Erinnerung ist ein kreativer Prozess, in dem Vergangenes nicht einfach reproduziert, sondern neu geschaffen wird. Die Erinnerungsforschung zeigt, wie erschreckend einfach es ist, uns Erinnerungen zu suggerieren. Dann sind wir fest überzeugt, Dinge erlebt zu haben, die tatsächlich nie passiert sind.
Sie beschäftigen sich mit falschen Erinnerungen und ihren Folgen. Auf welchen Feldern ist dies relevant?
Aileen Oeberst: Insbesondere im juristischen Kontext – wo es beispielsweise um die Frage geht, ob die Aussage eines Zeugen oder einer Zeugin auf tatsächlichem Erleben basiert – oder eben ggf. auch auf einer suggerierten falschen Erinnerung.
Worauf legen Sie in Ihrer Forschung den Schwerpunkt?
A.O.: Wir erforschen aktuell vor allem, inwiefern es möglich ist, falsche Erinnerungen wieder rückgängig zu machen, inwiefern sich falsche Erinnerungen von wahren unterscheiden (Spoiler: das tun sie nicht wirklich!) und welche Möglichkeiten es gibt, falsche Erinnerungen als solche zu identifizieren.
Es geht dabei um problematische Erinnerungen, die für Betroffene fatale Folgen haben können. Können Sie hier konkrete Beispiele nennen?
A.O.: „Problematisch“ ist an falschen Erinnerungen vor allem, dass sie falsch sind. Wenn jemand fälschlicherweise zu der Überzeugung gelangt, von den eigenen Eltern beispielsweise misshandelt und missbraucht worden zu sein, wird diese Person nicht nur ihre ganze Kindheit in einem anderen Licht sehen, sondern natürlich auch die Eltern als Täter:innen – sodass es beispielsweise zum Bruch mit der Familie und zu sozialer Isolation kommen kann. Wenn dies aber auf Basis einer falschen Überzeugung und falschen Erinnerung erfolgt, dann ist das tragisch und vor allem: vermeidbar.
Da geht es um die Erinnerung. Sie sagen, dass es dabei nicht um bewusste Lügen geht, sondern um den unbewussten Umgang mit dem, was den Menschen ins Gedächtnis kommt.
A.O.: Nein, ich sage nicht, dass es um den unbewussten Umgang mit Gedächtnisinhalten geht. Es gibt auch sehr bewusste Prozesse, die da mit hineinspielen, wie beispielsweise die Entscheidung, den eigenen Erinnerungen nicht zu trauen. Oder auch die Entscheidung, den eigenen fehlenden Erinnerungen an ein Trauma z.B. nicht zu trauen – und somit nach vermeintlich verdrängten Kindheitsereignissen zu suchen.
Aber Lügen sind auf jeden Fall qualitativ noch etwas ganz anderes. Denn dabei weiß die Person ja selbst sehr genau, dass es nicht so war, wie sie sagt. Bei falschen Erinnerungen sind die Personen subjektiv davon überzeugt, dass sie der Wahrheit entsprechen.
Viele meinen, dass das Gedächtnis wie eine Kamera funktioniert. Wie funktioniert das Gedächtnis nach Ihrer Erkenntnis?
A.O.: Keinesfalls können wir einfach den „Film zurückspulen“ und wieder ablaufen lassen. Sonst müssten Sie mir auf Anhieb sagen können, was Sie am 1.10.2022 abends gemacht haben. Sich erinnern ist keine Reproduktion, sondern eine aktive Rekonstruktion. Dabei rufen wir ab, was im Gedächtnis vorhanden ist, aber wir füllen auch Lücken, wir rationalisieren, wir verzerren Dinge, wir verwechseln Quellen und vieles mehr.
Es gibt die Vorstellung, dass traumatische Ereignisse verdrängt werden. Wie ist Ihre Ansicht dazu?
