Erinnerung hat in Deutschland einen besonderen Stellenwert, vor allem im Blick auf die Geschichte der Juden in Deutschland und den schrecklichen Holocaust. Auch an unscheinbaren Orten halten Gedenkstätten die Erinnerung wach, damit diese nicht verblasst und solches nicht wieder geschieht.
Das zentrale Mahnmal zur Erinnerung an das unvorstellbare Verbrechen ist das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Es beeindruckt durch die schiere Größe und gibt so einen Widerschein des Unvorstellbaren. Eine kleine Gedenkstätte, die leicht übersehen wird, ist in Baden-Württemberg neben dem Bahnhof Schwäbisch Hall-Hessental. Jüngst hat dort ein eindrucksvoller Besuch stattgefunden.
Rückkehr an den Ort des Grauens
Eigentlich hatte sie niemals nach Deutschland oder Polen kommen wollen. „Aber Avihay kann man einfach nicht widersprechen“, meint seine Schwester Mirit Haviv Golan. Avihay und sein Bruder Matan Haviv haben schon 2019 die KZ-Gedenkstätte Hessental besucht, die letzte Leidensstation ihres Großvaters, des polnischen Juden Aron Ajzenmann. Jetzt haben die beiden Enkel, die bei seinem Tod 1984 erst drei und neun Jahre alt waren, ihre Schwester Mirit und ihre Mutter Pnina Haviv mitgebracht. Wie vor fünf Jahren haben sie in Begleitung von Mitgliedern der Initiative KZ-Gedenkstätte Hessental die Orte besucht, wo Ajzenmann in Schwäbisch Hall gelebt hat. Es war ein Besuch mit vielen aufwühlenden Emotionen, bei dem auch Tränen geflossen sind, besonders als sich die Familie auf dem früheren Appellplatz des Konzentrationslagers versammelte, wo Stelen mit 700 Namen an die Häftlinge erinnern. Im Gespräch mit den Angehörigen kamen viele Erinnerungen hoch.
Ein Einzelschicksal, stellvertretend für viele
Der 1923 im polnischen Warschau geborene Pessach Aron Ajzenmann kam als Jude mit 17 Jahren mit seiner Familie ins Warschauer Ghetto und dann ins Ghetto Radom, wo er in der ZAL Waffenfabrik arbeitete. Nach einer Selektion in Auschwitz kam er ins Konzentrationslager Vaihingen/Enz und danach mit 21 Jahren ab Oktober 1944 ins KZ Hessental. Er überlebte den Hessentaler Todesmarsch im April 1945 nach Dachau-Allach und wurde dort von den Amerikanern befreit. Später lebte er im DP-Lager Negev in Steinbach, in dem heimatlose befreite Flüchtlinge als displaced persons unterkamen. Dort lernte er seine spätere Frau Jenta Sajkiewicz (1930–2001) aus Polen kennen, mit der er im Juni 1948 ins neu gegründete Israel auswanderte. Über die Zeit in Hessental wurde innerhalb der Familie meist geschwiegen. Sendungen über den Holocaust durften nicht angeschaut werden. Diese seien im Vergleich zur Wirklichkeit doch nur eine Komödie, habe der Großvater kurzerhand erklärt, sagen die Enkel. Ajzenmann starb 1985.
KZ, Schrottplatz, Gedenkstätte
Das KZ Hessental wurde ab Mitte 1944 in einem früheren Barackenlager des Reichsarbeitsdienstes am Bahnhof Hessental als Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof im Elsass eingerichtet. Die ersten der insgesamt rund 800 Häftlinge kamen am 14. Oktober 1944 an, unter ihnen Pessach Aron Ajzenmann. Die zumeist polnischen Juden mussten Zwangsarbeit leisten. Wegen des Vormarsches der US-Streitkräfte räumte die SS das Lager am 5. April 1945 und trieb die Insassen in Richtung KZ Dachau. Dabei gab es wieder Morde und Todesfälle durch Entkräftung. Nach dem Ende des Krieges wurde das Gelände in Hessental als Schrottplatz genutzt. 2001 wurde dort die Gedenkstätte eingerichtet mit einer Ausstellung in einem Eisenbahnwaggon, getragen von der Initiative Gedenkstätte KZ Hessental.
Vergessene Orte mit jüdischer Tradition
Unweit von Schwäbisch Hall entfernt liegt Forchtenberg. Im Ortsteil Ernsbach erinnert das dortige Heimatmuseum auch an die Geschichte der Juden im Ort, aber auch an die Bedeutung der Migration nach dem Krieg. Auch Ernsbach hat eine jüdische Tradition. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten 235 jüdische Mitbürger im Ort, sie hatten einen Anteil von rund 30 Prozent an der Bevölkerung. Da sie schon frühzeitig wieder wegzogen, steht die Synagoge in Ernsbach noch. Nach der Abwanderung hatte sich die jüdische Gemeinde 1925 aufgelöst. Die ersten Juden waren 1675 nach Ernsbach gekommen. Graf Wolfgang Julius hatte sie geholt, um den Handel am Ort zu beleben. Bestattet wurden die Toten auf dem Judenfriedhof zwischen Ernsbach und Berlichingen. Auch Migration ist an diesem Ort ein Thema: Nach dem Krieg kamen Heimatvertriebene, darunter viele Ungarndeutsche. Daran wird ebenso erinnert. Infos unter www.forchtenberg.de.
Erinnerung an Flucht und Vertreibung
Erinnerung war auch ein wichtiges Thema auf dem diesjährigen Kirchentag der Neuapostolischen Kirche (NAK) Süddeutschlands, zu dem rund 12.000 Besucherinnen und Besucher nach Karlsruhe kamen. Die Mitglieder der ACK Baden-Württemberg, bei der die NAK Gaststatus hat, erinnerten an die gemeinsamen biblischen Wurzeln der Kirchen. Bei dem Glaubenstreffen waren auch Krieg und Vertreibung Thema mit dem Verlust der Heimatkirche und dem Gedenken daran. Zum Beispiel wurde das vorher blühende Leben im Bezirk Königsberg mit mehr als 20.000 Mitgliedern völlig ausgelöscht.
Zu diesen nun heimatlosen Menschen, die im Westen Deutschlands ankamen, gehörten auch viele neuapostolische Christen. Die erste Unterkunft für die vielen Flüchtlinge waren Massenquartiere, meist Barackenlager. Im landwirtschaftlich geprägten Schleswig-Holstein war die Bevölkerung durch die heimatlosen Menschen innerhalb weniger Monate um 70 Prozent angewachsen – noch im Jahr 1950 gab es in Schleswig-Holstein 728 Lager, in denen rund 130.000 Personen recht behelfsmäßig untergebracht waren. Auch in Dänemark waren am Kriegsende viele Flüchtlinge gestrandet. Im Westen Deutschlands verlief die Integration der neuapostolischen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten fast von alleine: Diese Christen besuchten bestehende neuapostolische Gemeinden oder gründeten selbst neue. Auch in einigen Flüchtlingslagern entstanden neuapostolische Gemeinden, in denen regelmäßig Gottesdienste gefeiert wurden. Ein Forschungsprojekt sucht Zeitzeugen und Dokumente rund um Kriegs- und Nachkriegszeit. Einsendungen unter .