Wenn es um Erinnerung und Bibel geht, werden biblische Texte häufig auf ihre historische Verlässlichkeit hin befragt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, sie jenseits historischer Fragen als Erinnerungsbilder zu verstehen, die essenziell für die Konstitution von Gruppenidentität sind.
Exodus als Urszene
Die Urszene biblischer Erinnerung ist der Exodus. Der Auszug aus Ägypten, die Gabe der Tora am Sinai und der darauffolgende Bundesschluss sind gewissermaßen die „Stunde null“ des Volkes Israel. Die grundlegende Erfahrung des Befreiungshandelns Gottes und die Gottesvolkwerdung dürfen nicht vergessen werden. Deshalb rufen biblische Texte sie immer wieder auf und mahnen zu Gedenken und Erinnerung, die auch in ritualisierter Form stattfindet. Dazu gibt es genaue Vorschriften. Als Erinnerung für die Zukunft erzählt beispielsweise das Buch Deuteronomium die Exodus-Erfahrung als Gründungsgeschichte noch einmal. Es legt dabei gleichzeitig fest, wie die Erinnerung an diese Erfahrung künftig als identitätsstiftendes Moment der Erinnerungsgemeinschaft zu begehen ist. Was genau passiert ist, ist dabei weniger wichtig als die Vergegenwärtigung der Basiserfahrung des Befreiungshandeln Gottes.
Im Buch Deuteronomium werden Erfahrungen und Krisen greifbar. Wenn Mose am letzten Tag seines Lebens nach 40 Jahren in der Wüste die nächste Generation in der Tora unterweist, die im Gelobten Land gelten soll, erinnert er nicht einfach an vergangene Ereignisse, sondern erzählt eine Gründungsgeschichte, die zukünftig die Identität bestimmen soll. Und weil er nicht in das Gelobte Land einziehen darf und seine Worte dort nicht wiederholen kann, schreibt er sie auf (Dtn 31,9). Die Übertragung in ein anderes Medium stellt sicher, dass die Weisung auch für künftige Generationen nicht verloren geht.
„Hüte dich, dass du die Dinge nicht vergisst“
Bevor es im Deuteronomium an die konkreten Weisungen geht, beginnt Mose mit einem Rückblick auf die Geschichte vom Sinai bis zu den Ebenen Moabs (Dtn 1-3). Dieser Teil bildet eine erzählerische Brücke zwischen dem Bund am Sinai, der mit der Elterngeneration 38 Jahre zuvor geschlossen worden war (Ex 24), und dem Bund, der nun mit der nächsten Generation in den Ebenen Moabs geschlossen werden soll, bevor sie in das Gelobte Land kommen. Mose erinnert auch daran, dass Gott selbst ihm nicht erlaubt hat, das verheißene Land zu betreten. Es ist seine letzte Gelegenheit, an die Bedeutung des Bundes mit Gott zu erinnern und dem Volk einzuschärfen, dass der Bundesbruch – das Vergessen Gottes – ins Verderben führt: Nur hüte dich und hüte deine Seele sehr, dass du die Dinge nicht vergisst, die deine Augen gesehen haben, und dass sie nicht aus deinem Herzen schwinden alle Tage deines Lebens! Und tue sie deinen Kindern und deinen Kindeskindern kund (Dtn 4,9).
Gedenken an Gottes Befreiungshandeln
Bevor er den Dekalog, die Zehn Gebote, wiederholt, ruft Mose die Ursünde des Volkes auf: die Gottvergessenheit. Zwei Mal schärft er den Zuhörern ein, dass sie sich kein Bild Gottes machen sollen, dessen, der sie aus Ägypten herausgeführt hat (Dtn 4,16-19.23-25), bevor der Dekalog es noch ein drittes Mal tut (Dtn 5,8). Gottes Befreiungshandeln im Exodus ist die Grundlage des Bundes. Sie darf nie vergessen werden. Dafür schreibt sie der Dekalog des Buchs Deuteronomium sogar in das Sabbatgebot ein: Und denke daran, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm von dort herausgeführt hat! Darum hat der HERR, dein Gott, dir geboten, den Sabbattag zu feiern (Dtn 5,15).
Ritualisierung der Exodus-Erinnerung
Die Erinnerung ist stark ritualisiert und in den Alltag eingeschrieben: Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen sein. Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst. Und du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen als Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben (Dtn 6,6-9). Mesusa und Tefillin gibt es noch immer im Judentum und sie helfen, das Gedenken zu verkörpern – und nicht zu vergessen.
Vergegenwärtigung und Hineinnahme
Die Erinnerung bezieht sich nicht auf die Vergangenheit, sondern ist Erinnerung für die Zukunft.
Wenn das jüdische Pessachmahl begangen wird, geht es um Vergegenwärtigung und Hineinnahme in die Gründungsgeschichte. Diejenigen, die mitfeiern, erfahren sich als Teil der Wüstengeneration. Was das Volk Israel erfahren hat, wird durch die Vergegenwärtigung Teil ihrer eigenen Erfahrung und sie werden und bleiben so Teil dieses Volkes. Die Erinnerung bezieht sich dabei nicht auf die Vergangenheit. Als Vergegenwärtigung ist sie Erinnerung für die Zukunft: Aus den geteilten Erfahrungen, die in Form von Geschichten erzählt und ritualisiert werden, entstehen Identität und Verantwortung für die Zukunft. Ob Mose wirklich am Tag vor seinem Tod das Buch Deuteronomium diktiert hat, ist dabei nicht relevant.
