Stützpunkte der Erinnerung Zur Funktion von Orten für das soziale Gedächtnis

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, eine der zahlreichen Gedenkstätten zu besuchen, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens an den Partisan*innenkampf im Zweiten Weltkrieg erinnern. Ein Anlass, über Erinnerungsorte als Medien des sozialen Gedächtnisses nachzudenken.

Tausende Angehörige der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee verloren 1943 bei der Schlacht an der Sutjeska ihr Leben. Auch die Zivilbevölkerung wurde von den wochenlangen Kämpfen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Weil es der Wehrmacht und ihren Verbündeten trotz sowohl zahlenmäßiger als auch waffentechnischer Überlegenheit nicht gelang, die Partisan*innen unter Führung von Josip Broz Tito niederzuschlagen, konnte die Schlacht nach 1945 zu einem zentralen Topos im jugoslawischen Geschichtsbild werden: Hier hatte sich eine künftige – ebenso multiethnische wie sozialistische – Gesellschaft im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner konstituiert und behauptet.

„Sutjeska“ als symbolischer und materieller Erinnerungsort

1971 wurde vor Ort eine staatliche Gedenkstätte eingeweiht. Zuvor hatte nur ein schlichter Stein-Altar am Westhang des „Heldentals“ auf die dort bestatteten sterblichen Überreste von über 3.000 Gefallenen verwiesen. Im Laufe der 1960er-Jahre wurde um ihn herum ein monumentaler Memorialkomplex entwickelt, der sich weithin sichtbar über den gesamten Hang erstreckt. Im Zentrum stehen zwei futuristische Betonskulpturen, die aus der Ferne an ein geöffnetes Flügelpaar erinnern. Vom Tal steigt man über lange Treppen zunächst zu besagtem Steinaltar. Von dort gelangt man durch die 19 Meter hohen Betonskulpturen hindurch zu einem kleinen Amphitheater, auf dessen steinernen Sitzbänken die Namen der Kampfbrigaden verewigt sind, die an der Schlacht beteiligt waren.

Ein paar Minuten Fußweg entfernt wurde 1975 ein „Haus des Gedenkens“ eröffnet. Ebenso wie die Denkmalanlage zeichnet es sich durch eine expressionistische Betonarchitektur aus, die zugleich versucht, sich in die umgebende Berglandschaft einzufügen. An den Wänden des sakral anmutenden Innenraums sind die Namen von 7.356 Gefallenen eingraviert. Dazwischen illustrieren 13 großflächige Fresken eindrucksvoll die Schrecken des Krieges und das Leid der lokalen Bevölkerung. Tito wird an zentraler Stelle unmissverständlich als „Retter“ inszeniert. Schon am Eingang prangt ein Zitat von ihm, das „Sutjeska“ zum Dreh- und Angelpunkt eines jugoslawischen Freiheitskampfes stilisiert.

Der Erinnerungsort als Lern- und Erfahrungsraum

Bei meinem Besuch im Sommer 2024 lag die Schlacht an der Sutjeska 81 Jahre zurück. Seit der Einweihung der Denkmalanlage, die nachfolgende Generationen an das historische Geschehen erinnern und zugleich auf eine jugoslawische Zukunft verpflichten sollte, war über ein halbes Jahrhundert vergangen. Die „jugoslawische Zukunft“ ist in den Kriegen nach 1990 selbst Geschichte geworden, und mit ihr der Personenkult um den langjährigen Staatschef Tito. Auch die Denkmalanlage wurde im Bosnienkrieg teils schwer beschädigt. Heute liegt sie auf dem Staatsgebiet von Bosnien-Herzegowina, genauer gesagt: in der mehrheitlich von bosnischen Serb*innen bewohnten Republika Srpska.

Unsere Reisegruppe war bunt gemischt: Wir hatten uns im Rahmen des Projekts „Wer ist Walter?“ zu einer internationalen Konferenz in Sarajevo getroffen, die dem Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa gewidmet war. Wir kamen aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Viele von uns befassen sich wissenschaftlich mit dem Thema, andere arbeiten in Gedenkstätten, historischen Museen oder anderen erinnerungskulturellen Einrichtungen. Im Zweiten Weltkrieg haben unsere Vorfahr*innen – quer durch die heutigen Nationen – auf unterschiedlichen Seiten gekämpft.

Geprägt von multiplen kollektiven und subjektiven Identitäten erkundeten wir gemeinsam den historischen Ort. Wir erfuhren etwas über seine vielschichtige Vergangenheit, wir beschäftigten uns mit seiner komplexen Gegenwart, wir spekulierten über seine mögliche Zukunft. Wir sprachen über den Verlauf der Schlacht von 1943, über den Entstehungsprozess und die Nutzungsweisen der Gedenkstätte in jugoslawischer Zeit. Wir hörten von ihrer Beschädigung während des Bosnienkrieges und ihrer anschließenden Vernachlässigung, aber auch von ihrer „Wiederentdeckung“ in den letzten Jahren – nicht zuletzt durch jüngere Menschen, Tourist*innen und internationale Künstler*innen.

