Stichwort: Gedächtnis Wie funktioniert unsere Erinnerung?

Dank der neurowissenschaftlichen Forschung verstehen wir immer besser, wie unser Gehirn und damit auch unser Gedächtnis funktioniert. Die Vorstellung, dass Ereignisse darin wie auf einer Festplatte abgespeichert sind und beim Sich-Erinnern unverändert wieder hervorgeholt werden, hat sich dabei als Irrtum erwiesen. In Wahrheit spielt die Gegenwart für die Erinnerung eine ebenso große Rolle wie die Vergangenheit.

Unser Gedächtnis und das Erinnern lassen sich in drei Phasen unterteilen: Speicherung, Konsolidierung, Wiederabruf. Wenn wir etwas im Moment erleben, gelangt das Erleben unseres Umfelds in einen kurzzeitig lebenden Teil unseres Gedächtnisses. Im sensorischen Gedächtnis werden Sinneseindrücke für eine extrem kurze Zeit gehalten. Bereits hier ist das Gedächtnis nicht allumfassend, wir nehmen nur die Reize auf, denen wir unsere Aufmerksamkeit zugewandt haben. Wenn etwas außerhalb unserer aktuellen Wahrnehmung geschieht oder wir weniger aufpassen, gelangen diese Informationen bereits nicht mehr in unser sensorisches Gedächtnis.

Im nächsten Schritt gelangt das Erlebte ins Arbeitsgedächtnis oder ins Kurzzeitgedächtnis. Es wird jedoch auch hier nicht die gesamte Fülle an Reizen und Information weitergegeben, sondern nur das, was unser Gehirn als relevant bewertet.

Im Langzeitgedächtnis, dem langfristigen Speicherort unseres Gehirns, wird dieser Prozess wiederholt. Im Langzeitgedächtnis bleiben Erinnerungen nicht gleich lang und gleich gut bestehen. So können wir zwar wiedergeben, was wir gestern oder vorgestern gefrühstückt haben, aber nicht, was wir Dienstag vor zwei Wochen zum Abendessen hatten. Hätte ich dir vor zwei Wochen jedoch die Aufgabe gegeben, jeden Tag aufzuschreiben, was du jenen Dienstag gegessen hast, dann könntest du dich daran wahrscheinlich noch erinnern. Dieser Prozess heißt Konsolidierung. Durch das wiederholte Abrufen einer expliziten Erinnerung festigt sich diese in unserem Langzeitgedächtnis. Auch dieser Prozess ist fehleranfällig. Wie bei einer stillen Post können sich Details über die Zeit ändern oder wegfallen, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, denn Unwichtiges wird vergessen.

Werden wir gefragt, uns zu erinnern, ist das der Wiederabruf. Wir holen die Erinnerungen aus dem Speicher hervor. Aus herausstechenden Details, die besonders gut konsolidiert wurden, wird eine Geschichte zusammengebaut und wiedergegeben. Diese Geschichte baut jedoch nicht nur auf dem tatsächlich Erlebten auf: Auch Erzählungen anderer, Bilder, Wissen, Filme und nicht zuletzt auch andere Erinnerungen beeinflussen unsere Wiedergabe. Lücken werden so gefüllt, dass wir uns im Hier und Jetzt möglichst gut orientieren können.

Erinnerungen sind also nicht wie einzelne Karteikarten in einem Aktenschrank. Sie sind viel eher lose zusammengebundene Reize, die miteinander in Verbindung gebracht werden und diese verschwimmen problemlos und unbemerkt mit anderen Inhalten. Dieser Prozess wird retroaktive Interferenz genannt. Später Dazukommendes interagiert mit, stört und ändert die ursprüngliche Erinnerung, ohne dass wir dies bemerken.

Der Artikel ist ein Auszug aus dem Blogbeitrag der Autorin „Falsche Erinnerungen“ im Neuroblog “Hirn und weg”, ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung: scilogs.spektrum.de/hirn-und-weg.

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