Biblische Texte beantworten die Frage: „Wer sind wir?“
Die Bibel ist voll von Erinnerungsgeschichten und Erinnerungsbildern. Wie die Weisungen aus dem Buch Deuteronomium strukturieren sie Alltag und Festzeiten, bieten Deutungsmuster für Erfahrungen und dadurch Orientierung in der Welt. Sie laden dazu ein, sich auf die Identität als ein Mitglied des Gottesvolkes einzulassen. Biblische Geschichten erzählen also in erster Linie nicht, was war, sondern wie wir wurden, wer wir sind. Es geht ihnen weniger um Vergangenheit als um Identität. Sie sind, wie Jan Assmann es formuliert hat, identitätskonkret, das heißt: auf eine konkrete Gruppe bezogen. Sie erzählen, wer wir sind und wer wir sein wollen. Dieses „Wir“ zeigt sich in den Texten mal mehr und mal weniger deutlich – ganz abwesend ist es nie.
Zu Geschichten geronnene Erfahrung
Wenn man die Evangelien mit diesem Verständnis liest, sagen sie weniger darüber aus, wer Jesus von Nazareth war, sondern erzählen, wer Jesus für eine bestimmte Gruppe ist und was es heißt, sich in seinem Namen zu versammeln und auf dem Weg weiterzugehen, den er vorausgegangen ist. Das rettende Handeln Gottes ist Menschen in diesem Jesus nahegekommen. Sie haben Erfahrungen mit Jesus gemacht und geben diese Erfahrungen in Form von Geschichten weiter.
Im Laufe von vier Generationen haben die Jesusnachfolger von den ersten Jüngern über Paulus und seine Gemeinden bis in die Zeit nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und das Leben in römischen Großstädten sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht und sie unterschiedlich verarbeitet. Manche Jesusnachfolger sind Teil des Volkes Israel, andere bringen eine hellenistische oder römische Sozialisation mit. Die 27 Schriften des späteren Neuen Testaments erzählen von ihren Erfahrungen und ihrem Ringen darum, was es heißt, dass ihnen Gottes Heilshandeln in Jesus entgegengekommen ist, wie es ihr Leben und ihren Alltag verändert hat, und was es heißt, in einer eher feindlich gesinnten Welt christusgläubig zu sein.
Neutestamentliche Erinnerungsbilder
Das Neue Testament wird zum frühchristlichen Familienalbum.
Auch das Neue Testament lässt sich als Sammlung von Erinnerungsbildern, als Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildung lesen. Wieder lautet die Frage: Wer sind wir aufgrund unserer Erfahrungen? Wie begehen wir diese Erfahrungen rituell in Alltag und Festtag? Wie geben wir sie weiter? Darum geht es in den Büchern des Neuen Testaments. Es ist nicht überraschend, dass die Muster denen aus dem Buch Deuteronomium gleichen. Erinnert wird nicht was war, sondern was für heute und morgen Orientierung geben kann. Dazu gehören auch dunkle Zeiten: Krisen, Traumata, Verfolgung. Hier bieten die Texte Muster und Strategien zur Bewältigung an.
Das Ur-Trauma der Jesusnachfolger
Das Ur-Trauma der Jesusnachfolger, die Kreuzigung, wird in den neutestamentlichen Texten in unterschiedlicher Weise gedeutet. Allen Deutungen geht es darum, Orientierung zu geben, ganz gleich, ob das Leiden Jesu in Analogie zum großen Versöhnungstag als Sühnetod verstanden wird, Jesus als wahres Passalamm den Exodus aufruft, er als unschuldig leidender Gerechter gilt, die Gottesknechtslieder Jesajas zur Deutung herangezogen werden, Jesu Leiden und Sterben als Pro-Existenz verstanden werden oder die Passion in paradoxer Umkehrung zur Inthronisation wird. Das Schrecklichste, was geschehen konnte, die Kreuzigung Jesu, wird durch die Deutung zum Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Das Unfassbare wird mit den Denkmustern, die den frühen Jesusnachfolgern zur Verfügung stehen, neu gerahmt und auf diese Weise anders und vielleicht sogar überhaupt erst verständlich gemacht.
Gemeinsame Erinnerung als Grundlage christlicher Identität
Weil diese Erfahrungen grundlegend und identitätsstiftend sind, müssen sie bewahrt werden. Sie werden weitererzählt, rituell begangen und dadurch tief im Gedächtnis der Gruppe verankert. Die Verschriftlichung ermöglicht es, diese Erinnerung zu bewahren und auch Neu-Hinzukommende an anderen Orten und zu anderen Zeiten teilhaben zu lassen. Dank der Gründungsgeschichten, die die Evangelien erzählen, erfahren sie, wer sie als Teil der Gemeinschaft der Jesusnachfolger sind. Erinnerung wird dabei großgeschrieben. So wird das Neue Testament zum frühchristlichen Familienalbum. Es zeigt nicht, was damals war, sondern wer wir sind und worauf wir in Zukunft hoffen. Und warum das gefeiert werden muss und niemals vergessen werden darf.