Multiple Identitäten, komplexe Resonanzen

Während unserer Erkundung machten wir auch eine gemeinsame ästhetische Erfahrung: Inmitten der bosnischen Berglandschaft bewegten wir uns durch die Denkmalanlage und ließen deren avantgardistische Formensprache auf uns wirken. Wir hielten an dem Steinaltar inne, der die Grabstätte der Gefallenen markiert. Am Ende des Aufstiegs rasteten wir im schattigen Amphitheater. Im „Haus des Gedenkens“ betrachteten wir in sakraler Atmosphäre die drastischen Fresken: Brutale Besatzer, angstvolle Flüchtlinge, furchtbare Kämpfe, geschundene Körper, Landschaften des Todes.

»Besatzer« – Fresko im »Haus des Gedenkens«
»Besatzer« – Fresko im »Haus des Gedenkens« (Foto: Cornelia Siebeck)

Sicherlich hat jede*r von uns die Erfahrungen vor Ort auch individuell verarbeitet. So stellte ich etwa Vergleiche mit der 1958 eingeweihten Mahnmalanlage in Buchenwald an, die ich gut kenne. Auch musste ich an Jugendfreund*innen denken, deren Eltern als „Gastarbeiter*innen“ aus Jugoslawien in die Bundesrepublik gekommen waren: Wurde in ihren Familien über den Zweiten Weltkrieg gesprochen? Die krassen Bilder im „Haus des Gedenkens“ erinnerten mich an Feldpostbriefe meines Großvaters, der im Zweiten Weltkrieg ein Offizier der Wehrmacht war. Zugleich drängten sich mir fragmentarische Bilder aus den Jugoslawienkriegen und den gegenwärtigen Kriegen auf.

In der Begegnung mit Erinnerungsorten wie „Sutjeska“ erleben wir ein komplexes Zusammenspiel zwischen Raum und Zeit, zwischen Subjekt und Objekt. Wenn wir sie in der Gruppe besuchen, kommt noch eine intersubjektive Ebene untereinander hinzu. Folgt man dem Soziologen Hartmut Rosa, treten wir an solchen Orten also in eine vielschichtige Resonanzbeziehung: Mit dem gestalteten Ort, mit der Geschichte, mit uns selbst und mit anderen. Eine wesentliche Funktion von Erinnerungsorten ist es, solche Resonanzverhältnisse auszulösen, sie aber zugleich auch zusammenzuhalten.

Mehr oder weniger bewusst bewegen wir uns an solchen Orten auch in (Deutungs-)Machtverhältnissen. Erinnerungsorte werden von bestimmten historischen Akteur*innen produziert und mit normativen Botschaften über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgestattet. Voraussetzung dafür wiederum ist, dass die entsprechenden Akteur*innen zu einem Zeitpunkt X über ausreichend Macht verfügen, ihre geschichtspolitische Agenda allseits sichtbar und buchstäblich unhintergehbar im öffentlichen Raum zu verankern und sie dadurch gleichsam für allgemeingültig zu erklären.

Lässt sich Erinnerung in Orten dauerhaft fixieren?

Das soziale Gedächtnis braucht Medien. Der Kulturwissenschaftler Alexander Etkind unterscheidet hier zwischen einem „weichen“ und einem „harten“ Gedächtnis: Das „weiche“ Gedächtnis bestehe aus Texten, in denen historische Narrative vermittelt würden – dazu zählt er auch Filme und andere immaterielle Formen der Tradierung. Von einem „harten“ Gedächtnis könne man aber erst dann sprechen, wenn solche Erzählungen auch materiell im öffentlichen Raum manifestiert würden.

Erinnerungsorte wie „Sutjeska“ sind also Versuche, bestimmte historische Ereignisse und daraus abgeleitete „Lehren“ für die Gegenwart und Zukunft dauerhaft in unsere Alltagswelt einzuschreiben. Sie fungieren damit gleichsam als materielle Stützpunkte des sozialen Gedächtnisses.

Aber auch, wenn es die Initiator*innen solcher Orte sich manchmal anders wünschen würden: Einmal in der Welt, führen Erinnerungsorte immer auch ein Eigenleben. Denn die Besucher*innen kommen mit ihren eigenen Erfahrungs- und Erwartungshorizonten. Was dann vor Ort genau geschieht, welche Eindrücke sie sammeln, welche Erzählungen sie bilden und was sie von dort mitnehmen, kann vielleicht bis zu einem gewissen Grad gesteuert, nicht aber vollständig kontrolliert werden.

Ebenso wenig kann historischer Sinn auf Dauer stillgestellt werden. Auch Erinnerungsorte unterliegen dem historischen Prozess. Mit den realpolitischen Verhältnissen ändern sich auch Deutungsmachtverhältnisse. Bestehende Erinnerungsorte werden dann entweder zu Anachronismen oder sie werden mit neuen Bedeutungen versehen. „Sutjeska“ befindet sich derzeit irgendwo dazwischen.

Mehr Information und Bildmaterial zur Gedenkstätte sind in der „Spomenik Database“ zu finden:

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