A.O.: Ja, die Vorstellung ist sehr verbreitet. Wissenschaftlich gestützt wird sie aber nicht. Im Gegenteil: Wir erinnern uns besonders gut an Ereignisse, die für uns selbst bedeutsam sind, die emotional sind, vielleicht sogar überlebenswichtig, und die sich abheben von anderen Erlebnissen. Und so zeigen Studien mit Menschen, die Traumatisches erlebt haben, auch eher, dass die Betroffenen darunter leiden, die Bilder oder auch Eindrücke nicht mehr loszuwerden.
Sie haben an Studien zu falschen Erinnerungen gearbeitet? Können Sie zentrale Erkenntnisse beschreiben?
A.O.: Es ist erschreckend einfach, Menschen zu suggerieren, sie hätten etwas erlebt, das tatsächlich nicht stattgefunden hat. In unserer Studie mit unauffälligen, gesunden Erwachsenen haben – je nach Versuchsbedingung – bis zu 56% falsche Erinnerungen entwickelt. Über nur drei Interviews hinweg. Da die Laborforschung hier notwendiger- und richtigerweise ethischen Beschränkungen unterliegt, handelt es sich dabei nicht um traumatische Ereignisse, aber die Forschung wird ergänzt durch systematische Feldstudien mit Personen, die davon mittlerweile überzeugt sind, dass ihnen falsche traumatische Ereignisse suggeriert wurden.
Was können Sie empfehlen zum Umgang mit Erinnerungen in problematischen Zusammenhängen?
A.O.: Wenn Sie oder Ihr Gegenüber keine Erinnerung an ein traumatisches Ereignis (aus der Kindheit) haben, dann vertrauen Sie darauf. Und suchen Sie keinesfalls nach verdrängten oder auch „dissoziierten“ Erinnerungen, weder bei sich, noch bei anderen. Sonst besteht ernsthaft die Gefahr, falsche zu entwickeln oder zu erzeugen.
Wenn Sie etwas Traumatisches in Ihrer Kindheit erlebt haben, und sich immer schon daran erinnern können, dann vertrauen Sie aber auch darauf.
Sie sagen, dass falsche Erinnerungen rückgängig gemacht und überschrieben werden können. Wie kann das funktionieren?
A.O.: Nein, nicht überschrieben. Das würde ich keinesfalls sagen. Weil unser Gedächtnis ja nicht wie eine Kamera oder ein Film funktioniert. Vielmehr können Menschen lernen, falsche Erinnerungen als solche zu identifizieren. Beispielsweise, indem sie sich die Quellen ihrer Erinnerung sorgfältig anschauen und prüfen, ob diese wirklich ihrer eigenen Erfahrung entspringen – oder doch z.B. eher einer Geschichte, die immer erzählt wird oder einem Foto oder eben einem Interview. Gleichzeitig hilft es auch, sich bewusst zu machen, dass es falsche Erinnerungen überhaupt gibt – vielfach haben Menschen schon auch Zweifel an den ihnen suggerierten Ereignissen.
Können Sie einen konkreten Fall schildern, bei dem dies gelungen ist?
A.O.: In unserer Studie ist uns das bei über der Hälfte der Versuchspersonen, die eine falsche Erinnerung entwickelt haben, gelungen. Der SPIEGEL hat 2023 (Nr. 11) einen konkreten Fall nachgezeichnet, in welchem einer jungen Frau falsche Erinnerungen an traumatische Ereignisse in einem Satanskult im Rahmen von Therapiesitzungen eingeredet wurden, die sie zunächst auch erst selbst geglaubt hat.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal gesagt, dass die wichtigste Leistung des Gedächtnisses das Vergessen ist. Falls dies nicht geschieht, kann es dann zu Störungen kommen?
A.O.: Auf jeden Fall. Ein Kernsymptom der Posttraumatischen Belastungsstörung sind sogenannte Intrusionen – also unwillkürliche und ungewollte Erinnerungen an das traumatische Ereignis: Die Personen leiden darunter, die Bilder nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen, nicht mehr schlafen zu können und immer wieder überschwemmt zu werden von dem Gefühl der Ohnmacht, das jedem Trauma innewohnt.
Das Interview führte Rainer Lang auf schriftlichem Weg.