel fragt zu Recht: Ist es die Leistung der erfolgreichen Individuen, die sie zum Ziel bringt, oder nicht auch gerade die Leistungen der Eltern, Lehrer, Freunde?

Besonders deutlich wird diese soziale Verbundenheit in der Sprache. Die Sprachfähigkeit erlangt kein Mensch aus sich selbst heraus. Sprache ist ein genuin soziales Geschehen, andere nehmen einen in die Welt der Sprache hinein. Nur mit Hilfe der Sprache kann man auch nein sagen, sich abzugrenzen. Das Soziale geht dem Individuum voraus.

Es muss eine Korrektur der hoch individualisierten Gesellschaft geben.

„Rückkehr“ der verbindenden Kollektive?

So muss es und wird es über kurz oder lang eine Korrektur der hoch individualisierten Gesellschaft geben. Es braucht stabile gesellschaftliche Formen der Verbundenheit. Diese waren in der jüngeren Vergangenheit repräsentiert durch große Organisationen, durch Gewerkschaften, durch Volksparteien, durch die Kirchen, aber auch durch ein vielfältiges Vereinsleben. In all diesen Organisationen und Institutionen muss man nicht jeden Tag die Verbundenheit neu herstellen, sie prägen die Lebenswelt und das Miteinander. All diese Formen der Verbundenheit haben aber unter dem Einfluss des individualistischen Zeitgeistes an Kraft verloren.

Technologische Entwicklung fördert Netzwerke

Wie geht es weiter? Vieles ist im Fluss, die künftige Entwicklung lässt sich nur schwer vorhersehen. Es kommt aber darauf an, solidarische Strukturen der Gesellschaft zu erhalten und auszubauen. Dazu können auch die schon bestehenden Strukturen von Ortsvereinen in Parteien oder von Gemeinden in den Kirchen eine Ausgangsbasis bieten. Sie können die Kenntnisse vor Ort und die alltägliche Lebenswelt mit übergeordneten gesellschaftlichen Fragen verbinden. Die Kommunen werden künftig wichtiger werden. Digitale Technologien werden diesen Wandel befördern. Sie helfen, gesellschaftliche Organisationen zu Netzwerken im lokalen und digitalen Raum auszubauen, so dass sie neu zu einer Basis für soziale Verbundenheit und Solidarität werden.

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Frank Vogelsang: Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne. Alber Verlag 2020.

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